Denn in der US-Politik herrscht bezüglich eines »Decoupling«, einer Abkopplung Chinas respektive einer sukzessiven internationalen Isolation, seltene Einigkeit. Von Stephen Bannon, dem greisenhaften Schreckgespenst vieler Linksliberaler, bis zu den demokratischen Interventionisten – Chinapolitik heißt in den derzeitigen Vereinigten Staaten Konfrontationspolitik. Und so gilt für beide Präsidentschaftskandidaten, was der amtierende US-Außenminister Michael Pompeo als Stoßrichtung kundtat: »Die freie Welt muß über diese neue Tyrannei triumphieren.«
Nun gilt seit über einhundert Jahren die Devise, daß man sich in höchste Alarmbereitschaft versetzen sollte, wenn seitens des Imperiums ein bestimmter Staat als »Tyrannei« denunziert und an die Entschlossenheit einer sogenannten freien Welt appelliert wird. China wird, als geschichtspolitisch bewanderte Nation, entsprechende propagandistische Zurüstung einordnen können. Für Deutschland und Europa gilt es diesbezüglich Wachsamkeit an den Tag zu legen, sich nicht – erneut – in transatlantischer Nibelungentreue auf die falsche Seite im Rahmen eines geopolitischen und geoökonomischen Ringens zu schlagen.
Daß just diese Konstellation denkbar ist, liegt – neben vielen politischen Faktoren – auch an der anhaltenden Delegitimierung des chinesischen Sonderwegs in den meinungsprägenden deutschen Medien. Eine Ausnahme stellt nun die Streitschrift des Bremer Volkswirtschaftlers Wolfram Elsner dar. Das chinesische Jahrhundert ist das fundierte, kämpferische Gegenstück zu Kai Strittmatters China-Verdammung Die Neuerfindung der Diktatur (vgl. Sezession 88):
Fundiert, weil der China-Kenner Elsner Fakten, Daten, Fallbeispiele und Trends zusammenträgt, die ein in deutscher Sach- und Fachliteratur beispielloses Panorama der gegenwärtigen (und künftigen) VR ergeben. Kämpferisch, weil Elsner mit seinen eigenen Standpunkten offensiv umgeht.
Er läßt es sich anmerken, daß er genug hat von der »linksliberalen deutschen Intelligentsia mit ihrem Werteabsolutismus«, von moralpolitischen Exzessen und China-Bashing. Chinas Weg sei mit unseren altväterisch wirkenden wie neoliberal ausstaffierten Schubladen nicht zu begreifen, denn dort entstünde »etwas völlig Neues im Verhältnis von Staat und Markt«.
Gewiß: Auf das sprachliche Changieren zwischen Kampfschrift und akademischer Erörterung muß man sich einlassen können, und daß Elsner die bizarre Gendersternschreibweise praktiziert, kann allenfalls mit restlinken Anwandlungen entschuldigt werden.
Ungeachtet dieser Einwände gelingt es ihm bemerkenswert, Wissen zu vermitteln: Ob Energiepolitik oder ökologische Problemstellungen, soziale Verhältnisse oder ökonomische Prozesse, Industriepolitik oder Finanzsystem, Bankenstruktur oder technologische Innovationen – das ist ein China-Reader am Puls der Zeit. Beeindruckt zeigt er sich insbesondere von der Mixtur verschiedenster Eigentums- und Unternehmensformen (von Staatsbetrieben über den wachsenden Mittelstand bis zu Kleinunternehmen), die sich ergänzen und zu produktivem Wettbewerb führen.
Individuelle Wirtschaftstätigkeit sehe sich dabei gefördert, Unternehmer erhalten jene Unterstützung, die sie benötigen, und bereits über eine Million (Dollar-)Millionäre in der Volksrepublik zeigen, daß private Reichtumsbildung möglich ist. Was indes nicht zur Disposition stehe, sei das Primat der Politik.
Dieses sehe unter anderem vor, daß Unternehmer zwar individuell reich werden können, aus den Profiten aber konstant und überdies situativ Abgaben für die flächendeckende Gewährung von Gemeinschaftsgütern darbringen müssen. Elsner nennt dies die Effizienz garantierende »Sozialisierung von Profitanteilen«, die ebensowenig unterminiert werden dürfe wie Interessen von Volk und Nation an sich, welche – und diesen Prozeß relativiert Elsner ein wenig – durch die Kommunistische Partei artikuliert werden.
Die chinesischen Kapitalisten seien somit politisch enteignet, nicht aber ökonomisch; zudem müssen sie in ihrem Wirtschaftsbetrieb hohe Lohnsteigerungen ebenso akzeptieren wie wachsende Sozialversicherungsleistungen, Verbesserungen der Arbeitsbedingungen und staatlich angewiesene Änderungen in der Produktion.
Der Markt sei für Chinas Regierung »das Instrument der Produktivkraftentwicklung im Interesse einer langfristigen nationalen und sozialen Entwicklung«, nie aber »Selbstzweck«, denn: »Staat und Gesellschaft haben sich nicht dem Markt anzupassen, sondern umgekehrt.«
Elsner wischt in diesem Sinne schlagfertig das Gros gängiger China-»Narrative« beiseite: weder Kapitalismus noch Kommunismus, weder »StaMoKap« noch »konservativer nationaler Sozialismus« (Peter Kuntze). Es dominiere eine »systemische Vielfalt und Komplexität«, die jede apodiktische Kategorisierung unmöglich mache, wobei Elsner abschließend den Terminus »marktwirtschaftlicher Sozialismus« als mögliche Annäherung zu akzeptieren bereit ist.
Welchen Namen man dieser illiberalen, souveränistischen und im besten Sinne politischen Einhegung des Kapitals auch geben möge – entscheidend ist, daß Deutschland und Europa mit dem chinesischen Weg nicht kollidieren müssen.
Es sei denn, man stilisiert sich einmal mehr als Appendix der »freien Welt« und ihres Zentrums.
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Das chinesische Jahrhundert von Wolfram Elsner kann man hier bestellen.
Wolfram Elsner: Das chinesische Jahrhundert. Die neue Nummer eins ist anders, Frankfurt a. M.: Westend Verlag 2020. 384 S., 24 €