Inwiefern sich diese Welle aus einer Unterströmung allgemeiner Verunsicherung erhebt, seit dem Frühjahr verstärkt von einer unklaren Infektionskrankheit mit gelegentlichen Komplikationen, die zur Jahrhundertseuche ausgerufen wurde, ist nur zu mutmaßen. Immerhin: Das große Sterben schien bevorzustehen; eine neue “Grande Peur” begann.
Das zeigt den hypochondrischen Sensibilismus einer Gesellschaft, die früher ganz andere Risiken durchstand, ohne die Volkswirtschaft abzuschalten und Ausnahmenzustände auszurufen. Immer wieder fällt einem das Weltende-Gedicht Jakob van Hoddis‘ ein, insbesondere dessen zweite Strophe:
„Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen/An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken./Die meisten Menschen haben einen Schnupfen./Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.“
Dieses Gedicht erschien drei Jahre vor dem Ersten Weltkrieg, einer – im Gegensatz zur „Corona-Krise“ – tatsächlichen Katastrophe, deren Erschütterungen deutlich bis in die Gegenwart spürbar sind.
Was wir jetzt beobachten, ist eine so unheimliche wie faszinierende Kollektiv-Neurose, vielleicht als Vorzeichen eines Umbruchs oder mindestens weiterer Dynamisierung:
Zum einen wird vehement immer mehr Gerechtigkeit im Sinne von “Teilhabe” gefordert und verkündet, so als könne, ja müsse jedem Bedürfnis entsprochen werden, und zwar frei von Gegenleistung. Es reichen für “Nachteilsausgleiche” allein die “Bedarfe”, um deren Erfüllung zu verlangen und gewährt zu bekommen. Geschieht das nicht, wird der Vorwurf der Diskriminierung erhoben. Die vermeintliche Würde des Einzelnen garantiert mittlerweile nicht allein seine Rechtssicherheit, sondern gilt als hinreichender Grund für die Realisierung maximierter Bedürfnisbefriedigung. Der “Corona-Sozialismus” neuer Mittelvergaben und indirekter Umverteilungen verstärkte diese Erwartung.
Zum anderen blasen die selbsterklärt „Anständigen“, verunsichert und gerade nicht selbstgewiß, mit staatlicher Unterstützung ein Gespenst auf. Eher schon psychotisch als nur neurotisch wird es, wenn sie diese Fiktion als real ansehen: Der innere Frieden wäre von Ultrarechten und Rassisten bedroht, denen subversiv-perfide Populisten und Verschwörungstheoretiker den Boden bereiten. Die Demokratie ist in Gefahr!
Darin, also in der eigenen Verschwörungstheorie, besteht Konsens vom Bundespräsidenten bis zur Antifa. Die Exekutive, die seit ihren Corona-Verordnungen vor Kraft kaum laufen kann, setzt den Verfassungsschutz gegen jene ein, die sich nicht umstandslos in die neue Volks- und Einheitsfront einzuordnen bereit sind. Man ist angeblich tolerant, ja, man war nie toleranter, aber mit einer wirklichen Opposition möchte man besser nicht leben, denn die wäre selbst gegen die Toleranz.
In Richtung des linken Extrems kann es dagegen gar nicht radikalidiotisch genug laufen. Selbst die Regierung wäre wohl mit Applaus dabei, wenn mit neulinkem Revisionsbedürfnis etwa Bismarck- oder Kriegerdenkmäler geschändet würden, weil man darin endlich imperialistische oder rassistische Symbole erkennen möchte. Mag sein, das geschieht schon nächste Woche.
Zunächst war gerade in Halle (Saale) die Mohren-Apotheke dran. Rassismusverdacht, klar. – Mindestens sollen künftig “die Nachfahren kolonialisierter Menschen” entscheiden, wie mit “Kolonialdenkmälern” umzugehen ist, so der Staatsbürgerkunde-Funk.
Die Linke leidet halbbewußt daran, daß sie ihren “demokratischen Sozialismus” gar nicht erkämpfen mußte, sondern von ihrem Feind, dem Kapitalismus in demokratischer Gestalt, geschenkt bekam – und dafür bereit ist, möglichst teuer shoppen zu gehen und so für Wachstum zu sorgen. Die Einsicht, daß der Kapitalismus für alles, was sie sich je wünschte, besser zu sorgen versteht, als es sozialistische Staaten je hinbekamen, deprimiert die Linke zutiefst. Zudem ist sie in lichten Momenten von ihrer Übereinstimmung mit den Neoliberalen selbst irritiert: Beide propagieren Globalismus und „Weltoffenheit“.
Weil sie sich aber trotz ihrer Korrumpierung erst recht als kämpferisch verstehen wollen, bedürfen Linke und Grünalternative neuer Gegner. Dafür bietet sich der Kulturkampf an, sehr komfortabel, insofern die Linke dabei bis in die Regierung hinein die Feindbilder bestimmen und ideologisch Regie führen kann.
Aktuell darf sie sich in Bilderstürmerei profilieren, weil sie dem Staat und dessen Deutungsbehörden als Stoßtrupp der “Mitte” gilt. Billig zu haben, zumal geschichtliche Zeugnisse sich nicht wehren und die radikalen Horden nichts zu fürchten haben, wenn sie nur eine politisch konsensfähige Erklärung abliefern.
Sobald sich etwas als rassistisch, imperialistisch, faschistisch, sexistisch usw. usf. gekennzeichnet findet, ist es fällig, schon weil niemand dem zu widersprechen wagt, um dann nicht selbst als Rassist, Imperialist, Faschist und Sexist zu gelten. Ein Ritual wie in Diktaturen, die Grundüberzeugungen okroyieren. Wer kritisch nachdenkt und seinen Unmut gegen das ikonoklastische Umbenennen, Übermalen und Umstürzen äußert, läuft schnell Gefahr, als Nazi stigmatisiert zu werden.
Mag auch sein, er wird tatsächlich gefürchtet, der neue Faschist – allgemein als starke Persönlichkeit, die renitent gegenhält, wo alle anderen artig Bekenntnisse abgeben. Ein kritischer Satz vermag bei der Herrschaft Allergieschübe auszulösen, während ihr der linke Vandalismus gegenüber dem historischen Erbe der Nation nicht nur einerlei ist, sondern Beifall erhält: Seht unsere Jugend! Sie steht nicht nur wacker gegen fossile Energieträger auf, sondern ebenso gegen das Böse aus unserer so unheilvollen Vergangenheit!
Verschuldet die Schule als “Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage” auch manch Defizit im Wissen und Können, Geschichtsvergessenheit sowieso, für die richtige Haltung bzw. Anpassung versteht sie eindrucksvoll zu sorgen. Daher soll sie auf Vorschlag Klaus Hurrelmanns bereits mit sechzehn oder gar vierzehn Jahren wählen dürfen.
Was tun? –
Zwei Optionen: Entweder man findet innerhalb der formal noch funktionierenden Demokratie den Mut und Mumm zu einem ideell-gedanklichen Widerstand mittels produktiv-provokanter Entgegnungen, für die es u. a. hier bislang einen diskursbelebenden Ort gibt, ober man zieht sich im Sinne einer tätigen Verweigerung zurück, indem man das Seine tut und so „von unten auf“ wirkt, einfach in seinem Lebensbereich.
Beide Wege sind ehrenwert, so man sich kritisch prüft, dann aber fest und offenen Visiers positioniert. Ein klares Wort, hier publiziert, hat zudem sogleich die gesamte Aufmerksamkeit der Staatsorgane, so wie noch nie. Wann wurde man je direkt zum Verfassungsschutz durchgestellt? Man kann das ohne Zynismus als einen gewissen Luxus auffassen. Was in Schnellroda erscheint, wird bei den hochempfindlichen Sicherheitsbehörden gegenwärtig vermutlich interessierter und gründlicher gelesen als das, was die dicken und weitgehend angepaßten Zeitungen bringen. Wer also eine zweite Lesart als Alternative zum Verlautbarungsjournalismus sucht, der ist hier richtig. Woanders muß er suchen oder – wie in der DDR – mit seismographischer Aufmerksamkeit zwischen den Zeilen lesen.
Ansonsten: Rückzug, Beschränkung, Konzentration auf das Eigene und den engeren Kreis hat Charakter und zeigt die Kontur der Unterscheidung. Nirgendwo kann man sich so verfeinern wie im eventfreien Abseits und im vermeintlich Unbedeutenden. Zeiten der Repressalien sind Zeiten der stillen Bünde, die sich versammeln, ohne viel Aufhebens um sich zu machen. Das gilt von der Bundschuh-Bewegung der Bauernkriegszeit bis zu den Oppositionellen im Ostblock. – Waren die nicht links? Nein, sie waren oppositionell; sie lasen und dachten auf verschiedene Weise das Unverordnete.
Um den Heroismus des Wortes „Untergrund“ zu vermeiden: Im Abseits ist man weitgehend unabhängig und frei. Martin Luther kam aus Perspektive der damaligen Eliten ebenso vom Rande der Welt wie später Immanuel Kant; Arthur Schopenhauer ging lieber nachdenklich mit seinem Pudel spazieren als sich zu „exponieren“, weil er sich nach genauer Selbstprüfung darin sicher war, im Gegensatz zu den philosophischen Stars seiner Zeit richtig zu liegen. Sie alle standen nicht in der Zeit, waren aber an der Zeit. Und selbst Albert Einstein hatte als Hauslehrer und als „Experte 3. Klasse“ im Patentamt Bern mehr Muße zum Nachdenken als die etablierten Physik-Professoren an den Universitäten, die eine schon totgeglaubte Wissenschaft verwalteten, hohe Gehälter einstrichen, die Relativitätstheorie verlachten – und längst vergessen sind.
Also: Abgrenzen, Unterschiede klären, die Stille suchen, um nachsinnen zu können, die richtigen Gefährten finden und – sich rüsten. Abwarten und Tee trinken muß nicht feige sein. Der Buddhismus etwa könnte längst über die Aufklärung triumphieren, aber dieser Gedanke käme ihm freilich nie.
Wer in die Politik drängt, läuft Gefahr, darin Schaden zu nehmen, zumindest geistig. Empfehlenswerter ist die Rolle des abständigen Beobachters. Nicht unbedingt der Herr sein wollen, sondern lieber Jacques der Fatalist. Nicht in den Strömen und Strudeln mitschwimmen, sondern: Sie nachdenklich betrachten. Dies sogar wohlwollend! Denn was wir beobachten, uns gut unterhaltend und dabei reifend, ist die menschliche Komödie, zu der wir alle unserer Art nach selbst gehören. Was wir dort an Schwächen erkennen, das sind unsere eigenen Schwächen. Deshalb wäre es arrogant und vermessen, sich über das politische Theater zu erheben. Man muß nur nicht unbedingt dazugehören wollen. Ein guter Platz im Zuschauerraum ermöglicht in Zurückgelehntheit tiefere Einsichten als das immer gleiche Spielen auf der großen Bühne.
Zwar gibt es im politischen Theater eine Partei, die die „Alternative“ im Namen führt, eine junge Partei sogar, allerdings zuweilen mit dem etwas ältlichen Gesicht kleinbürgerlicher Bräsigkeit. Das geht in Ordnung. Und ohne Frage stellt diese Partei in ihrem gesamten Spektrum eine Alternative dar – einfach schon aus dem Grund, weil alle anderen ihr diese Funktion zuschreiben, weil sie sie in die Rolle des Parias drängen und daher selbst ja definieren.
Wer sich als AfDler solcherart täglich in den Parlamenten und Medien anzinken läßt, wer neuerdings bespitzelt wird und sein Auskommen gefährdet, verdient schon für diese Haltung hohen Respekt. – Zwar gefährden rechtsstaatliche Verfassungsschutzorgane nicht die unmittelbar physische Existenz derer, die sie als Feinde auszumachen meinen, sie foltern ja nicht, aber sie vermögen dennoch Existenzen im bürgerlichen Sinne zu vernichten, indem sie per Verwaltungsakt etwa Vereinen die finanziellen Mittel nehmen.
Genau in dieser Richtung ist die Exekutive wohl unterwegs: Legalität ist nicht Moralität. So steril wie gegenwärtig konnten Bürokraten kaum je verfahren. Sie brauchen keine Knäste, die Finanzbehörden reichen aus. Mißliebige Gegner können heutzutage mit Mausklick erledigt werden.
Die AfD muß Pragmatismen folgen, insofern ja die Spielregeln der Politik zu akzeptieren sind. Man trivialisiert in der Politik also zwangsläufig, aber das Leben selbst ist nicht gleich geistreich, sondern, zum Glück!, meistens wohltuend trivial; mithin muß es auch der Politiker sein, der gesellschaftliches Leben neu gestalten will, wenn es sich denn überhaupt von der Politik wirklich gestalten läßt und nicht eher nach seiner Weise einfach so vital weiterwuchert, alle Widerstände nach und nach um- oder einwachsend.
Sich der öffentlichen Sache, der „res publica“, annehmen zu wollen, zwingt nun mal in die Parlamente, auf die Marktplätze und in die Bierzelte, vor allem aber ins Netz, also in die „sozialen Medien“, die heutige Agora. Klar, was dort zu erwarten ist. Nein, man sollte sich nie und nimmer darüber erheben, aber man muß es wissen, wie das Volk, der „große Lümmel“ (Heinrich Heine), so tickt. Markus Gabriel spricht mit Blick auf “Facebook” und andere Platt-Formen treffend von “Verfallsmedien”, aber der Agitator muß seine Bühne eben dort aufrichten, wo “des Volkes wahrer Himmel” blaut.
In Wahrnehmung der öffentlichen Sache leidet die Politik an einem Dilemma: Es braucht sie, um die immer komplexeren Probleme des Zusammenlebens zu regulieren, ob nun demokratisch oder anders, aber das politische Geschäft selbst bedarf dafür gerade nicht der markigen Charaktere und großen Geister und ebensowenig der einfach nur Redlichen und Kenntnisreichen, die zudem lieber ihren Professionen treubleiben; es braucht vielmehr jene, die es aus eigenem Antrieb und Geltungsdrang wirksam in die Öffentlichkeit und auf die Podien zieht, mithin also bestenfalls Idealisten und schlimmstenfalls Narzißten. Beide sind nicht unproblematisch, aber anderen hört der „große Lümmel“ einfach nicht zu.
Fazit: Gegenüber der kulturevolutionären Großkampagne des Establishments der Berliner Republik, das sich des linksradikalen Radaus der Antifa-Garden als Unterstützung versichert und dessen utopistisches Menschenbild neuerdings autorisiert teilt, hilft zunächst gar nichts. Man kann sich dazu nur verhalten.
Man darf sich der AfD freuen, die bislang Alternativen bietet, aber die gar nicht auf Feinsinn, Intellektualität oder geistreiche Pointen aus sein darf, weil sie sonst nicht verstanden wird. Und die eben glauben muß, daß im Volk der gesunde Menschenverstand zu Hause ist. Schwer zu beweisen, ob das je zutraf, obwohl sich jede Demokratie genau diesen Glauben ja selbstsuggerierend als eine höchst fragwürdige „Grundvereinbarung“ aufzwingt und mit stereotypen Dauerbekenntnissen unterwirft, etwa dem Mythos vom “mündigen Bürger”.
Man kann sich am ehesten noch wünschen, daß der konsequentere Teil der Alternative, der „Flügel“, sich in Disputation und Streit mitunter besser aufs Florett als auf den Säbel verstünde, daß dort also nicht allein der Typus des Volkstribuns geübt würde, der die große Geste vor allem für die Eigenwirkung beherrschte, sondern ebenso der inspirierende Nachdenker und scharfsinnige Redner. Aber eingestanden, der wiederum könnte in der „Politik als Beruf“ (Max Weber) nicht reüssieren; Wahlkämpfer sollten besser keine Essayisten sein.
Kann man Politik überhaupt ernstnehmen? Klar, insofern man den Menschen selbst ernstnimmt, was wiederum fragwürdig bleibt, wobei ein Nachdenken darüber tiefer greift, als Politik es könnte, wollte und sollte.
Was bleibt? Letztlich immer nur das Als-ob, also nicht viel. Daß es keine politische Rettung gibt, jedenfalls nicht im Sinne eines finalen Endzustandes, der schon als Gedanke unheimlich wäre, macht als Einsicht gelassen. Und nachdenkliche Gelassenheit erscheint gerade wichtig. Zumal Kritik, Impuls und Initiative derzeit sowieso von rechts ausgehen, weil allein zwischen rechts und den anderen die einzig noch deutliche Unterscheidung möglich ist.
Gotlandfahrer
Danke für die Zeilen, die mir aktuell trotzdem ein wenig zu verkopft erscheinen. Obwohl ich nichts Besseres zu bieten habe. Höchstens diesen künstlerischen Hinweis:
https://www.youtube.com/watch?v=ynwza1cfSRE&list=PLuDGoPmNBft7Y99DIVA7QG9UpNgsq8oVJ