Von Anfang an haben Polizei und gewisse para-staatliche Strukturen gewaltsam und brutal reagiert. Mehrere Hundert junge Menschen sind festgenommen, Mädchen brutal verprügelt worden – und Belgrad sieht aus wie ein Schachtfeld.
Wie hat alles angefangen?
Das Faß zum Überlaufen brachte besagter Dienstagabend, als Präsident Aleksandar Vučić eine seiner langen, theatralisch anmutenden Presseerklärungen abgab. Das Thema des Monologs war die Covid19-Krise und die problematische epidemiologische Lage Serbiens.
Der Präsident hat seinen Willen angekündigt, am Wochenende die Sperrstunde wieder (verfassungswidrig) einzuführen und, wie bereits im April, das ganze Land in Quarantäne zu versetzen. Diese Nachricht kam nach einer langen Reihe von Äußerungen, die nur mehr als Volksbeschimpfung bezeichnet werden können.
Angeblich sollte das Volk deshalb wieder eingesperrt werden, weil die Leute zu undiszipliniert, dickköpfig und unverantwortlich gehandelt hätten und sich als unfähig erwiesen, auf die eigene Gesundheit zu achten. Das alles klang weniger nach einer Rede eines gewählten Politikers an die freien Bürger, sondern wie eine Beschimpfung der ungehorsam-dummen Untertanen, die ob ihrer Sünden und Untaten bestraft werden müßten.
Man kann durchaus feststellen, daß diese Maßnahmen vollumfänglich verfassungswidrig wären. Selbstverständlich war eine Reaktion des Volkes auf die anhaltende Willkür des Mannes zu erwarten. Das Volk artikuliert also auf seine Weise: genug ist genug.
Nach der Rede sammelten sich spontan mehrere Tausend Serben vor dem Parlament in Belgrad, um friedlich zu protestieren. Von Anfang an war die Masse heterogen. Schon am ersten Abend sagte der Ex-Abgeordnete Srđan Nogo, daß es hier weder um die Linke noch um die Rechte gehe. Hier demonstriere das serbische Volk. Es gehe um die menschliche Würde, um das eigene Rückgrat.
Tatsächlich hat jeder seinen eigen Grund, warum er demonstriert. Man protestiert gegen die Coronadiktaur (Mönch Antonije), gegen die verräterische Kosovopolitik, gegen die wahnsinnige Migrantenpolitik, gegen die Auswanderung der Jugend, gegen die Bevormundung und Arroganz der Herrschenden, gegen die Lügen der Regierung, gegen die Ungerechtigkeit, gegen die weitverbreitete Korruption, gegen den Parteienstaat und den Klientelismus, gegen die Scheinwahlen, gegen die Kolonisierung Serbiens und den Verlust der Souveränität, gegen die Vernachlässigung des Volkes und seiner Bräuche, gegen die Willkür eines Mannes und einer Politikerkaste – oder einfach deshalb, weil man das alles nicht mehr ertragen kann.
Worte wie „verräterische Politik“ können überspitzt klingen, aber Verrat ist stets eine ernste Sache. Wie kann man die Auswanderung der eigenen, gut ausgebildeten Jugend und analoge Einwanderung kulturfremder Menschen anders bezeichnen? Wie kann man die Preisgabe des Kosovo sonst bezeichnen? Was sind Willkürlichkeit der Herrschenden und Zerstörung des Rechtstaats und Institutionen, wenn nicht: Verrat?
Wofür protestiert man? Ein junger Mann hat einfach gesagt: „Vater, das ist für dich!“ Ein anderer, mit blutigem Gesicht, gab an, daß er für seine Kinder und deren Zukunft erschienen ist. Denn nur derjenige, der weiß, daß eine Nation eine fest verbundene Kette von Verstorbenen, Lebenden und den noch nicht geborenen Generationen ist, kann solche Äußerungen nachvollziehen.
Wer protestiert?
Wer sind die Menschen, die protestieren? Die Regierungsmedien sprechen von Extremisten, extremen Linken und extremen Rechten, von Hooligans, ja sogar von fremden Agenten und Geheimdiensten. Präsident Vučić sprach von Faschisten und „profaschistischen Organisationen“, aber solche Vorwürfe laufen ins Leere.
Wie kann jemand, der konsequent die Verfassung ignoriert und bricht ernsthaft vom Extremismus der Leute sprechen, wenn diese Leute Verfassung, Ordnung und Rechtstaat verteidigen wollen? Wir sind hier, um den Staat, die Verfassung und unsere Heiligkeiten zu verteidigen, sagte dementsprechend Professor Dr. Miloš Ković.
Vom ersten Abend der Proteste an konnte man einige bemerkenswerte Neuigkeiten beobachten. Bis jetzt waren die erfolglosen Proteste gegen Vučić ja von Oppositionsparteien und linksliberalen Kräfte getragen. Diese Politiker sind jetzt seltener zu sehen und die linksliberalen Kräfte sind marginalisiert.
Demgegenüber sieht man sehr viele junge Menschen. Sie tragen orthodoxe Ikonen und serbische Fahnen, sie singen Lieder über den Kosovo, sie tragen Kleidung mit alten nationalen Symbolen und formen drei Finger mit Stolz. Gleichzeitig ist die Jugend bereit Zähne zu zeigen und sich vor dem Kreuz zu verneigen, zu beten und Steine zu werfen. Das ist eine Generation, die weder links noch rechts, sondern eine “Generation der Identität” ist (Miloš Ković).
Das ist eine stolze Generation, die vom Sinn des Kosovo-Gelübde weiß und auf seine Wurzeln stolz ist. Das ist eine selbstbewußte, nicht korrumpierte und nonkonformistische Generation, die kein Interesse für Parteienpolitik, Ideologien oder abstrakte Theorien hat. Sie ist noch ausreichend idealistisch, um an den „Marsch durch die Institutionen“ keinen Gedanken zu verschwenden.
Für diese Jugend sind die Dinge einfach: Herrscht eine Tyrannei, dann muß man sich wehren, man muß handeln, man muß sich gegen sie behaupten. Und ja, wenn es die Lage erfordert, muß man auch womöglich Steine werfen. Es muß so sein für ein Volk, das in seiner tausendjährige Geschichte Hunderte von Helden und Heiligen hatte, die für ihren Glauben gelitten haben. Das ist eine höhere Bestimmung, die man auch Schicksal oder „das Leben des Menschen auf dem Balkan“ (Stanislav Krakov) nennen kann.
Diese Jugend, die gegen das Tränengas und die Schläge kompromißlos und standhaft steht, ist das einzige, was Serbien in diesem Moment noch bleibt. Daß das alles kein Kinderspiel ist, zeigen Hunderte, die momentan im Gefängnis sitzen. Die außergewöhnlich brutalen Reaktionen der Polizei, para-staatlichen kriminellen Strukturen im Dienste der Regierung, Nervosität der regierungskontrollierten wie auch linksliberaler Medien zeigen, daß etwas Neues entstanden ist. In diesem Fall erweisen sich die alten politischen Kategorien als unbrauchbar und die alten Monopolpositionen in Frage gestellt.
Was kann man erwarten?
Es ist sehr schwer zu sagen, was aus dieser neuen Energie der Freiheit entstehen kann. Die Proteste sind spontan und dynamisch. Keine einzelne Partei und keine einzelne Gruppe ist im Stande, die Proteste zu dominieren oder zu übernehmen. Doch Ideologielosigkeit kann gleichzeitig als Stärke und Schwäche betrachtet werden.
Dasselbe kann bezüglich der Heterogenität der Demonstranten gesagt werden. Es gibt noch keine artikulierten Forderungen und keine klare Linie. Vučić muß weg, aber allein dies umreißt noch kein Programm. Immerhin: Man begegnet neuer Tapferkeit, dem Willen zur Freiheit, zur Selbstbehauptung, zur Selbstbestimmung des Volkes. Zudem erlebt man vor dem Parlament in Belgrad eine selbstlose Opferbereitschaft. Allein dies: ein unerwarteter Moment der Hoffnung.
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Dr. Dušan Dostanić ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für politische Studien in Belgrad. Als Referent des Instituts für Staatspolitik trat er bereits wiederholt in Schnellroda auf. Der Carl Schmitt-Experte ist zudem in regelmäßigen Abständen Autor der Sezession, zuletzt schrieb er in Heft 95 über die Romantik der Deutschen.
Ein gebuertiger Hesse
"Immerhin: Man begegnet neuer Tapferkeit, dem Willen zur Freiheit, zur Selbstbehauptung, zur Selbstbestimmung des Volkes."
Wären wir Deutschen zu diesem "immerhin" ebenfalls fähig, sähe es in unserem Land sehr, sehr anders aus. Meinen Respekt vor den widerborstigen Serben.