Sie können sich von diesem Anblick nicht lösen, es kommt den Gefesselten nicht einmal in den Sinn, daß es eine Welt außerhalb der Höhle geben könnte.
Nun wird ein einzelner von ihnen losgerissen und in die wirkliche Welt hinaufgeschleppt. Es ist für diesen einzelnen überaus schmerzhaft, sich an das Licht der Sonne zu gewöhnen, und es dauert geraume Zeit, bis er den Drang überwunden hat, wieder hinab in die Höhle zu steigen:
Wenn er nun aber an seine erste Behausung zurückdenkt, und an die Weisheit, die dort galt, und an seine damaligen Mitgefangenen, dann wird er sich wohl zu der Veränderung glücklich preisen, und jene bedauern, meinst du nicht?“,
fragt Platons Sokrates, und weiter:
Die Ehren aber, und das Lob, das sie einander dort spendeten, und die Belohnungen für den, der die vorüberziehenden Schatten am schärfsten erkannte (…), glaubst du, er sei auf dieses Lob erpicht und beneide die, die bei jenen dort in Ehre und Macht stehen?
Die Umwendung, die der einzelne vollzieht, der sich aus der Höhle erhebt, wird in der Forschung als Platons Lehre von der metánoia, der Sinnesänderung hin zu höherer Erkenntnis, bezeichnet. Peter Sloterdijk faßt dieses Urprogramm einer „Revolutionswissenschaft“, in folgende Worte:
Die Lehrbefugnis auf diesem Feld wird erworben, indem zuerst ein einzelner Pionier der neuen Sehweise sich aus der Kollektivhöhle den Weg ins Freie bahnt und sich danach – fürs erste unvermeidlich widerwillig, sich selbst überwindend – bereitfindet, wieder zu den falsch Eingestellten im Schattenkino hinunterzusteigen, um auch ihnen den Zugang zu den Befreiungen zu erläutern. (Du mußt dein Leben ändern, 2009).
Auf der ersten „Querdenken“-Demonstration am 1. August in Berlin trat ein Liedermacher auf, der eine Hymne mit folgendem Kehrreim vor der riesigen Zahl der Angereisten intonierte: „Wir sind wieder erwacht, gingen durch dunkle Nacht, wenn der Morgen uns scheint, wir sind wieder vereint, wir sind Kinder des Lichts …“ – das klingt fast amüsant genau nach Platons Höhlengleichnis, es dürfte sich um das Stadium handeln, in welchem der Pionier den Höhlenbewohnern endgültig klargemacht hat, wo der Ausgang liegt und die „All-Konversion“ (Sloterdijk) anscheinend geklappt hat.
Ist nicht aber die Metanoia grundsätzlich wichtig und richtig? Wahrheitserkenntnis bedeutet zunächst, die Dinge so zu erkennen, wie sie wirklich sind. Augustinus sprach von der adaequatio intellectus et rei, der Entsprechung des Verstandes und der Dinge – wenn diese Entsprechung nicht vorliegt, sieht der Mensch die Dinge falsch oder gar nicht, eben wie die Höhlenbewohner, die nur Schatten sehen statt der Dinge selbst.
Allerdings verhält es sich so, daß „die Wahrheit“ als ganze nie erkannt werden kann, sondern immer nur Wahrheitspartikelchen. Platons Pionier wird in die komplette Erkenntnis des Lichts als Ursache aller Schatten eingeweiht. Davon muß er als Mensch überfordert sein, insofern ist er ein Archetyp und eben kein Mensch mehr wie alle anderen.
Der Mensch kann die Wahrheit grundsätzlich nur unvollständig wahrnehmen, die Wahrheit „von etwas“ oder „in Hinblick auf etwas“. Es ist also in relativ kleinen Kontexten möglich, eine Lüge, eine allgemein verbreitete Meinung, Propaganda, Aberglauben und Irrtümer zu korrigieren und das als falsch Erkannte mit der Wahrheit zu kontrastieren. Dies ist die Aufgabe der Wissenschaft in Hinblick auf Hypothesen, der Aufklärung in Hinblick auf Irrtümer, und die Aufgabe der Philosophie in Hinblick auf Begriffe, auch den der Wahrheit.
Die Philosophie weiß seit Platons Sokrates, daß sie nichts weiß, daß also nach dem Verlassen der Höhle, nach dem Durchstoß durch die Blendwand aus Erzählungen, Behauptungen, Lücken und Lügen nicht die Wahrheit offenbar wird. Der Wahrheitssucher wird unablässig weitersuchen müssen und kann sie auf seiner Suche auch gründlich verfehlen.
Wenn eine Internetseite namens wahrheiten.org ihre Leser auffordert, zu Corona, Impfen, 9/11, die BRD, Krebs, Klima, Erdöl und Energie nichts zu „glauben“, sondern alles „selbst zu prüfen“, ist dies ein unmoralisches Angebot. Der Wahrheitssucher wird hier bei seinem authentischen Erkenntnistrieb gepackt (er hat den Pionier gehört, er will raus aus der Mainstreamhöhle!), wird dann aber abgefüttert mit bereits fertig verpackter Wahrheit, die überdies einigen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt.
Außerdem vermittelt sie ein Zugehörigkeitsgefühl: wir truther sind eine Bewegung. Wenn immer mehr Menschen den Ausweg aus der Höhle finden und aus dem Schattenreich aufwachen, wird die Lüge in sich zusammenfallen. Stell dir vor, es gibt die Lüge, und keiner glaubt sie mehr!
Aufwachen, das „große Aufwachen“ (The Great Awakening), ist das Metanoia-Versprechen der sogenannten „Q‑Bewegung“: es gibt einen Erkennenden, der die Machenschaften des globalen deep states und der Eliten kennt, der nach und nach tröpfchenweise die Menschen einweiht, bis alle erwachen. Dieses Phänomen hat Züge des New-Age-Spiritualismus und US-amerikanischer protestantischer Erweckungsbewegungen. Unentscheidbar ist, ob die große Hoffnung der Q‑Anhänger auf Präsident Trump (als seinerseits Eingeweihten in den Plan von „Q“ zum Sturm auf die globale Elite) ein geschicktes Elitenmanöver zur Sonderung und Markierung politischer Gegner ist.
In einem solchen Video, um nur ein kurzes und deutschsprachiges Beispiel herauszukramen, und Kommentaren darunter wie „Es wird Zeit, dass wir endlich die ganze Wahrheit erfahren“ und „Auf in die neue souveräne Zeit. Wir sind das Volk!“, bündelt sich ein Betrug am Wahrheitssucher. Es ist sogar besonders leicht möglich, Wahrheitssucher zu betrügen.
Der erste (recht simple, aber immer wieder erfolgreiche) Trick ist der Fehlschluß aus dem Gegenteil. Den zweiten (wesentlich tiefergehenden) Trick hat der Kulturwissenschaftler Boris Groys die „Verwaltung der Metanoia“ genannt. Den dritten Trick nenne ich den Fehlschluß aus dem Kollektiv, den verführerischsten der drei. Wie ich sie erkenne? Ich schaue auf ihre Funktion und die entsprechenden Ergebnisse. Frei von ihnen bin ich beileibe nicht.
(1) Der Fehlschluß aus dem Gegenteil liegt dann vor, wenn aus dem Grunde, daß etwas falsch ist, das Gegenteil wahr sein soll (disjunktiver Fehlschluß). Das Gegenteil der Lüge wäre also die Wahrheit, oder: wenn wir die Lüge durchschaut haben, erkennen wir die Wahrheit. Wir haben es gegenwärtig mit zwei einander ausschließenden Narrativen bezüglich „Corona“ zu tun: die gefährliche Virus-Pandemie vs. die gefährliche Eliten-Plandemie.
Eine kluge YouTuberin stellte die Frage, welchem Narrativ man glauben soll: Who do you trust?. Die eine Seite schlägt finanziellen Profit aus ihrem Narrativ, hat die politische Macht zur globalen Durchsetzung und bedient sich dazu einer euphemistischen Sprache – ein klarer Fall von Lüge. Die andere Seite wird medial mundtot gemacht, riskiert ihre soziale Existenz, recherchiert die von der anderen Seite verschwiegenen Hintergründe und Alternativtheorien – ein klarer Fall von Wahrheit.
Doch so einfach ist es nicht. Bill Gates als den, der er ist, zu entlarven, reicht nicht aus. Die Exosomentheorie ist nicht deshalb wahr, weil die Virentheorie falsch ist. Für den Wahrheitssucher im Internet liegt die Abkürzung, wegen Lügenhaftigkeit des Mainstreamnarrativs das gerade Gegenteil zu glauben, nahe. Er kommt wohl auch kaum darum herum, meistens diese Abkürzung zu nehmen, weil ihm schlicht die Zeit fehlt. Er muß sich allerdings zumindest dessen bewußt sein, daß er einem disjunktiven Fehlschluß erlegen sein könnte, wenn er dies oder jenes Kritische für wahr hält. Indes könnte es – sogar recht wahrscheinlich – sein, daß es tatsächlich wahr ist, nur nicht aus dem angenommenen Grund.
(2) Metanoia ist ihrer Anlage nach die Umkehr der Erkenntnis weg vom alltäglichen Meinen und Fürwahrhalten hin zu höherer Erkenntnis. Sie ist also, wie wir bereits sahen, die Grundbewegung des Philosophierens und der Wissenschaft. Es geht um das Hintersichlassen und Überwinden der Alltagserkenntnis, des normalen Wahrnehmens, hin zu einer höherwertigen Wahrnehmung. Dies funktioniert auf dem gegenwärtigen politischen Tableau “von links” und “von rechts”. Der Germanist Michael Esders schreibt in seinem kürzlich erschienenen Buch Sprachregime über die Macht der linken Ideologie, die uns die Wahrnehmung ausreden will zugunsten einer besseren, abstrakten, verordneten Wahrnehmung. Man darf mit dem Augenscheinlichen nicht mehr rechnen (Geschlechtern, Gesundheit, Rassen oder Klima), sondern hat sich vom Konkreten abzuwenden zugunsten „wissenschaftlicher Erkenntnisse“. Esders bezieht sich auf Boris Groys’ These von der “Verwaltung der Metanoia” im Sowjetkommunismus: ein politisches Regime schreibt seinen Untertanen eine „wissenschaftliche Ideologie“ vor, durch die allein sie zu wahrer Erkenntnis gelangen.
Nun stehen – siehe Trick (1) – nicht alle in der Wahrheit, die linke Verwaltung der Metanoia erkennen. Die Vorstellung vom „Durchschauen der Zusammenhänge“, „mündigen Bürger“ und „Überwinden der Ideologie“, die heute sowohl eben auch uns Rechte und die Wahrheitsbewegung antreibt, hat ihre marxistischen Ursprünge. Metanoia ist eigentlich die mühsame Leistung des Wahrheitssuchers selbst. Man kann sie niemandem abnehmen. Wird sie ihm philosophisch verordnet und – als Verlängerung dessen – politisch verwaltet, und zwar egal aus welcher Richtung, verfehlt sie die Wahrheit mit ziemlicher Sicherheit.
(3) Nun mitten hinein in die Berliner Demonstration. Der gemeinsame Nenner der vielen dort Versammelten ist: „Wir glauben euch die Lügen nicht!“. In Mit Linken leben hatten Lichtmesz und ich als ein Kriterium zur Unterscheidung von Linken und Rechten „Vertrauen oder Mißtrauen in die Massenmedien“ genannt, und Populismus unter anderem über die Formel „“Wir hier unten – ihr da oben“ definiert. Offensichtlich haben wir Rechten diese Kriterien nicht mehr für uns allein.
Es handelt sich bei der „Querdenken“-Demonstration am 29. August (Motto: Celebrating Freedom and Peace) um eine Feier gemeinschaftlicher Metanoia. Die Q‑Bewegung, deren erkennbare Anhänger in Berlin (jedenfalls am 1.8.) nur einen kleinen Teil der Teilnehmer bilden, sammelt sie unter dem Slogan„Where we go one, we go all“.
Mir stellt sich angesichts der Demonstrationen gegen die Lüge die Frage: ist kollektive Metanoia möglich? Wenn ich zurückgehe zu Platons Gleichnis, finde ich den einzelnen, der nach der Erfahrung seiner eigenen Wahrheitsschau bestrebt ist, auch seine ehemaligen Mitgefangenen hinaufzuführen. Diese würden ihn jedoch „wohl umbringen, wenn sie nur seiner habhaft werden und ihn töten könnten“, bemerkt Platon. Diese Reaktion ist von den Mainstreamgläubigen, den in der Lüge Gefangenen, erwartbar, der unverantwortliche „Covidiot“, der superspreader und Nestbeschmutzer, gehört sozial getilgt.
Doch wie verhalten sich eigentlich die Erwachten? Die Antwort lautet: Im Höhlengleichnis kommt überhaupt keine erwachte Gruppe vor. Die Gruppe hockt vor den Schatten, der einzelne entzieht sich ihr unter Qualen. Ein Kollektiv hat keine Wahrnehmungsorgane für die Wahrheit. Ist also jeder Demoteilnehmer allein den Weg des Verrats an der Gruppe gegangen, um nun in einer neuen Gruppe aufzugehen? Der Fehlschluß aus dem Kollektiv lautet: je mehr Erwachte wir sind, desto mehr nimmt die Lüge ab, desto schneller implodiert das Narrativ der Eliten. Metanoiker lassen sich aber nicht addieren.
Die größte Gefahr besteht aber nicht in der Tendenz des Kollektivs, die Person zu unterdrücken, sondern in der Tendenz der Person, sich in das Kollektiv zu stürzen und in ihm unterzutauchen. Oder vielleicht ist die erste Gefahr nur der scheinbare und trügerische Aspekt der zweiten. (Simone Weil, Die Person und das Heilige, 1943)
Durch die in Zeiten der Lüge wachsende Sehnsucht nach der Wahrheit ist jeder Mensch verführbar, diese erzwingen zu wollen: es einfach nicht länger auszuhalten in der Coronadiktatur, die mit einem Handstreich weggewischt wäre, würden nur alle plötzlich ihre Masken herunterreißen. Solche Suggestion, von der Bühne in einer Rede an die Massen gerichtet, wirkt gewaltig. Nur wirkt sie gegen und nicht zugunsten der Person, auf die allein es bei der Wahrheitserkenntnis ankommt.
Was wäre ratsam? Der Begriff metánoia findet sich bei Platon selbst nicht, im Höhlengleichnis heißt die “Umkehr” der Seele periagogé. Seit Heideggers Schrift “Platons Lehre von der Wahrheit” (1930), bringen viele Autoren Platons Lehre mit diesem Schlagwort auf den Punkt. Seine große Bedeutung entfaltet der Begriff metánoia erst in der christlichen Theologie und bedeutet dort explizit “Buße, Reue”. Das Bindeglied ist die Selbstüberwindung. Der einzelne muß sich selbst überwinden, und zwar zweimal: einmal um überhaupt das gleißende Licht ertragen zu können, und danach, um wieder hinabzusteigen ins Dunkel.
Die Erkenntnis ist schmerzhaft, und das Ertragen der Unwissenden nicht minder, „for ye suffer fools gladly, seeing ye yourselves are wise“ heißt es in der King-James-Bibel (2 Kor 11,19), die aus traditioneller Sicht als Maßstab gelten kann. Das Schmerzhafte an der Wahrheitssuche ist ihre Unendlichkeit (immer nur vorläufige Partikel, nie die ganze Wahrheit zu finden), das Sich-Versagen von Tröstungen im Abstrakten (alles theoretisch durchschaut zu haben) und im Kollektiven (in der sich erhebenden Masse der „Bewegung“).
Die Berliner Demonstrationen sind ausschließlich wichtig für diejenigen, die daran teilnehmen oder sie aus der Ferne anschauen und dadurch zu eigener Weiterentwicklung angeregt werden, nicht für die Revolution oder auch bloß die Änderung der politischen Gewichtsverhältnisse. Es wäre also ratsam, wenn man nach Berlin fährt, sich alle emotionale Mitgerissenheit zu versagen und alle Hoffnung auf die Umkehrung des Systems.
Es wäre ratsam, die Masse aufmerksam zu beobachten und diese Eindrücke als Anlässe zur eigenen Umkehrung zu nehmen. Seltene und einsame Gestalten sind Wahrheitssucher, die nicht leicht zu betrügen sind.
Der_Juergen
Hervorragender Artikel, der gerade durch seine Nüchternheit besticht. Jürgen Elsässer - den ich sehr schätze und an dessen Aufrichtigkeit für mich kein Zweifel besteht - schreibt, der 29. August werde das wichtigste Datum der deutschen Geschichte seit 1945 sein. Da wäre mehr Zurückhaltung am Platz gewesen, denn wenn die Demo schiefgeht, wird die Enttäuschung um so grösser sein. Natürlich führe ich, besässe ich die Möglichkeit dazu, auch nach Berlin, denn das Regime steht bereits unter starkem Druck, und jede Demonstration wird diesen erhöhen.