Wo die Sprache schwindet, degeneriert mit dem Ausdrucksvermögen das Denken. Seine Diversität verarmt – so sehr, daß das negativ auf Wahrnehmungsvermögen und Sensibilität zurückwirkt.
Beinahe zwanzig Prozent aller Viertkläßler können gemäß Iglu-Studie nicht so lesen, daß sie den Text bei der Lektüre verstehen; folgerichtig weist nach Pisa-Erhebung ein noch etwas größerer Teil der Fünfzehnjährigen, einundzwanzig Prozent, nur ein geringes Textverständnis nach, während das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) – hier die Aufgaben – genau dies schon für dreiundzwanzig Prozent der Neunkläßler konstatieren muß.
Weiter mit Zahlen: Sechsundsechzig Prozent der Viertkläßler, immerhin noch zwei Drittel, erreichen beim Lesen gerade so Regelstandard, im Orthographischen sind es nur noch vierundfünfzig Prozent; „Optimalstandard“ erfüllen indessen beim Lesen und Zuhören nur zehn Prozent, im Rechtschreiblichen nurmehr knapp neun Prozent.
Untersuchungen offenbaren, daß der Wortschatz der Kinder stetig abnimmt. Darauf wies u. a. Simone Fleischmann hin, die Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes. Sie beklagt insbesondere die fehlende Sprachgewandtheit der Kinder.
Letztlich: Wie die Leo-Studie zeigt, müssen mehr als sechs Millionen Deutsche als funktionale Analphabeten gelten; zweiundfünfzig Prozent dieser Gruppe sind Muttersprachler und haben die Schule durchlaufen. Etwas mehr, 6,2 Millionen zwischen fünfzehn und vierundsechzig Jahren, gelten als „gering literarisiert“; zwanzig Prozent der Altersgruppen können nur immens fehlerhaft schreiben.
Die benannten Studien konstatieren also basale sprachliche Defizite, wie es sie in Deutschland noch niemals gegeben hat. Schon das geschmähte Schulwesen des deutschen Kaiserreiches hatte nahezu alle Heranwachsenden zu alphabetisieren verstanden. Das gilt übrigens aus besonderen Gründen ebenso für die DDR, deren Deutsch-Lehrpläne im Muttersprachlichen wie Literarischen zwar ideologisch überfrachtet, aber didaktisch und methodisch durchdacht aufgebaut waren und enormen Wert auf sehr gute Rechtschreibung und Grammatik legten. Man verfuhr ganz rigoros: Bei strengsten Fehlerquoten durfte die Gesamtnoten in den Prüfungsaufsätzen nur eine Note besser sein als die Zensur für Rechtschreibung und Grammatik
Heute haben sich die meisten der gering literarisierten Menschen und die Millionen funktionalen Analphabeten mit ihrem Handicap abgefunden und lassen kaum den Impetus erkennen, es zu überwinden. Eine teure Alphabetisierungskampagne von Bund und Ländern, die „Alpha-Dekade“, stellte zwar hundertachtzig Millionen Euro bereit, erreichte aber nach eigener Einschätzung zu wenig, insofern lediglich 0,7 Prozent der gering literarisierten Bürger Bildungsangebote zur Alphabetisierung in Anspruch nahmen.
Die Verantwortlichen der Alpha-Dekade suchen die Gründe des Desasters nun kniefällig bei sich selbst. Das geschieht so auch im Schulischen. Schuld sind die Lehrer, die sich bemühen, während Eltern und Schüler gänzlich aus der Verantwortung entlassen werden. Man müsse vielmehr präventiv ansetzen, die Kita sollte mehr leisten, man sollte Kinder im frühen Alter professionell bei der Sprachentwicklung begleiten. Es wäre also bitte noch mehr Geld zu investieren und vorschulische Förderung müsse verbindlicher Teil der Erzieherausbildung werden. Von Pflichten, die der Kultur der Elternhäuser obliegen, ist nirgendwo die Rede; staatliche Institutionen sind gefordert – und handhaben dabei Entscheidendes sehr fragwürdig.
Von der Bedeutung der Schule und des einstigen Kernfaches Deutsch ist in Resümees zur Alpha-Dekade durchaus die Rede, aber lediglich pauschal. Es solle gezielt gefördert werden, so wie ja in Zeiten allumfassender Inklusion immer gefördert wird. Credo: Man müsse alle Unwilligen und Minderleister dort abholen, wo sie stehen. Bewegen bräuchten sie sich selbst also nicht.
Selbstverständlich haben die “neuen Medien” direkte neurologische Auswirkungen auf die Heranwachsenden, insofern es sogar reifen Erwachsenen schwerfällt, eine Resilienz gegenüber der von all den Screens ausgelösten Reizüberflutung zu entwickeln. Aber klarzustellen bleibt: Die Zahl der Analphabeten und „Geringliterarisierten“ wächst in Deutschland nicht trotz, sondern gerade wegen der Schule.
Das Fach Deutsch wurde von den Kultusbürokraten und „Bildungsforschern“ über Jahrzehnte hinweg immer weiter degradiert. Eine systematische, also konsequent morphologisch, lexikologisch, syntaktisch und stilistisch aufbauende Ausbildung in der Muttersprache gibt es nicht mehr. Lesebücher sind weitgehend abgeschafft, Rechtschreibung und Grammatik werden „integral“ oder dann und wann in gesonderten Stoffeinheiten unterrichtet, also beispielsweise mal die Schreibung von Wortstämmen, dann wieder ein paar Kommaregeln, schließlich irgendwas zum Themenbereich des Ausdrucks, manches auch gar nicht. Ein literarischer Kanon existiert nicht, es gibt lediglich zweifelhafte Empfehlungen.
Die Rahmenrichtlinien schreiben das Pensum recht ungenau vor, die Einhaltung des veranschlagten Minimums kontrolliert niemand; schulinterne Rahmenpläne sind oft völlig improvisiert und lückenhaft angelegt und verschwinden meist in der Ablage. Wie in anderen Fächern reicht es aus, wenn irgendwas gemacht wird. Vielfach wird übers Jahr an nichtgymnasialen Schulen nicht eine einzige literarische Ganzschrift gelesen.
Für das Schreiben gilt mehr oder weniger: Richtig ist, was verstanden wird. Zumal es Fehlerquoten in den Prüfungen längst nicht mehr gibt. Die Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz treffen für die allgemeine Hochschulreife im Fach Deutsch zum Elementarsprachlichen keinerlei klare Aussagen und fordern in einem randständigen Unterpunkt lediglich die „Erfüllung standardsprachlicher Norm“. Im schriftlichen Deutsch-Abitur konnten in Mecklenburg-Vorpommern für agrammatische Prüfungsaufsätze, in denen das Verständnis gravierender elementarsprachlicher Mängel wegen entscheidend erschwert ist, lediglich zwei Notenpunkte abgezogen werden.
Was man hingegen in den Prüfungsanforderungen zur Interpretation oder zur Analyse von Texten liest, klingt wie die Handreichung zu einem germanistischen Oberseminar, während regelkonformes Schreiben als Forderung nirgendwo auch nur Erwähnung findet. Folgerichtig beklagen Professoren mangelnde Studierfähigkeit, ganz im Gegensatz zu dem, was sich laut KMK-Maßgaben schon mit dem Abitur längst erreicht und gesichert finden müßte.
Während in den KMK-Bildungsstandards also bereits für das Abitur alles an „Kompetenzen“ versprochen wird, was sich ein qualifizierter Akademiker nur für sich selbst wünschen könnte, sehen sich die Universitäten gezwungen, Sonderkurse einzurichten, um fehlende Kenntnisse in grundlegenden Kulturtechniken wie Lesen und Schreiben spät nachzubessern, was aus entwicklungs- und lernpsychologischer Sicht so verspätet den etwa Zwanzigjährigen schwerfallen dürfte. Der bildungspolitisch hochgerüstet herkommende Begriff der „Kompetenzen“ bzw. „Kernkompetenzen“ muß direkt als Ausdruck für Kompetenzvermeidung gelesen werden, mindestens was das richtige und stilbewußte Schreiben und das verstehende Lesen angeht.
Was wäre hilfreich? Mehr Redlichkeit! Durchaus im Sinne einer Reduktion: Weniger pseudoakademisches Gedöns, mit dem versprochen wird, was schon seit Jahrzehnten nicht gehalten werden kann, weniger Euphemismen, weniger Ventilation von politisch suggerierten Wunschausdrücken, sondern die Besinnung darauf, daß das Erlernen der Muttersprache einfach viel lautes, stilles und verstehendes Lesen erfordert, so wie das Schreibenlernen eben einer systematischen Ausbildung und des begleitenden Übens und Wiederholens bedarf.
Man kann dem durchaus moderne Gestalt geben, indem beispielsweise rechtschreibsichere und grammatisch richtige Sprache für Mails und Chats vermittelt wird und man regelkonformes und ausdrucksstarkes Schreiben mit Blick auf Beiträge und Kommentare in sozialen Medien übt.
Laurenz
Werter HB, wieder erlebe ich Ihren Artikel als persönlichen Erfahrungsbericht, den Sie mit Zuhilfenahme von Studien ausweiten. Über Ihren Standpunkt gibt es aus meiner Sicht auch so gut wie nichts zu debattieren. Es wird genau so sein, wie Sie schreiben.
Ich hatte mir das auch nicht vorstellen können, habe aber auch in den letzten Jahren aus meiner Altersgruppe Deutsche kennengelernt, die nicht wirklich akzeptabel schreiben können.
Mir geht es wie allen: Da jeder tippt, kann ich auch nicht mehr wirklich gut mit der Hand schreiben. Das Tippen, mit der Eile, die fast jedem auferlegt ist, führt zu einer Verkürzung der Sprache. Auch der Hang, Epost zu schreiben, anstatt zu telefonieren, macht die Sache nicht besser. Die Tendenz, unsere Sprache immer weiter zu anglisieren, ist auch nicht dienlich. In Britannien wurde die Schulpflicht sehr spät eingeführt, und die vor allem militärische Notwenigkeit, Befehle in eine für Ungebildete verständliche Form zu packen, hat der primitivsten Sprache Europas nicht gut getan. Von Anglophilen wird gerne der ca. 26.000 Wörter umfassende Wortschatz Shakespeares angeführt. Hierbei wird aber gerne vergessen, daß Shakespeares Wortschatz aus 5 oder 6 europäischen Sprachen stammte.