Bov Bjerg: Serpentinen

Bov Bjerg: Serpentinen. Roman, Berlin: Claassen 2020. 262 S., 22€

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

Kann ein Schrift­stel­ler, des­sen viel­fach beach­te­ten zwei­ten Roman man einst begeis­tert las, den drit­ten Wurf rich­tig ver­hau­en? Ja, lei­der. Bov Bjergs (Künst­ler­na­me) teil­au­to­bio­gra­phi­schen Roman Auer­haus ver­schlang ich regel­recht. Er fängt dar­in eine schwä­bi­sche Jugend in den acht­zi­ger Jah­ren ein. Beob­ach­tungs­ga­be, Sub­ti­li­tät, der Sound der Zeit, melan­cho­lisch behaucht, per­fekt ein­ge­fan­gen! Bjerg (Jahr­gang 1965) hat nun einen wei­te­ren Roman vor­ge­legt, Ser­pen­ti­nen. Hier ist der Ich-Erzäh­ler rund drei­ßig Jah­re älter.

Details legen nahe, daß es sich um die­sel­be Per­son han­delt. Daß man die eige­ne Kind­heit und Jugend ein­mal aus eher hei­te­rer (Auer­haus) und dann tief­dunk­ler Per­spek­ti­ve (eben: Ser­pen­ti­nen) erzählt, ist kein schlech­ter Kunst­griff. Ist das nicht mensch­lich? Es gibt wohl bei jeder­mann die eine kind­li­che Erin­ne­rung an Bon­bons, Über­mut und Potenz – und eben die ande­re an Hus­ten­saft, Schmä­hun­gen und Nie­der­la­gen. Der Mann, der einst das »Auer­haus« bewohn­te, ist nun Dok­tor der Sozio­lo­gie. Er wohnt in Ber­lin, hat eine jun­ge Frau, die erfolg­rei­che Anwäl­tin ist, und einen Sohn. Sein Vater hat Sui­zid began­gen. Sein Groß­va­ter auch. Urgroß­va­ter: dito. Ein Fluch scheint auf der Sip­pe zu lie­gen, er las­tet schwer auf unse­rem Ich-Erzähler.

Er ist nun mit sei­nem Sohn aus Ber­lin in die Hei­mat geflo­hen und umwan­dert die Orte sei­ner Kind­heit – stets auf dem schma­len Grat zwi­schen Ster­ben­wol­len und Leben­müs­sen. »Ich hat­te nie gear­bei­tet, immer nur gele­sen, geschrie­ben, gedacht, gela­bert.« All­ge­gen­wär­tig: die Ver­gan­gen­heit, die nicht ver­ge­hen will; weder die pri­va­te noch die natio­nal­ge­schicht­li­che. Man kann die­sen Roman nur ernst neh­men und über­haupt ertra­gen, wenn man gegen alle Wahr­schein­lich­keit davon aus­geht, daß hier kein bio­gra­phisch gespick­ter Bewäl­ti­gungs­text trä­nen­reich hin­ge­hu­delt wur­de, son­dern: daß Bov Bjerg uns sei­nen Ich-Erzäh­ler als dra­ma­tisch ver­kom­me­ne Figur unse­rer Zeit, als Zerr­bild, als Men­schen­rest, der »vom Man­ne übrig­blieb«, ausmalt.

Wir haben es hier gewis­ser­ma­ßen mit einem NS-Opfer der drit­ten Klas­se zu tun. Die­se schwer­mü­ti­ge Haupt­per­son lei­det an sich selbst, geht aber davon aus, daß sie es als Stell­ver­tre­ter für alles Unheil tue, was zur Groß­va­ter­zeit in Deutsch­land ver­übt wur­de. Unser Sozio­lo­ge sieht Autos und denkt: »Volks­kraft­wa­gen«: »Ich sah eine Auto­bahn und dach­te: Nazis. Ich sah Glei­se und dach­te: Depor­ta­ti­on.« Sei­ne Frau beschwert sich, er sähe über­all Nazis. Ant­wort: »Nazis SIND über­all!« Beses­sen­heit! Alles Unheil rührt von »daher«. Die Eltern, zumin­dest die Mut­ter, sahen sich als Kriegs­op­fer. Sie wur­de aus ihrer böh­mi­schen Hei­mat ver­trie­ben. Das fin­det der Sohn fatal. Er nennt die­se immer wie­der vor­ge­tra­ge­nen Geschich­ten »Fami­li­en­bla«. Die­ses dut­zend­fach bemüh­te Wort cha­rak­te­ri­siert den hier vor­herr­schen­den, bei aller Depres­si­on naß­for­schen Slang ganz gut. War­um trau­er­ten die Alt­vor­de­ren um sich und ihre Sip­pe – und nicht um das Leid der ande­ren, der Juden? Und was hat­te die Mut­ter mal zum Prot­ago­nis­ten gesagt, als der noch klein war? Einen Satz, der sich auf ewig ein­häm­mer­te: »Du hast den glei­chen Rücken wie dein Vater, die glei­chen Schul­ter­blät­ter, den glei­chen Hals.« 

In der Rück­schau kom­men­tiert der Sohn die­se dahin­ge­sag­te Bemer­kung gif­tig: »Das ras­si­sche Erschei­nungs­bild war wich­tig, wenn einer zur SS woll­te.« Der Sohn hat sei­nem Kind Lego­Spiel­zeug gekauft. Eine Spiel­fi­gur hat ein dunk­les, die ande­re ein wei­ßes Gesicht. »Ich sag­te zum Jun­gen, der eine Herr hei­ße Herr Mai­er und der ande­re Herr Schmidt, damit wir, wenn wir spiel­ten, nicht ›der Schwar­ze‹ und ›der Wei­ße‹ sagen muss­ten.« Welch kon­fu­ses Durch­ein­an­der in einem ein­zi­gen Gehirn ent­ste­hen kann! Hat der Roman, bei all die­sem Psy­cho­kud­del­mud­del, wenigs­tens lite­ra­ri­sche Qua­li­tä­ten? Eher: Nein. »BÄNG!« schreibt Herr Bjerg wie­der­holt unver­mit­telt. Und: »Die Köp­fe im All.« Und: »Datum. Stem­pel.« Und: »Geh weg. Bleib hier.« Kapi­tel 40 (von 45) besteht bedeu­tungs­schwer aus einem Satz: »War­um hast Du mich ver­las­sen.« Kapi­tel 41, noch kür­zer: »Mich dürs­tet.« Dann sehen wir den Vater, wie er die Bad­flie­sen im kurz­zei­tig ange­mie­te­ten Exil mit Filz­stif­ten bemalt. War­um? Weil er kei­nen Bock hat, daß sich »das Mus­ter« (über­tra­gen: der Sui­zid; Wink mit dem Zaun­pfahl!) wie­der­holt. Er malt »zwei Stri­che, drei Stri­che, Wel­len, Krei­se, eine Giraf­fe.« Der klei­ne Sohn tritt hin­zu und malt mit. Hal­lo, Bedeu­tung! Ich bin über­zeugt davon, daß der talen­tier­te Autor Bov Bjerg sei­ne Leser mit die­sem vor­der­grün­di­gen Trau­er­klum­pen­ge­wirr, in Wahr­heit tief­sin­ni­gem Exem­pel sei­ne Leser einer bedeut­sa­men Pro­be aus­set­zen woll­te. Anders ist es nicht denkbar. 

Ser­pen­ti­nen von Bov Bjerg kann man hier bestel­len.

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

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