Michael Winterhoff: Deutschland verdummt.

Michael Winterhoff: Deutschland verdummt. Wie das Bildungssystem die Zukunft unserer Kinder verbaut, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2019. 224 S., 20 €

Heino Bosselmann

Heino Bosselmann studierte in Leipzig Deutsch, Geschichte und Philosophie für das Lehramt an Gymnasien.

Micha­el Win­ter­hoff ist als Kin­der- und Jugend­psych­ia­ter Prak­ti­ker. Die von ihm beschrie­be­nen Pro­ble­me sind jedem Leh­rer ver­traut: Ver­hal­tens­stö­run­gen neh­men zu, weil die kind­li­che Psy­che wesent­li­che Ent­wick­lungs­schrit­te ver­paßt und auf Klein­kind­ni­veau ver­bleibt; dies wie­der­um führt zu einer beängs­ti­gen­den Ver­dum­mung, zumal Unter­richt nicht mehr unter­rich­tet und es infol­ge ver­meint­lich schü­ler­ge­rech­ter Moder­ni­sie­rung ver­säumt, not­wen­di­ge Kennt­nis­se und Fähig­kei­ten zu vermitteln.

Aus bil­dungs­ideo­lo­gi­schen Grün­den hat er auf die Füh­rung und Ori­en­tie­rung zu ver­zich­ten und sich der poli­tisch ver­ord­ne­ten Illu­si­on hin­zu­ge­ben, Kin­der erschlös­sen sich in offe­nen Unter­richts­for­men »auto­no­men Ler­nens« alles Not­wen­di­ge selbst. Die Prio­ri­tä­ten ver­scho­ben sich vom Inhalt­li­chen auf die Metho­de, der Leh­rer wur­de vom Wis­sens­ver­mitt­ler zum Lern­be­glei­ter oder Coach geschrumpft, aus leh­rer­zen­trier­tem soll­te schü­ler­zen­trier­ter oder gar mate­ri­al­zen­trier­ter Unter­richt wer­den. Fata­ler­wei­se läuft die­ser Pro­zeß bereits jahr­zehn­te­lang. Die Fol­gen sind bekannt: hohe Abbruch­quo­ten in Schu­le, Aus­bil­dung und Stu­di­um, weil es an Anstren­gungs­be­reit­schaft fehlt; enor­me Wis­sens­lü­cken, aus­ge­hend von Unkennt­nis im Ele­men­tar­sprach­li­chen und ein­fa­chen Rech­nen; daher bestän­di­ges För­dern, Inklu­si­ons­kam­pa­gnen und Nach­teils­aus­glei­che bei Ver­zicht auf die Ent­wick­lung der Talen­tier­ten. Wir haben einen Fach­kräf­te- und Kom­pe­tenz­man­gel trotz oder wegen infla­tio­nier­ter Beno­tung und ent­wer­te­ter Abschlüsse.

Wir haben zwar einer­seits so viel aus­ge­zeich­ne­te Abitur­zeug­nis­sen wie nie, tat­säch­lich aber sind weni­ge Absol­ven­ten befä­higt, ein Stu­di­um im MINT Bereich zu bestehen. Um nach der OECD-Milch­mäd­chen­rech­nung, mehr Hoch­schul­ab­sol­ven­ten trü­gen bes­ser zum Brut­to­so­zi­al­pro­dukt bei, die Abitur­quo­te zu erhö­hen, wer­den Anfor­de­run­gen gesenkt und immer mehr Limi­tier­te durch die Prü­fun­gen gescho­ben. »Kei­ner soll zurück­blei­ben!« bedeu­tet: Abschlüs­se wer­den dekre­tiert statt erar­bei­tet. Die Schu­len sol­len lie­fern; Ein­wän­de erfah­re­ner Prak­ti­ker wol­len die bor­nier­ten Ämter nicht hören. Die Leh­rer selbst ver­schlei­ßen sich an den oktroy­ier­ten »erzie­hungs­wis­sen­schaft­li­chen« Lebens­lü­gen. Schü­ler, die trotz abge­senk­ter Anfor­de­run­gen ver­sa­gen, wer­den patho­lo­gi­siert und erhal­ten ein »Ticket«, das ihnen »Nach­teils­aus­glei­che« sichert. Blei­ben sie nur phy­sisch anwe­send, kom­men sie durch.

Schei­tern sie an der Berufs­aus­bil­dung, begin­nen die von den Ämtern ermög­lich­ten Maß­nah­me­kar­rie­ren. Selbst­be­stimmt mögen die Kin­der in den ihnen als Selbst­be­die­nungs­lä­den ein­ge­rich­te­ten »Ler­n­ate­liers« mit Lern­the­ke, Lap­top, Kuschel­ecke ja sein, aber eben nicht selb­stän­dig, weil es der kind­li­chen Psy­che nicht mög­lich ist, selbst­ver­ant­wort­lich zu ler­nen. Min­des­tens bis zum vier­zehn­ten, fünf­zehn­ten Jahr bedür­fen sie eines so star­ken wie wohl­wol­len­den Gegen­übers und eben nicht der »Augen­hö­he«, die sie über­for­dert, weil sie nun mal kei­ne »klei­nen Erwach­se­nen« sind. Die­ses sta­bi­li­sie­ren­de Gegen­über kam Kin­dern im Eltern­haus und eben­so in der Schu­le abhan­den. Sie ver­mis­sen Ori­en­tie­rung und kla­re Struktur.

In der Schu­le bekla­gen die Leh­rer: »Auf päd­ago­gi­sche Inter­ven­tio­nen reagie­ren sie (die Kin­der – H. B.) mit fre­chem, respekt­lo­sem Ver­hal­ten oder mit Ver­wei­ge­rung. Sie ver­hal­ten sich bestim­mend und steu­ernd, ver­fü­gen über kei­ne Frus­tra­ti­ons­to­le­ranz und mei­den Anstren­gung. Es fehlt ihnen die Rei­fe, aus Kon­flik­ten zu ler­nen und ihren eige­nen Bei­trag zur Kon­flikt­si­tua­ti­on zu erken­nen – immer sind die ande­ren oder die Umge­bung schuld. Sie krei­sen um sich selbst, leben häu­fig autis­to­id in sich zurück­ge­zo­gen und neh­men außer­halb von sich wenig wahr. (…) Sozi­al sind sie eher rück­sichts­los und ego­zen­trisch sowie emo­tio­nal und zwi­schen­mensch­lich arm. Sie leben lust­ori­en­tiert im Moment und sind weder bezie­hungs- noch arbeitsfähig.

Sie sind nicht unglück­lich – etwas ande­res ken­nen sie ja nicht. Aber ihr Leben ent­behrt jeder Tie­fe.« Es ist nicht Win­ter­hoffs The­ma, aber es wäre inter­es­sant dar­über nach­zu­den­ken, wel­che Aus­wir­kung eine sol­che psy­chi­sche Grun­die­rung auf die so hoch­ge­hal­te­ne Demo­kra­tie­er­zie­hung hat. Wo wird denn zur Urteils­kraft befä­higt, wenn doch Wis­sen-über dafür die Grund­la­ge ist? Fer­ner zu beden­ken: In dem zuneh­mend von den lau­ten und rabia­ten destruk­ti­ven Nar­ziß­ten bestimm­ten Schul- und Unter­richts­mi­ieus ver­lie­ren die Sen­si­blen, die Nach­denk­li­chen und Stil­len. Man darf, ja soll­te Vor­be­hal­te gegen­über Best­sel­lern haben. Die­ser Band wur­de zu einem sol­chen, weil die Wahr­neh­mun­gen des Autors sich mit jenen der Leser und ins­be­son­de­re der Leh­rer­schaft decken. Phä­no­me­nal, daß das die Bil­dungs­po­li­tik nicht im gerings­ten inter­es­siert. Sie bleibt bei ihren selbst­er­fül­len­den Prophezeiungen.

Win­ter­hoffs Fazit: »Ändert sich nicht grund­le­gend etwas am heu­ti­gen Bil­dungs­sys­tem, wird das schlei­chen­de Gift der feh­len­den psy­chi­schen Ent­wick­lung unse­re Gesell­schaft unrett­bar bin­nen kur­zer Zeit aus­höh­len.« – Lei­der aber soll­ten die Ver­än­de­run­gen so gra­vie­rend erfol­gen, daß dies eher revo­lu­tio­när als evo­lu­tio­när gesche­hen muß. 

Deutsch­land ver­dummt von Micha­el Win­ter­hoff kann man hier bestel­len.

Heino Bosselmann

Heino Bosselmann studierte in Leipzig Deutsch, Geschichte und Philosophie für das Lehramt an Gymnasien.

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