Guillaume Paoli: Soziale Gelbsucht

Guillaume Paoli: Soziale Gelbsucht, Berlin: Matthes & Seitz Berlin 2019. 161 S., 15 €

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

Wer die »Sozio­lo­gie der Gelb­wes­ten« von Fran­çois Bous­quet in der 89. Sezes­si­on (April 2019) gele­sen hat, wird sich fra­gen: Wozu noch die­ses Büch­lein Guil­laume Pao­lis erwer­ben? In der Tat drängt sich die­se Fra­ge bei der ers­ten Betrach­tung auf. Bous­quet hat alles Bedeut­sa­me zum fran­zö­si­schen Gelb­wes­ten­kom­plex ver­dich­tet dar­ge­legt, so elo­quent wie gewitzt in der For­mu­lie­rung, so poli­tisch wie meta­po­li­tisch in der Dimension.

Er beschrieb, wie die Gilets Jau­nes die Ver­kehrs­krei­sel besetz­ten, wie sie Pro­test­camps auf den zahl­lo­sen Kreu­zun­gen der Land­stra­ßen errich­te­ten, wie sie lan­des­weit wil­de Ver­samm­lun­gen abhiel­ten, schließ­lich in Paris das Herz der Stadt erober­ten, wie das poli­tisch-media­le Estab­lish­ment schlin­ger­te und mit Repres­sio­nen kon­ter­te, kurz: der Chef­re­dak­teur des Maga­zins élé­ments ver­an­schau­lich­te, wo, wes­halb und wie das peri­phe­re Frank­reich sich erhob. Ähn­li­ches hat nun eben Guil­laume Pao­li vor, eben­falls Fran­zo­se, wenn­gleich nicht aus der Nou­vel­le Droi­te stam­mend, son­dern aus einer undog­ma­ti­schen, popu­la­ren Lin­ken, wie sie in Deutsch­land, von Ein­zel­per­so­nen abge­se­hen, nicht exis­tiert. Dabei sind sich die Autoren in ihrer Ana­ly­se weit­ge­hend ähn­lich und einig.

Auf den zwei­ten Blick lohnt die Pao­li-Lek­tü­re den­noch, und zwar aus vier Grün­den. Ers­tens zielt Pao­li aus­führ­li­cher auf die sozi­al­po­li­ti­sche Dimen­si­on ab. Er ver­kün­det die Rück­kehr der sozia­len Fra­ge mit der ihr inne­woh­nen­den Viel­falt und Här­te und prüft das Gelb­wes­ten­phä­no­men ent­lang der Maxi­me »Wie kann man sich dem unheil­vol­len Gang der Din­ge effek­tiv wider­set­zen?« Pao­lis dahin­ge­hen­de Über­le­gun­gen über die selbst­be­wuß­te Sicht­bar­wer­dung jenes Teils der Bevöl­ke­rung, der bis­her sel­ten wahr­ge­nom­men wird, und das als »früh­auf­ste­hen­des Frank­reich« der Arbei­ter und unte­ren Mit­tel­schicht auch sein Pen­dant in Deutsch­land und anders­wo fin­den dürf­te, legen dem Leser nahe, daß jede spür­ba­re poli­ti­sche Bewe­gung  – auch ohne mani­fes­te Erfol­ge oder gar eine »Revo­lu­ti­on« – etwas hin­ter­läßt, etwas lehrt, etwas verändert.

Zwei­tens ver­knüpft Pao­li die Ver­su­che der Revol­te in Frank­reich mit glo­ba­len Pro­tes­t­er­schei­nun­gen. Der gelb­wes­ten­ver­ur­sach­te Neo­lo­gis­mus déga­gis­me (gewis­ser­ma­ßen: »Hau-ab-ismus«) hat mit dem »No nos repre­sen­tan!« (Sie ver­tre­ten uns nicht!) der spa­ni­schen Indi­gna­dos oder auch mit dem »Que se vayan todos!« (Sol­len sie alle gehen!) argen­ti­ni­scher Erhe­bun­gen die rei­ne Nega­ti­vi­tät gemein: Man ist sich einig, daß das Bestehen­de weg muß! Daß die Eli­ten fal­sche sind, daß »es« auf­hö­ren muß – doch das »Danach« ist unklar.

Es zählt der sicht­ba­re, wüten­de und bewe­gen­de Pro­test als Signal kol­lek­ti­ver Selbst­er­mäch­ti­gung gegen ein volks­fer­nes, selbst­re­fe­ren­ti­el­les Establishment.

Drit­tens zeigt Pao­li auf, daß in Zei­ten hybri­der Iden­ti­täts­po­li­tik und imma­te­ri­el­ler Kon­flik­te der Herr­schen­den das arbei­ten­de Frank­reich nach wie vor mate­ri­el­le Fra­gen stär­ker betref­fen, ver­är­gern, mit­un­ter mobi­li­sie­ren, als der Öffent­lich­keit oktroy­ier­te Nischen­de­bat­ten aka­de­misch-urba­ner Linkszirkel.

Vier­tens und abschlie­ßend ist es jene Schel­te zeit­ge­nös­si­scher lin­ker Autoren, die Pao­lis Büch­lein lesens­wert macht: Ob all­ge­mein gegen die »links­in­tel­lek­tu­el­len Divas« des Haupt­stroms, die die Gelb­wes­ten als zu ple­be­jisch ver­wer­fen; ob gegen Sla­voj Žižek, Alain Badiou und Chan­tal Mouf­fe, die auf ihre Wei­se jeweils am Phä­no­men Gelb­wes­ten ver­zwei­feln – Pao­li teilt aus, fun­diert, bis­wei­len zynisch, stets angemessen.

Auch sein eigent­li­cher Kom­pa­gnon Bernd Ste­ge­mann, der mit sei­nem »Aufstehen«Versuch kra­chend schei­ter­te, wird für eine distin­gu­ier­te »Gott-sei-Dankgibt-es-bei-uns-keine-Gelbwesten«Praxisferne abge­watscht: Pao­li ver­weist unter nament­li­cher Nen­nung des Ber­li­ner Dra­ma­tur­gen dar­auf, daß »sozia­le Kon­flik­te nicht unwei­ger­lich von ihren theo­re­ti­schen Befür­wor­tern gut­ge­hei­ßen« wer­den, »wenn sie ein­mal kon­kret erfol­gen«. Und so ist die Empö­rung des fran­zö­si­schen Hin­ter­lands gegen das Zen­trum nichts, womit die intel­lek­tu­el­le Lin­ke jen­seits von Pao­li warm wird.

Man kann davon aus­ge­hen, daß dies bei ver­gleich­ba­ren Ent­wick­lun­gen im Deutsch­land der Zukunft ähn­lich sein dürf­te: Theo­re­ti­sche Volks­fer­ne schlägt sich unwei­ger­lich auch in der Pra­xis nieder.

Sozia­le Gelb­sucht von Guil­laume Pao­li kann man hier bestel­len.

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

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