1. Big Other
Der Romancier Jean Raspail hat sein Vorwort der französischen Neuauflage seines Heerlagers der Heiligen (1973) im Jahre 2011 mit »Big Other« überschrieben. Wer soll dieser »große Andere«, dem diese Anspielung auf Orwells »Big Brother« gilt, sein? Raspail faßt mit dieser Metapher zweierlei: es ist der Andere und zugleich der Allesüberwachende. Der Andere ist zunächst einmal der Fremdling, der Nichteuropäer, der Nichtfranzose, der Immigrant.
Der Andere steht im Kollektivsingular. Auf einem inzwischen zerrissen an einem Stromkasten in meiner Straße hängenden Plakat las ich 2015: »Es gibt keinen Flüchtlingsstrom, sondern vielfältige Individuen.« Der Kollektivsingular bietet zwei Bedeutungen an, die abwechselnd aktualisiert werden: Einmal ist es das Kollektiv, Raspails Vorhut der Massen, die »Flüchtlinge« dieser Welt, die Migranten im Schutz des Global Compact for Migration, ihre Zahl ist unermeßlich, ein Naturereignis.
Ein andermal wird der Singular aktualisiert: das Einzelschicksal des syrischen Mädchens mit seiner persönlichen Fluchterfahrung und seinem Trauma. Zwischen beiden Bedeutungen geschwind zu wechseln ist zu einer moralischen Strategie geworden. Doch wer fährt diese Strategie und warum? Die moralische Strategie inszeniert das Einzelschicksal, das sehr wohl real existiert, von dem jedoch sofort ununterscheidbare Kopien produziert werden, wie etwa das siebenjährige »Aleppo girl« Bana Abed mit »seinen« Twitter-Botschaften an die Welt.
Der Andere hat seine Stellvertreter. Die Kulturwissenschaftlerin Sophie Liebnitz hat treffend von »Stellvertreterminoritären« gesprochen: Das sind Leute in den westlichen Nationen, die stellvertretend für von ihnen favorisierte Minoritäten eintreten, und sich ihrer – bisweilen auch gewalttätig – moralisch und politisch annehmen, wie man es bei den erbitterten Social Justice Warriors an amerikanischen Universitäten erlebt.
Stellvertreterminoritäre treten auf als Phalanx von »Medienmachern, Show-Biz-Leuten, Künstlern, Menschenrechtlern, Akademikern, Soziologen, Lehrern, Literaten, PR-Profis, Juristen, Linkschristen, Bischöfen, Wissenschaftlern, Psychologen, Radikalhumanitären, Politikern, Vereinen, Genossenschaften, was-weiß-ich …« (Jean Raspail), NGO-Aktivisten nicht zu vergessen. Sie haben sich meutenförmig, also ebenfalls als Kollektiv, in den Dienst des Anderen gestellt.
Sie verteidigen seine Menschenrechte erbittert gegen jeden, der es wagt, die Autochthonen der westlichen Nationen, ihre angestammte Heimat, ihre Völker für existent zu halten, geschweige denn zu verteidigen, und sei es mit melancholischen Worten. Ihre Überwachungsmentalität äußert sich in dem, was unter dem Stichwort political correctness seit den 90er Jahren bekannt geworden ist: im Namen des moralisch Guten politische Gegner zu bekämpfen.
Big Other ist mithin das Kollektiv der Massenmigranten und die totalitäre Feinderklärung gegenüber Kritikern der Massenmigration im angemaßten Namen dieses Kollektivs. Die Big-Other-Logik subjektiviert ein historisches Ereignis, bricht es herunter auf lauter abstrakt gedachte betroffene Menschen. Der historisch-politische Blick hingegen ist objektivierend, er führt weg vom Einzelschicksal. Das bedeutet: Wer in Geschichte denkt, denkt nicht in Geschichten.
Das bedeutet aber auch: Man kann nur subjektiv-ahistorisch oder objektiv-historisch denken. Beobachtet man aus einer politischen (oder historischen, soziologischen, ethnographischen) Perspektive die Masseneinwanderung, sieht man eine soziale Verschiebung, ein Groß ereignis, »feindliche Übernahme« (Thilo Sarrazin), und nicht lauter Rechtssubjekte.
Der einzelne Afrikaner als potentieller oder realer Migrant wird zum individuellen Rechtssubjekt, für den laut neuester EU-Parlamentsentschließung gilt, »dass Personen, die durch die Folgen des Klimawandels vertrieben werden, ein spezieller internationaler Schutzstatus gewährt werden sollte«. Spätestens durch die Anerkennung von »Klima« als Asylgrund hebt sich die Semantik der Subjektivierung selber auf: Die Zahl von »244 Millionen freiwilligen und unfreiwilligen internationalen Migranten« kann nicht mehr sinnvoll auf Subjekte gerechnet werden.
Quantität schlägt an einem nicht selber quantitativ bestimmbaren Punkt um in Qualität: Milliarden Einzelschicksale sind nicht länger als Einzelschicksale greifbar. Oder paradox ausgedrückt: Wenn jeder Mensch zum Subjekt wird, kann kein Mensch mehr Subjekt sein. Dieser fatale Fehler hat System. Es verhält sich mit ihm wie bei einem Vexierbild oder Kippbild: Der Betrachter kann nur eines von beiden Bildern zur Zeit wahrnehmen, faßt er das eine in den Blick, ist das andere unsichtbar.
Die Big-Other-Logik ist so ein Kippbild, dessen Funktion es ist, eine umfassende Gestaltwahrnehmung der Gegenwart unmöglich zu machen. Wer nur Subjekte sehen kann, sieht keinen historischen Prozeß und vice versa. Die besondere Hinterlist dieser Logik steckt darin, daß jeder von uns in seinem Leben bereits persönliche Begegnungen mit weitgereisten Fremden oder ihren Kindern hatte, und wohl kaum jemand nicht wenigstens ein, zweimal diese Begegnung als ganz natürlich, positiv, eben als individuelle menschliche Begegnung erlebt hat.
Was auch sonst? Moralische Erpressung setzt an dieser existentiellen Stelle an. Jeder Einzelne, nähme man ihn aus der Weltbevölkerung heraus, wäre in der persönlichen Begegnung unser Nächster, mit ihm könnte eine Begegnung möglich sein, er wäre dann nicht mehr der Andere. Er wäre es, im Konjunktiv Irrealis.
Dieser Konjunktiv Irrealis, das Als-Ob, die moralische Fiktion, führt dazu, daß wir einerseits moralisch mehr zu leisten imstande sind als eine bloße Stammesmoral hergibt, und daß wir andererseits moralisch kompromittierbar sind. Eine Stammesmoral sagt ihren Mitgliedern: Wir gehören zusammen, die Anderen gehören nicht zu uns, ihr Schicksal braucht uns nicht zu kümmern.
In einer Stammesmoral ist die Denkoperation »Wäre dieser wildfremde Mann eigentlich mein Nächster?« unmöglich: Er ist es, oder er ist es nicht. Der Grund dafür, daß wir erpreßbar sind, daß Big Other uns seit einigen Jahrzehnten mit steigendem Druck im Griff haben kann, liegt just in der Abstraktionsleistung: wir müssen ständig vom Subjekt zum Allgemeinen und zurück wechseln, uns der Kippfigur ausliefern.
Hilft Objektivieren gegen den Subjektivierungszwang? Es läge nahe, hier einen Ausweg zu sehen: das Weltereignis Migration zu problematisieren, seine Zeit in Gedanken zu erfassen, wissenschaftlich die geopolitischen Verschiebemassen zu deuten, historisch-politisch statt subjektiv zu denken. Vom Big Other wird dieses Vorgehen prompt als Produktion von hate facts verunglimpft, und weil Big Other abstrakt ist, kann man ihn nicht einmal als politischen Feind bekämpfen.
Nicht die Fremden sind das Böse, sondern die Masseneinwanderung und deren moralische Hypostasierung. Wanderungsbewegungen im historisch großen Stil sind nicht per se böse, sondern ihr Gebrauch als geopolitisches Instrument, um die sogenannten Aufnahmeländer zu destabilisieren, ist böse.
Wanderer wie Heimgesuchte werden gleichermaßen ihrer Zugehörigkeit und Identität beraubt, ohne daß dabei jemals auf der Ebene politischer oder persönlicher Zustimmung oder Ablehnung reale Entscheidungen stattgefunden hätten. Doch ist es überhaupt legitim, in politischen Angelegenheiten vom »Bösen« zu sprechen?
2. Freund / Feind und Gut / Böse
Soziale Systeme sind dem Soziologen Niklas Luhmann zufolge Kommunikationssysteme. Sie haben sich in der modernen Gesellschaft ausdifferenziert in getrennte Sphären mit jeweils spezifischen polaren Grundbegriffen. Der Rechtstheoretiker Carl Schmitt unterscheidet am Beginn seiner berühmten Schrift Der Begriff des Politischen (1933) ganz ähnlich bereits die Autonomien der verschiedenen gesellschaftlichen Sphären und ihrer je eigenen Gegensatzpaare: der Kunst (schön / häßlich), der Moral (gut / böse), der Ökonomie (nützlich / schädlich) und der Politik (Freund / Feind), von denen aus Zuflucht ins »Allgemeinmenschliche« genommen wird. Dem Politischen, so argumentiert er, schade das enorm.
Sein genuiner Bereich ist ebenso durch Menschheitspathos gefährdet wie durch ökonomische Übergriffe. Jede Sphäre ist eine Sphäre sui generis. Den politischen Feind, auch wenn dies psychologisch naheliegt, als häßlich oder böse zu markieren, überschreitet die Grenze des Politischen. Für Luhmann ist Moral ein im Grunde polemogener Begriff: Moral hat kein eigenes soziales System ausdifferenziert, sondern dockt überall an, um Zank und Streit zu erzeugen.
Dies geschieht, weil die Codes der Systeme (recht / unrecht, wahr / falsch, schön / häßlich, und eben auch Freund / Feind – Luhmann spricht auch von Macht / Ohnmacht oder Regierung / Opposition als binären Begriffen des Politischen), moralisch übercodiert werden. Das funktioniert so: Die Positivpole (recht, wahr, schön, Freund usw.) werden mit »gut« aufgewertet, die Negativpole mit »böse« (unrecht, falsch, häßlich, Feind usw.) abgewertet.
Wenn der politische Feind nicht mehr gedacht werden kann, weil Feindschaft »böse« ist, und nur Völkerfreundschaft erklärtermaßen zum Weltfrieden führt, hat dies fatale Auswirkungen auf die Politik selber. Die Politik nutzt die moralische Übercodierung. Sie suggeriert damit, selbst das Gute zu repräsentieren – hinter diesem imaginären Guten jedoch versteckt sich das Böse.
Das Fehlen eines sichtbaren Bösen wird durch den Aufbau eines Feindbildes kompensiert. Die jeweiligen Politakteure bestätigen ihr eigenes Gutsein dadurch, daß sie den politischen Gegner böse nennen. Dies ist indes eine imaginäre, scheinmoralische Ebene, eine Projektion des Bösen. Der Kampf zwischen Gut und Böse findet derweil auf einer anderen Ebene statt, die allerdings durch jene moralische Scheinebene verdeckt wird, die vorgibt, die echte zu sein.
Wenn uns also Schmitt und Luhmann eindrücklich davor warnen, gut / böse zur Stereotypisierung von politischen Akteuren zu verwenden, liegen sie richtig: Der Code moralischer Kommunikation ist höchst manipulativ. Das ist der Grund, weshalb Luhmann die schlichte Frage stellt: »Müssen wir denn Tag für Tag hinnehmen, daß die Politiker der Regierungs- und Oppositionsparteien sich verbalmoralisch bekämpfen obwohl wir, Demokratie richtig verstanden, gar nicht aufgefordert sind, zwischen ihnen unter Gesichtspunkten der Moral zu wählen?« Wer ist denn der Feind?
Für Carl Schmitt ist es »eine um ihre Existenz kämpfende Gesamtheit von Menschen, die einer ebensolchen Gesamtheit gegenübersteht«. Klassisch stehen sich Staat und Staat gegenüber oder innerhalb ein und desselben Staatswesens Regierung und Opposition als (zwar eingehegte, aber doch latent dahin tendierende) Bürgerkriegsparteien. Was aber, wenn der Gegner keine existentiell bedrohliche Menschengruppe ist, sondern ein diffuser Komplex aus Menschenmassen und sie kommunikativ überwölbende und real verschiebende politische Agenden?
Die Armada der Elenden, die Jean Raspail in seiner Erzählung schildert, aber auch die heutigen Verschiebemassen, Dschihadisten und Glücksritter sind zwar um ihre Existenz kämpfende Gesamtheiten von Menschen, jedoch nicht »politisch organisiert«, wie Schmitt betont hat. Big Other ist keine politische Organisation, sondern wenn man so will eine moralisch-imaginäre, oder überhaupt keine Organisation, ein diffuses Gebilde aus Massen also, die nur als lebendige Grundlage großer ideologischer Vereinnahmungen herhalten müssen.
Wir haben anhand von Raspails Big Other sehen können, daß dieser kein greifbarer Gegner ist, kein Kampf von gleich zu gleich mit ihm möglich ist, da er abstrakt ist und jeden potentiellen Gegner in stetiges Wechseln zwischen Subjektivierung und Objektivierung treibt. Wer ihn bekämpfen will, wird allzu schnell irregeführt: Plötzlich erscheinen die Migranten als Invasoren, der Islam als Islamisierung oder Angela Merkel als zu exekutierender Feind und werden als »böse« markiert. Sie werden zum sichtbaren, damit greifbaren und angreifbaren Gegnersurrogat.
Big Other hat diese Abwehrreaktionen mit eingerechnet: Rasch wird Abwehr politisch dämonisiert als »Haß« und »Menschenverachtung«. Schmitt hat genau das gemeint, als er die politische Differenz von der moralischen unterschieden hat: Der politische Opponent kann nicht »böse« sein, und wenn er so geframed wird, handelt es sich um moralische Manipulation, dazu angetan, den politisch Handelnden vom politischen Handeln abzulenken.
Wenn der Gegner nicht »die Linken«, »der Islam« oder gar »die Ausländer« sind, sondern diffuse, abstrakte Eliten, dann haben wir es nicht länger mit dem schmittschen Freund / Feind jenseits von gut / böse zu tun, sondern mit dem Bösen auf einer höheren Ebene.
3. Neue Weltordnung, Eliten, Agenden, Kräfte
Jetzt wird es schwierig: Der unsichtbare Gegner entzieht sich unserem politischen Blick. Walter Lippmann hatte bereits 1922 in Die öffentliche Meinung nüchtern erklärt, daß eine intakte Demokratie stets aus zwei Klassen bestehe: Die sehr kleine Klasse der »Spezialisten« wird aktiv mit den Angelegenheiten des Allgemeinwohls betraut. Diese Männer analysieren die Lage der Nation und treffen Entscheidungen auf politischer, wirtschaftlicher und ideologischer Ebene.
Ihr gegenüber stehe die Klasse der den Spezialisten überlassenen »Handlungsobjekte«, nach Lippmann die »verwirrte Herde«, vor deren Getrampel und Gelärm die Spezialisten geschützt werden müßten. In einer funktionierenden Demokratie hat die Masse der Menschen (»die Herde«) laut Lippmann lediglich die Befugnis, die Spezialisten zu wählen und den Rest der Zeit mit »Grasen« zu verbringen.
Lippman forderte, daß nur die spezialisierte Klasse für die »Herausbildung einer gesunden öffentlichen Meinung« Sorge tragen dürfe, weil die Öffentlichkeit lediglich aus »unwissenden und zudringlichen Außenseitern« bestehe. Lippmann liefert nicht etwa die Beschreibung einer Verfallsform des Politischen. Demokratie ist per se Scheindemokratie, Manipulation ihr natürliches Verfahren.
Er bewunderte »den Vorteil« zentraler politischer Beeinflussung der Massen nach dem Vorbild des Politbüros der Sowjetunion. Die Öffentlichkeit könne mit ihrer Hilfe für politische Ziele gewonnen werden, die sie im Grunde ablehne. Diese Manipulation der Massen sei notwendig, da »das Interesse des Gemeinwesens sich der öffentlichen Meinung völlig entzieht« und nur von sogenannten verantwortlichen Männern getragen werden dürfe.
Gegen Ende des Ersten Weltkrieges wurde Lippmann für die US Army in London stationiert und verfaßte dort Flugblätter, die hinter den feindlichen Linien abgeworfen wurden. In dieser Zeit ernannte ihn der US-Kriegsminister zum Generalsekretär einer geheimen Studiengruppe, die den kommenden Friedensvertrag vorbereiten sollte – und damit letztlich die Weltnachkriegsordnung. Die Studiengruppe war organisatorisch und personell ein direkter Vorläufer des 1921 gegründeten Council on Foreign Relations, wo bis heute und mit großem Erfolg die Sichtweise eines maßgeblichen Teils der US-Geld- und Konzernelite in amerikanische Außenpolitik übersetzt wird.
In diesem Gremium entstand US-Präsident Woodrow Wilsons berühmter 14-Punkte-Plan, laut Lippmann der Versuch, ein »gemeinsames Bewußtsein in der ganzen Welt anzubahnen«. Wohlgemerkt – Walter Lippmann hält dies für ein erstrebenswertes Ziel. Doch wie wird dieses Ziel verwirklicht? Wer hat die Macht dazu? Lippmans »Spezialisten« sind ihrerseits keine freien Entscheider.
Manfred Kleine-Hartlage hat 2012 in seinem luziden Büchlein »Neue Weltordnung« – Zukunftsplan oder Verschwörungstheorie? die historische Entwicklung dieser wilsonschen Bewußtseinsanbahnung in sehr konkreten internationalen Organisationen nachvollzogen. Sein Ausgangspunkt ist die fortschreitende Entmachtung der Nationalstaaten durch supranationale Institutionen wie die UNO als Nachfolger von Wilsons Völkerbund, IWF und Weltbank, die WTO, die EU, die NATO, das oben genannte CFR und sein Ableger European Council on Foreign Relations und zahlreiche andere.
Er stellt fest, »daß eine einmal etablierte Organisation dieser Art praktisch kaum mehr zu ändern ist, jedenfalls nicht auf Initiative einzelner Akteure oder Staaten hin.« Die dadurch entstehende »Neue Weltordnung« als »Verschwörungstheorie« – dieses Schlagwort wurde übrigens von der CIA nach dem Kennedy-Mord geprägt, um den Gedanken, es könnte womöglich tatsächlich namhaft zu machende Drahtzieher dahinter geben, lächerlich zu machen, die daraufhin als elitäre Gruppe unbeschadet mit ihrem Tun fortfahren – zu derealisieren, ist Kleine-Hartlage zufolge ganz unnötig.
Man sehe auf der Oberfläche ohnehin, was geschieht. Man brauche nur den besagten Eliten diejenigen Ziele, zu denen sie selbst sich bekennen, zuzuschreiben und dann die Frage zu stellen, wozu dies nun geschehen soll und bereits geschieht. Denn dies führt auf die Ebene der Zielsetzungen hinter oder oberhalb der manifesten Oberfläche der Ökonomie und der Politik. Schaut man auf ein Phänomen, kann man fragen, was sich in diesem Phänomen manifestiert, wovon es Ausdruck ist.
Diese Denkweise ist nicht auf eine sonderbare Weise verschwörungstheoretisch, sondern der gewöhnliche Blick eines Arztes, der ein Symptom bemerkt und dessen Ursache herausfinden will, oder eines Soziologen, der ein bestimmtes Verhalten auf seine kollektiven Motive zurückführen will. »Was ist der Fall und was steckt dahinter?«, fragte sich der nicht gerade der okkulten Geheimniskrämerei verdächtige Luhmann in einer gleichnamigen Vorlesung und gab die logische Antwort: »Wenn etwas der Fall ist, steckt auch etwas dahinter – nämlich die Unterscheidung von dem, was nicht bezeichnet wird, wenn etwas bezeichnet wird.«
Wenn beispielsweise ein Marxist annimmt, hinter der sogenannten Migrationskrise stecke die Geschichte von Klassenkämpfen – was wird damit dann gerade nicht bezeichnet? Und wenn ich nun annähme, hinter der »Großen Wanderung« (Hans Magnus Enzensberger) steckten Pläne einer globalistischen Elite zur Errichtung der Neuen Weltordnung, und noch dahinter größere geistige Bewegungsimpulse, dann bräuchte ich mit Luhmann diese Beobachtung nicht als Wahrheit zu verkaufen.
Ich könnte sie als »difference that makes a difference« (George Spencer Brown), eben als meine Beobachtung, handhaben. Wissend, daß sie einen blinden Fleck hat wie jede Beobachtung, daß sie eben eine Perspektive ist. Doch die Sache hat einen Haken. So schnell läßt einen Big Other nicht von der Angel.
Wenn ich mit meiner »Verschwörungstheorie« (wofür es bezeichnenderweise keinen Positivbegriff gibt) daherkomme, reicht es nicht aus, daß ich dafür keine absolute Wahrheit beanspruche, sondern frei heraus zugebe, daß diese natürlich eine Perspektive ist, eine Denkmöglichkeit. Jean Raspail gebraucht in seinem Roman Das Heerlager der Heiligen als wiederkehrendes Motiv die Frage »Vielleicht ist das eine Erklärung?« – doch solche Erklärungsversuche werden verunmöglicht.
Big Other verlangt, daß der blinde Fleck sich über die ganze Beobachtung erstrecken und sie auslöschen soll. Auch hier werde ich als Beobachter gezwungen, die Ebenen zu wechseln: meine Beobachtung oszilliert zwischen politisch Sichtbarem und dahintersteckendem Unsichtbaren.
Wenn Manfred Kleine-Hartlage die These vertritt, man brauche doch bloß zu »unterstellen«, was die großen Akteure in EU- und UN-Papieren selber offenlegen, Listen von reliable allies, Migrations- und Flüchtlingspaktveröffentlichungen und framing manuals öffentlich-rechtlicher Sendeanstalten, dann überläßt er es klug dem Leser, selber eins und eins zusammenzuzählen und sich zu überlegen, wozu bestimmte Pläne der Öffentlichkeit bekannt gemacht werden.
Allein die Denkmöglichkeit, eine Ebene jenseits der Oberfläche anzunehmen, auf der es Pläne, Agenden, Akteure, Kräfte geben könnte, mithin »Verschwörungstheorien« für berechtigte Erkenntnisansätze halten zu wollen, führt ins soziale Abseits. Der Anpassungsdruck des Big Other bestimmt auch hier wieder die mögliche Wahrnehmung, auch die Wahrnehmung von etwaigen Auswegen aus der Misere, die aber dadurch unpassierbar werden.
4. He who must not be named – das große Tier
In Platons Staat erzählt Sokrates den Mythos vom »Großen Tier«: Man stelle sich vor, jemand hielte sich eine große und gewaltige Bestie, und spürte ihrem Verhalten nach und nach ab, wie sie zu behandeln sei. Dies zu tun hieße denken und handeln in Übereinstimmung mit den Vorurteilen und Reflexen der Masse, zum Nachteil jedes persönlichen Forschens nach der Wahrheit und dem Guten.
Wie kann nun unsereiner überhaupt auf die Idee kommen, daß die Neue Weltordnung, definiert als freie weltweite Bewegung von Waren, Kapital, Dienstleistungen und Menschen eine Verkörperung des Großen Tieres wäre?
Gemeinsam ist allen globalen Verschiebeoperationen (Waren, Kapital, Dienstleistungen, Menschen) ihr extremer Grad an Abstraktion.
Die letztgenannte Verschiebungsoperation, die Verschiebung von Menschen, aber legt die Axt an praktisch alles, was seßhafte Kulturen hervorgebracht haben, wie es in einem Kommentar auf sezession.de treffend formuliert war. Menschen auf dem Globus zu bewegen ist etwas fundamental anderes als Waren und Geld zu bewegen.
Ein Mensch ist nicht im entferntesten mit einer Ware vergleichbar, er ist »ein großes Wunder«, wie Pico della Mirandola in einer berühmten Rede staunend bemerkte. Er blüht in einem konkreten Raum und einer konkreten Zeit, ist in seiner Identität mit diesen Verhältnissen eng verwoben.
Nun soll er – um seiner Selbstverwirklichung willen – seine Herkunft hinter sich lassen, sich auf den Weg machen und irgendwo auf der Welt den Ort finden, der ihm im Augenblick die meisten Vorteile bietet, um, wie man sagt, »sein Potential optimal zu entfalten«.
Als moderner Nomade im hotel24 abzusteigen, seine Follower stets dabei zu haben, ihnen ständig den eigenen Status zu melden und als »Anywhere« oberhalb der »Somewheres« (Alexander Gauland) sich zu bewegen und überall und nirgends zuhause zu sein: Das ist mittlerweile zum Lebensstil einer recht großen Schicht von Menschen geworden, einer »blinden Elite« im Sinne des amerikanischen Soziologen Christopher Lasch.
Die möglichen materiellen Annehmlichkeiten, die diese neue nomadische Lebensweise mit sich bringt, werden mit dem Verlust der Heimat bezahlt, dem Verlust der Verwurzelung, auch der Geborgenheit und Hülle, die ein Gemeinwesen dem Menschen bietet. Letztlich werden durch diesen Prozeß also die den Menschen bergenden und tragenden Gemeinwesen selbst zerstört.
Um es genauer zu sagen: Es wird mein Gemeinwesen zerstört, mein Volk, meine Heimat, mein Ort, weil dies alles zu den Hauptzielen dieser Migrationsbewegungen gehört. Globalismus, soweit der Begriff die freie Migration von Menschen und ein »universelles Niederlassungsrecht« beinhaltet, ist ein Angriff auf das Wesen des Volkes an sich und daher nicht mit früheren Einschmelzvorgängen vergleichbar, die immer die Völker zwar verändert, aber in ihrem Kern doch intakt gelassen haben.
Dies muß verhindert werden, nicht bloß hinausgezögert. Bei Strafe des Untergangs. Diesen Zusammenhang nicht nur nicht zu bemerken, sondern sich in seinen Dienst zu stellen, ist genau das, was das große Tier einfordert. Der französische Philosoph Renaud Camus bildete das Kunstwort »le fauxel«, das er von »faux« = »falsch« abgeleitet hat, und analog zu »réel« = »richtig, real«, gebildet hat: falsche Realität, eingebildete Wirklichkeit, das Manipulative.
Le fauxel wirkt auf das moralische Urteilsvermögen der Leute. Es dressiert sie dazu, kollektiv dem großen Tier gehorsam zu sein, statt dessen Vitalfunktionen zu erkennen. Das Grauen vor der Bestie ist beseitigt bei denjenigen, die das Tier pflegen. Sie glauben aufrichtig, die Neue Weltordnung bringe doch den ewigen Frieden ohne Grenzen für alle Menschen.
Ihnen erscheint nichts als »böse«, außer denjenigen, die sich gegen das Tier wehren: Diese werden dann im »Kampf gegen Rechts« und gegen »Populismus« als »Nazis« oder »Verschwörungstheoretiker« mit dem Bösen gleichgesetzt. Dieser Ersatzgegner ist als innenpolitischer Bürgerkriegsfeind moralisch übercodiert, gegen ihn können die tierpflegenden bienpensants »gut« sein.
Woher nehme ich den heftigen und beständigen Impuls des Grauens vor dem großen Tier, vor dem fauxel? Es ist weniger das detaillierte Wissen um das Dahintersteckende, weniger die ausgefeilte Theorie, auch kein Eingeweihtsein in okkulte Zusammenhänge. Es ist eine platonische Tugend des Philosophen: die Liebe zur Wahrheit, nicht zu verwechseln mit dem Bereits-gefunden-Haben der Wahrheit.
Simone Weil verknüpft diese Wahrheitsliebe mit dem Dienst am wahren Gott. Das ist schwierig zu begreifen, noch schwieriger als meine oben begonnene Überlegung zu unsichtbaren geschichtsbestimmenden Kräften. »Und dieses Böse, vor dem einem graut, liebt man zugleich, weil es aus Gottes Willen vorhanden ist« – was kann das heißen?
Imstande zu sein, dieses Grauen vor dem Bösen zu empfinden, wird durch das Gute bewirkt. Die Fähigkeit zu dieser Empfindung zeigt nämlich, daß das Böse Abwehr hervorrufen kann, daß es bekämpft werden kann. Insofern ist das Böse eine abgeleitete Funktion des Guten: ohne Wahrnehmung des Bösen könnten wir uns nicht aktiv gegen oder für es entscheiden.
Menschen können nur aus Freiheit sündigen, das Böse muß genausogut wie das Gute »aus freier Willkür angenommen worden sein, denn sonst könnten sie nicht zugerechnet werden«, formulierte Kant in der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft 1793. Nur weil es das Böse in der Welt gibt, sind wir zurechnungsfähig, denn automatisches oder instinktives Gutsein käme ohne menschliche Freiheit aus.
Das Immer-auch-anders-Können ist die Voraussetzung des Guten. Mit Simone Weil ließe sich also sagen: Nichts anderes will Gott, als daß wir uns ständig neu des Grauens vor dem Bösen bewußt werden. Dafür läßt er es zu, setzt uns ihm aus, läßt sogar zu, daß es uns verschlingt und uns ohne daß wir es erkennen in seinen Dienst zwingt.
Es ist Gottes volle Absicht, dem Menschen zu überantworten, sich gegen das Verschlingende zu entscheiden oder sich verschlingen zu lassen. Diese Entscheidung ist selber Schicksal und Bewährung, keine Spielart von free choice. Gäbe es nicht die Masse, das »soziale Tier«, wir könnten uns nie darin bewähren, ihr zu entkommen. Gäbe es nicht den unsichtbaren Gegner und seine täuschenden Ersatzfeindkonstrukte, könnten wir nicht an immer schärferem individuellen Bewußtsein arbeiten.
Ohne die Grundannahme von Individualität und Freiheit ist es unmöglich, Manipulation etwas entgegenzusetzen. Der Sozialpsychologe Arno Plack hat Manipulation als »Steuerung des Menschen mit Mitteln, die ihm nicht bewußt sind, auf Ziele hin, die nicht die seinen sind, die er aber als die seinen auffassen soll«, gekennzeichnet.
Big Other erklärt sich nicht, das Prinzip wirkt, und es wirkt desto stärker, je weniger die Menschen mitbekommen, daß sie um ihre Ziele betrogen werden. Seine Ziele sind diametral den Zielen der Völker und der in ihnen verwurzelten Individuen entgegengesetzt, wenn ich annehmen darf, daß es ihnen wesentlich um Selbsterhalt und Gedeihen, mithin Systemstabilität, geht.
Wenn es jemandem gelänge, sich dem großen unsichtbaren Gegner überhaupt jemals zu entziehen, wäre das nur durch freie Individualität möglich. In einer Haltung von freier Individualität, und etwas anderes als eine Haltung kann dies kaum sein, kann man anderen Individuen begegnen. Sollte einem in der beschränkten Zahl von Begegnungen im Leben womöglich jemand unterkommen, von dem angenommen werden kann, daß er im Bösen festgebunden ist, ein bezeichnenderweise im Deutschen sogenanntes »hohes Tier«, könnte es zumindest prinzipiell möglich sein, gerade durch das Böse hindurch diesen Menschen zu lieben.
Er wird dann konkret und ist nicht mehr nur ein abstraktes Exponat des Bösen. All die vielen, denen man auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist, die politischen Gegner in den Spiegelfechtereien, die mit »gut versus böse« fehl etikettiert sind, die fremden Massen, vor deren frevelhafter Zahl uns graut, sind gering, verglichen mit dem unsichtbaren Bösen: Big Other, den abstrakten Eliten, dem deep state, Platons großem Tier.
Woher also beziehe ich die Kraft, den unsichtbaren Gegner bekämpfen zu wollen? »Wer als Weltherrscher Rebellion ein für allemal unmöglich machen will, muß also folgendes zerstören: erstens die Familie, zweitens die Völker, drittens die Religion«, überlegt Kleine-Hartlage und bestimmt so ex negativo unsere wesentlichen Bezugsgrößen. Familie, Volk, Religion – alle drei sind konkret (nicht abstrakt), real (nicht imaginär) und wahr (nicht manipulativ).
Es sind dies Bezugsgrößen, die überhaupt erst Verwurzelung und Hülle ermöglichen. In ihnen geborgen zu sein, setzt ungeahnte Kräfte frei, von denen der philosophische Wahrheitssucher nur ahnen kann, woher sie rühren.