Egon Friedell hat genau diesen Zeichen nachgespürt und dafür in seiner 1927 erschienenen „Kulturgeschichte der Neuzeit“ Ausdrücke gefunden. „Corona“ paßt zu einer Gegenwart, die den Tod nicht als zum Leben gehörig akzeptieren kann und ihn in pathologischer Angst zu verdrängen trachtet.
Gerade noch ging es um Selbstoptimierung, Effizienz, algorithmisch bestimmte Taktung der Arbeit. Die Lebenswelt wurde entkeimt, die Natur kraft perfektionierter Technologie ausgebeutet und verschlissen, alle Welt informationstechnisch eingescannt und gerastert, Ressourcen in Containereinheiten umgerechnet und zur Verbrauchsmasse geschrumpft.
Das Natürliche hatte gegenüber dem Künstlichen vollends verloren. Nicht nur waren seit den Siebzigern Dreiviertel aller Tierarten vernichtet, es waren überhaupt Umwelt und Landschaft industriell und landwirtschaftlich so auf- und ausgeräumt worden, daß daraus zwar gigantische Wertschöpfungen erfolgen konnten, allerdings mephistophelisch um den Preis der Erschöpfung des Lebens.
Selbst die Architektur kannte nur noch ein Ziel: Sterilität der Wohn- und Lebensverhältnisse. Fast verwundert es, daß noch Erdbestattungen statthaft sind und nicht selbst der tote Leib keimfrei entsorgt werden muß. Überhaupt: „Entsorgung“ ist gleichfalls ein beredter Ausdruck unserer Zeit.
Pest, Cholera, Pocken, Typhus – längst besiegt. Ab und an ein Ausbruch von Killerviren, aber sehr fern und exotisch, Ebola‑, Dengue- und Marburg-Viren, ganz spannend für Nachrichten und tolles Ideenmaterial für Katastrophenfilme, aber noch weit, weit weg und ungefährlich für den modernen „urbanen“ Menschen, der seine Nahrung aus Plastefolie zieht und gesundheitsamtlich geprüftes Wasser sogar für die Klospülung benutzt. Selbst AIDS, immerhin ein echter Jahrhundertschreck und die sexuelle Freifahrt gefährdend, konnte mit Medikamente niedergerungen werden.
Und doch lag etwas in der Luft, so scheint es. Die Hybris des menschlichen Verbrauchens der eigenen Lebensgrundlagen bedingte zum einen zwar kritisches Umweltbewußtsein, dies aber führte halbbewußt zu der Ahnung, den globalen Verlust allen Maßes letztlich doch nicht mehr ausgleichen zu können, zumal die Menschen sich selbst „viral“ vermehrten und die Biosphäre okkupierten.
Man wünschte sich Änderung, ja, man rief aufklärerisch nach Erziehung, klar, konnte die gewonnene Einsicht aber individuell nicht mit den Konsequenzen verbinden, die man lautstark von jeweils anderen erwartete. Selbst die allergrünsten Bekenner blieben doch Geschöpfe des weltweiten Marktes, sind touristisch mit gewaltigen ökologischen Fußabdrücken unterwegs und wollen von ihrem hippen Hedonismus nicht lassen.
Den Menschen mag allerlei zu vermitteln sein, nicht aber das Einzige, was Rettung verhieße – Maß und Verzicht. Abgesehen davon, daß dies der Marktlogik widerspricht.
Wirken unbewußt doch alte Mythen von Schuld und Verworfenheit weiter, die Sehnsucht nach einer Erlösung, die es mindestens hienieden nicht geben wird? Die Religionen kündeten davon, alle. Die säkularisierte Gesellschaft aber setzte die gefährliche Illusion allumfassender Machbarkeit dagegen; alles schien möglich, zumal der Mensch ja vernünftig wäre und ihm Würde zukäme. Alle Widrigkeiten waren offenbar zu besiegen. Außer der Tod. Als er sich mit dem Wuhan-Virus wieder eindrucksvoll zeigte, regierte alle Welt hysterisch und rief nach Medizin und Pharmazie. Die Technik sollte es richten; sie richtete doch alles!
Woher aber bereits lange vorher diese neue Empfindsamkeit, die Vorliebe für endzeitliche, apokalyptische und dystopische Stoffe? Woher der innere Utopieverlust? Selbst Science-Fiction-Epen, früher so optimistisch und fortschrittsfixiert, gerieten nur noch düster, ebenso die Computer-Games, vor denen der Nachwuchs verblödete.
Selbstverständlich will man Krankheiten heilen. Aber es erscheint würdelos, eine natürliche Erkrankung mehr, eine normale Infektionswelle durch ein neues Virus nicht als Tatsache hinnehmen zu können. Was für eine Panik! Vermutlich werden tatsächlich noch eigens Lüftungs- und Filtersysteme installiert, nachdem wir einander schon lange nicht mehr berühren und uns nur noch mit den Augen begegnen.
Für die Politik sind das famose Zeiten. Sie nutzt die „Pandemie“ für ihren Wir-tun-was-Gestus. Eine Idee nach der anderen, ein Heilsversprechen nachdrücklicher als das vorige. Zudem kann endlich durchadministriert werden: Vorschriften, Verbote und eingeschränkte Erlaubnisse, Durchführungsbestimmungen und Verordnungen, Limitierungen, Belehrungen, Gesetze, Listen, Quarantänen, Selektionen. Das alles mag da und dort helfen.
Das Virus und seine Mutationen kann es ebensowenig besiegen wie den Tod. Glücklicherweise, möchte man denken.
Ein gebuertiger Hesse
Gute und wichtige Gedanken, die aber angesichts einer Epidemie, die es gar nicht gibt, ein wenig freischweben.