Gut – Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt, Stuttgart: Klett-Cotta 2020, 213 S., 20 €
Für einen Preis nominiert zu sein – was heißt das, heute? Wenig. Dort sammelt sich viel vom Immergleichen. Es gibt Ausnahmen: Iris Wolffs Roman Die Unschärfe der Welt war 2020 für den Deutschen Buchpreis nominiert. Gewonnen hat ihn hingegen ein „feministisches Epos“. Wolffs wunderbarer und wahrhaft poetischer Roman kommt ohne ‑ismen aus und spielt doch über weite Strecken in einer Diktatur. Erzählt wird über mehrere Jahrzehnte (von der Ceausescu-Ära beginnend) die Chronik einer Familie aus dem Banat. Jedes der sieben Kapitel hat eine andere Person als Protagonisten: Mit Florentine, die mit einem Pfarrer verheiratet ist und schweigsam ist, weil Worte ohnehin „unscharf“ sind, nimmt es seinen Ausgang. Großmutter Karline ist eine überzeugte Royalistin. Die Nachbarn Ruth und Severin müssen ein Kind begraben. Es gibt Kontinuitäten und jähe Brüche, Täter, Opfer, Mitläufer. Der Goldene Westen, in dem das letzte Kapitel spielt, erscheint fast fad – zumindest erzeugt er faderes Personal. Wolff selbst (*1977) stammt aus Hermannstadt. Ihr Roman ist überwältigend.
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Schön – Julia Schattauer: Fernweh Deutschland. Naturparadiese direkt vor der Haustür erleben, München: Bruckmann 25.99 €
Vorweg: Ich bin nicht der Typ für geschönte Aufnahmen „bezaubernder Landschaften“. Dieser im Format bescheidene Bildband hat mich aber mitgerissen. Corona mag ein Übriges getan haben: Was für eine Chance, unsere eigene Heimat zu erkunden! Die junge Pfälzerin Julia Schattauer entdeckt uns hier – bildstark und versehen mit konkreten Unternehmungstipps ‑zweiundsechzig deutsche Regionen, die die nahe Reise lohnen. Wermutstropfen: Das fraglos allerschönste Gebiet, nämlich die hiesige Geiseltalseenlandschaft, kommt nicht vor. Ansonsten wären meine Top 3, angeregt durch diesen Nahwehführer: Die Nordseeinsel Juist, das „untere Odertal“ sowie die Sächsische Schweiz. In jedem Fall entbrennt hier die Heimatlust!
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Wahr – Verena Kessler: Die Gespenster von Demmin, Berlin: Hanser, 239 S., 22 €
Aus Gründen bin ich äußert skeptisch gegenüber Verlautbarungen „junger Autorinnen“, gerade in der Belletristik. Meist sind es Bespiegelungen des eigenen Bauchnabels. Verena Kessler, 1988 in Hamburg geboren, bildet mit diesem begnadeten Roman eine glorreiche Ausnahme. Ich bin hingerissen! Ich werde dieses Buch zu Weihnachten mehrfach verschenken, und zwar vor allem an junge Verwandte, obgleich Die Gespenster von Demmin nicht ausdrücklich als Jugendlektüre ausgewiesen ist. Der Roman spielt in der Demminer Gegenwart. Die Perspektive wechselt zwischen Larissa, genannt Larry und einer betagten Nachbarin. Die Schülerin (die mein Herz sofort gewonnen hat) ist eine coole Außenseiterin – aber keineswegs von dieser Art, wie sie moderne Jugendbücher gerne zeichnen. Sie hat einen guten Durchblick. Ihr Ansporn: an ihre Grenzen zu gehen. Die greise Nachbarin hat Demmin anno 1945 miterlebt. Damals haben sich zwischen den 30. April und dem 4. Mai nach vorsichtigen Schätzungen mindestens 700, nach realistischeren Angaben deutlich über tausend Einwohnerinnen das Leben genommen, nachdem die Rote Armee brandschatzend und vergewaltigend die Stadt eingenommen hatte. Wo trat das Elend des Nachkriegs je drastischer zutage? Dieses Buch liest man in einem (atemberaubenden) Zug. Ich wünsche ihm sehr, sehr viele Leser.
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Ein gebuertiger Hesse
Was für eine Zeit, in der ich in die Überschrift sogleich einen freudschen Fehler reinlese "WeihnachtsIMPFehlungen" und denke: nun schreibt EK auch schon über das Drecksthema.
Schön zu sehen auf den zweiten Blick, daß sie's mitnichten tut.