30. August 2020, 18:48 Uhr, keine Revolution in Berlin.
Allmählich geht das große Demonstrationswochenende in Berlin seinem Ende entgegen, am Nachmittag wurde es noch einmal kurz dynamisch, nun scheint der Regen auch die Hartnäckigsten allmählich zurück nach Hause zu treiben.
Was ich im Vorfeld erwartet hatte, das war eine Art Schneeballeffekt selbsterfüllender Prophezeiungen: Von den teilweise utopisch hoch angekündigten Teilnehmerzahlen, über diverse Vertragsunterzeichnungs-Divinationen bis hin zum bereits aufflackernden Wimmelbild eines „Sturms auf Berlin“ – geisterten ja allerhand urbane Märchen durch das Netz.
Das waren heiße Stories, die für unsereins unglaubhaft sind, aber offenbar als Erzählung doch eine nicht zu unterschätzende Mobilisierungsmacht entfalten konnten. Es steht jedenfalls fest: Viele waren da.
Ich übrigens nicht, nur, damit hier niemand einen falschen Eindruck hat. Ich gebe aber freimütig zu, doch gelegentlich in die Liveübertragungen gelinst zu haben und auch eine brave Bilderschau im Nachgang vorgenommen zu haben, um mir einen ungefähren Überblick zu verschaffen.
Aus der Ferne betrachtet lag an diesem Wochenende viel Aufgewärmtes und Nachgeholtes in der Luft: Als hätte man versucht, die großen linken Happenings der Umweltbewegung mit jenen Dresdner Gedenkmärschen der Zweitausender Jahre zu verquirlen. Dazu allerlei exotisches Gewürz aus allen nur erdenklichen Ecken der Konspiration.
Wenn man so drüberschaut, ist da wirklich ein herrliches Chaos zusammengekocht worden. Darüber kann man zwar angewidert die Nase rümpfen, sollte man aber meiner Meinung nach nicht. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich plädiere nicht für jene dionysische Begeisterungsfähigkeit, die in vielen so lüstern von der Revolution raunt, sobald eine Polizeikette durchflossen wurde. Gleichzeitig lehne ich aber auch jenes hochnäsiges Belächeln aus dem Elfenbeinturm ab, welches mancher so gern auf die Sonnenverehrer und Querdenker niederscheinen lässt.
Vielmehr empfehle ich, sich einstweilen erstmal an der bunten Unordnung zu freuen und ein weiteres verrücktes Foto einzukleben in das Album dieses absurden Jahres. Ich spreche mich aus für ein herzliches „Ja“ zu der Tatsache, dass manche Zeiten einfach irre sind und sich in so gar keine Form finden; oder wenigstens noch nicht in eine, die wir irgendwie zu erkennen in der Lage sind.
An solchen Sonntagen bin ich eigentlich ganz glücklich darüber, dass ich mit meiner Kolumne hier zuvorderst zu unterhalten und weniger zu analysieren habe. Ich darf mich also ganz ungeniert erfreuen an den strahlenden Augen der Traumtänzer, am siegessicheren Lachen der Fahnenträger, als sie die Treppe zum Reichstag erklimmen, am übernächtigten Ernst der Organisatoren und ihrer „verfassungsgebenden Versammlung“ und natürlich am hermetischen Schwarz der Polizeihelme, vor dessen Hintergrund die wirren Farben dieses Widerstandstrips erst richtig zu leuchten beginnen.
Und irgendwie komme ich nicht umhin, ein besonders großes Herz zu haben für die drei Polizisten, die man in den Videos vor den Türen des Reichstags stehen sieht. Angenommen es handelt sich dabei um Männer, die ihren Dienst wirklich mit Herzblut versehen, die einen aufrichtigen Glauben an Bundesrepublik, Grundgesetz usw. usf. haben; kann es da eine größere Erfüllung geben, als plötzlich jenem feuchten schwarz-weiß-roten Flaggentraum aller aufrechten Demokraten mit kreiselndem Knüppel die Stirn zu bieten?
Wirklich: Die späte BRD ist manchmal wie die Weimarer Republik, nur in komisch.
RMH
Die Berliner Demo von gestern war von der Anzahl der Teilnehmer her betrachtet sicher das politische Großereignis des ausgehenden Sommers 2020 in Deutschland. Die Berichterstattung der MSM konzentriert nun sich im Wesentlichen auf den Narrensaum der Teilnehmer, die vor der russischen Botschaft waren und vor allem diejenigen, die unter vielen anderen Flaggen (was gerne unterschlagene wird), auch solche des ausgehenden deutschen Kaiserreiches auf die Treppen des Reichstages brachten. Dort hätte man eigentlich nur die schusssicheren Eingangstüren schließen müssen und keine Handvoll Polizisten hätten Faxen machen müssen - aber für die schönen Bilder ... und es lenkt ja so schön von den eigentlichen Inhalten der Demo ab.
Leider schwenkt auch der erste Beitrag auf SiN nun genau auf dieses (bestellte? Oder zugelassene?) Randdetail einer überwiegend friedlichen Demonstration (hatte Freunde vor Ort, die mir berichteten. Es war wohl tatsächlich ein Fest für Frieden und Freiheit). Nun gut, auch ich muss mir erst einmal die gehaltenen Reden auf youtube nachträglich ansehen, aber ich hätte mir statt dieses im Einklang mit den MSM an der plakativen Oberfläche bleibenden Beitrages eine inhaltliche Auseinandersetzung seitens SiN erhofft - bspw. zur Rede von R. F. Kennedy jr (wie geschrieben, muss auch ich erst einmal mir anhören). Aber evtl. kommt da ja noch was in den nächsten Tagen.