Michael Winterhoff ist als Kinder- und Jugendpsychiater Praktiker. Die von ihm beschriebenen Probleme sind jedem Lehrer vertraut: Verhaltensstörungen nehmen zu, weil die kindliche Psyche wesentliche Entwicklungsschritte verpaßt und auf Kleinkindniveau verbleibt; dies wiederum führt zu einer beängstigenden Verdummung, zumal Unterricht nicht mehr unterrichtet und es infolge vermeintlich schülergerechter Modernisierung versäumt, notwendige Kenntnisse und Fähigkeiten zu vermitteln.
Aus bildungsideologischen Gründen hat er auf die Führung und Orientierung zu verzichten und sich der politisch verordneten Illusion hinzugeben, Kinder erschlössen sich in offenen Unterrichtsformen »autonomen Lernens« alles Notwendige selbst. Die Prioritäten verschoben sich vom Inhaltlichen auf die Methode, der Lehrer wurde vom Wissensvermittler zum Lernbegleiter oder Coach geschrumpft, aus lehrerzentriertem sollte schülerzentrierter oder gar materialzentrierter Unterricht werden. Fatalerweise läuft dieser Prozeß bereits jahrzehntelang. Die Folgen sind bekannt: hohe Abbruchquoten in Schule, Ausbildung und Studium, weil es an Anstrengungsbereitschaft fehlt; enorme Wissenslücken, ausgehend von Unkenntnis im Elementarsprachlichen und einfachen Rechnen; daher beständiges Fördern, Inklusionskampagnen und Nachteilsausgleiche bei Verzicht auf die Entwicklung der Talentierten. Wir haben einen Fachkräfte- und Kompetenzmangel trotz oder wegen inflationierter Benotung und entwerteter Abschlüsse.
Wir haben zwar einerseits so viel ausgezeichnete Abiturzeugnissen wie nie, tatsächlich aber sind wenige Absolventen befähigt, ein Studium im MINT Bereich zu bestehen. Um nach der OECD-Milchmädchenrechnung, mehr Hochschulabsolventen trügen besser zum Bruttosozialprodukt bei, die Abiturquote zu erhöhen, werden Anforderungen gesenkt und immer mehr Limitierte durch die Prüfungen geschoben. »Keiner soll zurückbleiben!« bedeutet: Abschlüsse werden dekretiert statt erarbeitet. Die Schulen sollen liefern; Einwände erfahrener Praktiker wollen die bornierten Ämter nicht hören. Die Lehrer selbst verschleißen sich an den oktroyierten »erziehungswissenschaftlichen« Lebenslügen. Schüler, die trotz abgesenkter Anforderungen versagen, werden pathologisiert und erhalten ein »Ticket«, das ihnen »Nachteilsausgleiche« sichert. Bleiben sie nur physisch anwesend, kommen sie durch.
Scheitern sie an der Berufsausbildung, beginnen die von den Ämtern ermöglichten Maßnahmekarrieren. Selbstbestimmt mögen die Kinder in den ihnen als Selbstbedienungsläden eingerichteten »Lernateliers« mit Lerntheke, Laptop, Kuschelecke ja sein, aber eben nicht selbständig, weil es der kindlichen Psyche nicht möglich ist, selbstverantwortlich zu lernen. Mindestens bis zum vierzehnten, fünfzehnten Jahr bedürfen sie eines so starken wie wohlwollenden Gegenübers und eben nicht der »Augenhöhe«, die sie überfordert, weil sie nun mal keine »kleinen Erwachsenen« sind. Dieses stabilisierende Gegenüber kam Kindern im Elternhaus und ebenso in der Schule abhanden. Sie vermissen Orientierung und klare Struktur.
In der Schule beklagen die Lehrer: »Auf pädagogische Interventionen reagieren sie (die Kinder – H. B.) mit frechem, respektlosem Verhalten oder mit Verweigerung. Sie verhalten sich bestimmend und steuernd, verfügen über keine Frustrationstoleranz und meiden Anstrengung. Es fehlt ihnen die Reife, aus Konflikten zu lernen und ihren eigenen Beitrag zur Konfliktsituation zu erkennen – immer sind die anderen oder die Umgebung schuld. Sie kreisen um sich selbst, leben häufig autistoid in sich zurückgezogen und nehmen außerhalb von sich wenig wahr. (…) Sozial sind sie eher rücksichtslos und egozentrisch sowie emotional und zwischenmenschlich arm. Sie leben lustorientiert im Moment und sind weder beziehungs- noch arbeitsfähig.
Sie sind nicht unglücklich – etwas anderes kennen sie ja nicht. Aber ihr Leben entbehrt jeder Tiefe.« Es ist nicht Winterhoffs Thema, aber es wäre interessant darüber nachzudenken, welche Auswirkung eine solche psychische Grundierung auf die so hochgehaltene Demokratieerziehung hat. Wo wird denn zur Urteilskraft befähigt, wenn doch Wissen-über dafür die Grundlage ist? Ferner zu bedenken: In dem zunehmend von den lauten und rabiaten destruktiven Narzißten bestimmten Schul- und Unterrichtsmiieus verlieren die Sensiblen, die Nachdenklichen und Stillen. Man darf, ja sollte Vorbehalte gegenüber Bestsellern haben. Dieser Band wurde zu einem solchen, weil die Wahrnehmungen des Autors sich mit jenen der Leser und insbesondere der Lehrerschaft decken. Phänomenal, daß das die Bildungspolitik nicht im geringsten interessiert. Sie bleibt bei ihren selbsterfüllenden Prophezeiungen.
Winterhoffs Fazit: »Ändert sich nicht grundlegend etwas am heutigen Bildungssystem, wird das schleichende Gift der fehlenden psychischen Entwicklung unsere Gesellschaft unrettbar binnen kurzer Zeit aushöhlen.« – Leider aber sollten die Veränderungen so gravierend erfolgen, daß dies eher revolutionär als evolutionär geschehen muß.
Deutschland verdummt von Michael Winterhoff kann man hier bestellen.