Charlotte Wiedemann: Der lange Abschied von der weißen Dominanz, München: dtv 2019. 288 S., 18 €
Die Autorin, die als über viele Jahre in Afrika und den islamischen Ländern reisende Journalistin über reichhaltige Erfahrung verfügt, beleuchtet ihr Thema aus verschiedenen Blickwinkeln. Sie tut das kenntnisreich. Zentrales Motiv ist dabei das Aus-dem-Zentrum-Rücken Europas. Die Kapitel »Europa als Provinz denken« und »Kolonialismus und Weltgedächtnis« arbeiten das ab. Der schrumpfende Anteil der Europäer an der Weltbevölkerung wird konstatiert, aber weder bedauert noch in seinen bedrohlichen Dimensionen begriffen. Insofern ist der Band ein typisches Produkt der antieuropäischen Korrektheitskultur, die reflexiv und empathisch immer nur da ist, wo es nicht um das Eigene geht.
Dieses kaum verhohlene antieuropäische, ja tendenziell autorassistische Ressentiment macht eine ansonsten an vielen Stellen informative und anregende Lektüre zur Rallye im Umkurven ideologischer Fallgruben. Es geht los mit der üblichen Fixierung auf das Rassismus-Konzept: »Verachtung für bestimmte Menschengruppen ist in allen Gesellschaften der Welt anzutreffen … Doch die systematische Abwertung anderer Kulturen, gestützt durch Wissenschaft, Wirtschaft, Kirchen, Militär und über einen unfaßbar langen Zeitraum, das ist weißes Erbe.« Das Bild wäre hingegen nur dann vollständig, wenn man hinzufügen würde, daß zu diesem Erbe nicht nur ein historisch wohl einzigartiges interessiertes Sympathisieren mit Fremdkulturen, sondern auch das Verbot der Sklaverei gehört, das sich die Kolonialmächte England und Frankreich an ihre Fahnen heften dürfen. Afrikanische Stammeshäuptlinge, die mit dem Verkauf von Sklaven reichgeworden waren, schickten Anfang des 19. Jahrhunderts Protestdelegationen (!) gegen die Abschaffung nach Paris und London.
Der Widerspruch zwischen der Idealisierung von Fremdkulturen und der Dämonisierung der eigenen wird auch an anderer Stelle deutlich: Wiedemann beschreibt Völkerschauen als die »Popkultur des 19. Jahrhunderts«. Außer in Europa fanden sie auch in den USA und in Japan statt. Sie kommentiert dies folgendermaßen: »So wie es ein Kulturerbe der Menschheit gibt, das unabhängig vom Ort seiner Entstehung alle reklamieren können, so gibt es auch ein Erbe der Unkultur: Es verletzt einen jeden, unabhängig vom Ort und der geographischen Ferne. Diese Taten zerstören etwas, sie zerreißen ein Gewebe, von dem wir dachten, daß es Menschen verbindet. In diesem Sinne lastet der Schaden der Menschenzoos auf uns allen.«
Die Problematik tritt in diesem Absatz klar zutage: Daß die beschriebene Praxis abzulehnen ist, darüber dürfte kein Dissens bestehen. Verletzt sie aber tatsächlich »einen jeden«, also auch etwa jeden einzelnen Koreaner, Inuit und Rohingya? Die Antwort liegt auf der Hand. Wer Menschheit sagt, will nicht unbedingt betrügen, er mag die besten Absichten haben, hat aber nicht darauf reflektiert, daß ein solches Subjekt nicht existiert: Mit der Rede vom Kulturerbe der Menschheit, hat er bereits eine spezifisch europäische, universalistische, »weiße« Perspektive eingenommen, genau die Perspektive, die Wiedemann letztlich verurteilt.
Allerdings hat das Buch durchaus seine Stärken. Sie werden immer dann sichtbar, wenn die Verfasserin nicht räsonniert, sondern auf ihre Reiseerfahrungen und Kenntnisse zurückgreifen kann. So ist neben zahlreichen Einzelbeobachtungen der Hinweis interessant, daß in der islamischen Welt die Zahl der Akademikerinnen rapide zunimmt. Man darf gespannt sein, ob und wie sich das in den verschiedenen Ländern auf das Verhältnis der Geschlechter auswirken wird. Wie geradezu fürchterlich europäisch auch hier wiederum die Einschätzung ist, zeigt sich an dem Verweis auf die angebliche Blüte einer feministischen islamischen Theologie. Die zitierte arabische Theologin lehrt allerdings weder in Saudi-Arabien noch im Iran, sondern an einer holländischen Universität.
Der lange Abschied von der weißen Dominanz von Charlotte Wiedemann kann man hier bestellen.