Dieses Buch des Pariser Forschers Thomas Piketty schreibt soziale Globalgeschichte. Der Meilenstein interdisziplinärer Analyse könnte als Semester-Reader für Politikwissenschaftler, Historiker, Soziologen und Volkswirtschaftler dienen. Kapital und Ideologie betrifft deren Forschungsgebiete und verknüpft sie mannigfaltig. Pikettys Ausgangspunkt ist die These, wonach jede Gesellschaft ihre materiellen Ungleichheiten legitimieren muß, da ansonsten ihre politisch-soziale Rechtfertigung entfällt.
Anhand eines Parcours, der den Leser von Anbeginn der dreigliedrigen Gesellschaften über die Sklavenhaltergesellschaften hin zu den Eigentümer- und Industriegesellschaften sowie dem heutigen Hyperkapitalismus führt, zeigt Piketty, daß diese Rechtfertigung unterschiedlich ausfallen kann: traditionalistisch, ideologisch, religiös usw. Die derzeitige Wirtschaftsordnung legitimiere sich »proprietaristisch« (Vergötzung des Privateigentums an den Produktionsmitteln) und »meritokratisch« (Leistung schaffe Wohlstand) und verkörpere als Kapitalismus eine Sonderform des Proprietarismus. »Kapitalismus« definiert Piketty »als eine historische Entwicklung der ständigen Ausweitung des Privateigentums und der Akkumulation von Vermögenswerten über traditionelle Besitzformen und alte Staatsgrenzen hinweg«, während »Proprietarismus« als politische Ideologie zu verstehen sei, die dem absoluten Schutz des Privateigentums das Primat zuweist (nicht Volks- oder Staatsinteressen).
Piketty analysiert nach diesem historischen Teil – wie in seinem Bestseller Das Kapital im 21. Jahrhundert – Vermögenskonzentrationen (in den USA, China und Westeuropa), umreißt Steuermodelle und erklärt fiskal- und sozialpolitische Zäsuren. Der meritokratische Mythos könne seit dem Ende des Systemgegensatzes 1989 / 1990 und dem Siegeszug marktliberaler Ansätze nicht mehr einhalten, was er verspreche: Piketty zeigt unter Zuhilfenahme von Tabellen und Datenerhebungen, daß die erodierende Mitte und die unteren Schichten von der kapitalorientierten Wirtschaftsweise nicht profitieren, während die absolute Oberschicht unbegrenzte Kapitalakkumulation betreibt. Piketty schwebt eine sozialreformatorische Umwälzung vor.
In der Eigentumsfrage plädiert er für einen Prozeß, der das auf der Allmacht der Aktionäre basierende System überwinde und drei Eigentumsformen beinhalte. Öffentliches Eigentum sehe vor, daß staatliche oder kommunale Akteure anstelle der privaten Aktionäre Eigentümer eines Unternehmens werden; gesellschaftliches Eigentum meine, daß sich Beschäftigte mit staatlichen und privaten Aktionären die Macht teilten; Eigentum auf Zeit bedeute, daß die reichsten Privateigentümer jedes Jahr einen Teil ihres Besitzes der Allgemeinheit übertragen, damit das Kapital zirkuliere und die monopolartige Konzentration des Privateigentums abnehme.
Piketty sieht einen weiteren Hebel, um zu einer der Allgemeinheit dienenden Wirtschaftsordnung zu kommen, darin, Steuersysteme neu auszurichten. Er untersucht, wie eine progressivere Besteuerung von Vermögen zu einer Entlastung der unteren und mittleren Schichten und zu einer adäquateren Belastung der obersten Schichten führen würde. Diese Passagen sind ebenso lehrreich wie ein Vergleich, den Piketty zwischen Marktgläubigen und Kommunisten zieht: So, wie die »Realsozialisten« Angst vor kleinsten Veränderungen ihrer Ordnung hatten, weil man sonst das große Ganze kapitalistisch infizierte, lehnen heutige Kapitalhörige jede soziale Veränderung ab, weil man fürchte, daß sonst die »Büchse der Pandora« reformatorischer Bestrebungen geöffnet werde. Ebenfalls hervorzuheben sind Pikettys Betrachtungen zur Transformation der Linken (von Arbeiterparteien zu Akademikerformationen) und Rechten.
Für konservative Leser entscheidend ist die Analyse der »kaufmännischen Rechten«. Diese Strömung weise große Wirtschaftshörigkeit auf und kritisiere einzelne Aspekte der ansonsten befürworteten ökonomischen Globalisierung: Letztlich handelt es sich bei »kaufmännischen Rechten« um wertkonservative Liberale. Zudem wird bei der Prüfung der französischen Lage schlagend, was die größte Gefahr für das liberale Establishment und seine linken Kollaborateure darstellt: ein »nativistischegalitärer Block«, der soziale und nationale Widersprüche aufgreift und in Gestalt des Rassemblement National (RN, ehemals: Front National) einwanderungs- und kapitalismuskritische Einstellungen bündelt.
Dies wird vom RN-Gegner Piketty gefürchtet, da ihm schwant, daß die Synthese aus Befürwortung von sozial gerechter Umverteilung und identitärer Selbstbehauptung ein Erfolgsmodell in Krisensituationen abbildet. Neben den skizzierten Stärken muß auf Schwächen hingewiesen werden. Piketty geht klimaideologischen Exkursen nach, die der Wissenschaftlichkeit des Autors nicht gerecht werden.
Zum anderen wird deutlich, daß er multikulturalistisch-zeitgeistigen Prämissen folgt. So stellen für Piketty Einwanderer in Frankreich automatisch Franzosen dar, während französische Familien, die 150 Jahre in den drei Départements Französisch-Algeriens lebten, nach ihrer Vertreibung als »zurückgekehrte Algeriensiedler« bezeichnet werden – als ob sie nicht über fünf, sechs Generationen dort heimisch geworden wären. Diese Logik impliziert, daß mit zweierlei Maß gemessen wird, was freilich typisch für linksorientierte Akteure ist. Auffällig ist es, weil es einem herausragenden Werk entbehrliche Abzüge einbringt.
Kapital und Ideologie von Thomas Piketty kann man hier bestellen.