Ich spreche nicht von jener Manipulation der Sprache als Machtmittel, deren herausragendstes Beispiel die unzähligen Nichtdefinitionen des Wortes Faschismus sind, die sich seit nunmehr bald hundert Jahren im Phrasenschweinchen sammeln.
Ich spreche von jener Veränderung, die dadurch geschieht, daß sich die Lage geändert hat und alte Worte die neuen Gegebenheiten beschreiben. Das jüngste Wort, dem dies widerfahren ist, lautet „Systemfrage“. Wir lebten nicht in einer Diktatur, und wer von „Corona-Diktatur“ rede, der stelle „im Grunde die Systemfrage“: Das war der Frontalangriff auf Alexander Gauland und der Kern von Jörg Meuthens Rede in Kalkar.
Vor wenigen Jahren warnte der nun auf diese Weise angegriffene Gauland selbst im Anschluß an einen Vortrag davor, die Systemfrage zu stellen. Ein junger Zuhörer hatte ihn gefragt, ob man nicht auf eine neue deutsche Verfassung anstelle des längst zum Dauerprovisorium gewordenen Grundgesetzes hinarbeiten solle.
Dies bedeutete es damals noch, die Systemfrage zu stellen: Die durch das Grundgesetz vorgegebene Ordnung der Bundesrepublik Deutschland in Frage zu stellen, in der Regel zugunsten eines Präsidialsystems oder irgendeiner noch autoritäreren Regierungsform. Diese Systemfrage zu stellen, lehnte Alexander Gauland ab.
Die Systemfrage, die Gauland jetzt „im Grunde“ gestellt haben soll, ist eine gänzlich andere, und sie beschränkt sich nicht auf die Auswirkungen oder die Bewertung der Covid-19-Epidemie. Die Systemfrage, vor der Meuthen Angst hat, zeichnet sich dadurch aus, daß sie von Gauland nicht gestellt, sondern festgestellt wurde.
Festgestellt wurde, genau genommen, ihre stillschweigende Beantwortung durch die politischen Machthaber, die inzwischen die grundgesetzliche Ordnung mit der Herrschaft ihres eigenen Personenkreises und ihrer Ideologie identifiziert habe.
Dort hat man inzwischen wohl doch Carl Schmitt gelesen und festgestellt, daß eine Demokratie ganz legal beseitigt werden kann, weil das Mehrheitsprinzip es der Mehrheit prinzipiell ermöglicht, die Minderheit legal zu kriminalisieren. Außerdem werfen die Kontrolle der Exekutive und die Besetzung der Gerichte eine „überlegale Prämie auf den legalen Machtbesitz“ ab, sprich: reichliche Möglichkeiten zur Schikane der Opposition.
Die Verbindung von Mehrheitsprinzip, Freiheit der politischen Betätigung und zeitlicher Beschränkung der Herrschaftsgewalt, auf welcher der Legitimitätsanspruch parlamentarischer Demokratien beruht, ist dann infrage gestellt, wenn der aktuelle Inhaber einer Mehrheit die sich daraus ergebenden Machtmittel nutzt, um der Minderheit die Chance zur Mehrheitsgewinnung zu verweigern.
Dadurch ist es dem aktuellen Machthaber möglich, die Systemfrage zu beantworten, ohne sie überhaupt offen stellen zu müssen. Hier ist der Vergleich mit den Ereignissen von 1933 in der Tat sinnvoll, insofern damals die Weimarer Reichsverfassung nicht etwa abgeschafft wurde, sondern weiter galt, lediglich durch Exekutiventscheidungen und die Kriminalisierung politischer Gegner entkernt.
Eine solche vom legalen Machthaber nicht gestellte Systemfrage, sondern eine Systemüberdehnung, die so nie vorgesehen war, stellt eine oppositionelle Partei vor die Frage, ob der Prozeß als Ganzes so zu benennen und zu bekämpfen sei. Jörg Meuthen vertritt ja nicht die Auffassung, die AfD dürfe die einzelnen Schritte nicht kritisieren. Das tut er selbst vehement. Sein Urteil über den Verfassungsschutz unterscheidet sich nicht von dem seiner parteiinternen Gegner, er betrachtet ihn ganz genauso als ein von der Regierung instrumentalisierte Behörde.
Hier liegt nicht der Streitpunkt! Der Streitpunkt besteht in der Frage, ob der Gesamtprozeß, von dem das neue Infektionsschutzgesetz ja nur ein kleiner Teil ist, als Beseitigung der verfassungsmäßigen Ordnung bezeichnet werden soll oder nicht. Wer dies tue, der stelle laut Meuthen die Systemfrage und bringe die AfD „ohne jede Not in ein Fahrwasser, daß [sie] massiv existenziell gefährdet und durch die darin liegende Maßlosigkeit bei vielen Menschen Kopfschütteln auslöst.“
Die Sachbehauptung, daß diese Aussage bei vielen Menschen Kopfschütteln auslöse, ist nicht zu bezweifeln. Nur gilt dasselbe für nahezu jede andere Position der AfD. Es wird wohl niemand behaupten, daß die Wahlen und Umfragen in Deutschland so weit manipuliert sind, daß der derzeitige Status der AfD als Minderheitsfraktion in allen Parlamenten nicht auf die Tatsache zurückzuführen sei, daß zum gegenwärtigen Zeitpunkt die breite Mehrheit der wahlberechtigten Bevölkerung die Ziele der Partei ablehnt. Das Gegenteil wäre auch verwunderlich, denn man bringt eine Alternative nicht deshalb in den politischen Prozeß ein, weil sie bereits die vorherrschende Richtung wäre.
Wesentlich schwerer wiegt der Vorwurf der Maßlosigkeit. Es ist ja richtig, daß eine dissidente Partei kaum ihren Parteitag öffentlich abhalten könnte, wenn gewisse politische Grundfreiheiten in der Bundesrepublik Deutschland nicht immer noch gewährt würden.
Die Frage ist jedoch nicht, ob diese Freiheiten immer noch gewährt werden, sondern ob das herrschende Parteienkartell dabei ist, sie zu beseitigen. Was das letztere anbelangt, so zeigt der verschärfte Einsatz des Inlandsgeheimdienstes gegen die größte Oppositionspartei, die Förderung von gegen diese Partei gerichteten sogenannten Nichtregierungsorganisationen mit zuletzt einer Milliarde Euro Staatsgeldern und zuletzt der lauter werdende Ruf nach einem Verbot der Partei, eindeutig die Richtung auf, in die die Reise geht.
Auch der neue Art. 28a Infektionsschutzgesetz auf den sich Alexander Gauland in der kritisierten Rede bezog, weist in dieselbe Richtung, da er im Falle der ausgerufenen “epidemischen Lage von nationaler Tragweite” das Versammlungsrecht zu einer Angelegenheit behördlicher Verordnungen macht (anstelle von parlamentarischer Gesetzgebung). Das Mißbrauchspotential ist offensichtlich und erhöht im Falle einer „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ die überlegale Prämie auf den legalen Machtbesitz.
Dasselbe gilt für die erhebliche Verschärfung der Internetzensur unter dem Vorwand, die Bevölkerung vor Falschinformationen über Corona zu schützen. Damit wurden neue, niedrigere Standards der Meinungsfreiheit geschaffen, die nicht auf den Seuchenschutz beschränkt bleiben.
Es besteht wie gesagt in all diesen Einzelfragen keine Differenz zwischen Jörg Meuthen und seinen Gegnern. Die Frage ist, ob dies insgesamt als Versuch zur Beseitigung der vielbeschworenen freiheitlichen demokratischen Grundordnung betrachtet und benannt werden soll. Oder begäbe sich die AfD dadurch „ohne Not in ein Fahrwasser, daß sie massiv existentiell gefährdet“?
Die AfD ist auf das demokratische Funktionieren der Bundesrepublik Deutschland angewiesen. Das ganze Projekt ist eine Wette darauf, daß das politische System der Bundesrepublik Deutschland so demokratisch reformierbar ist wie behauptet. Was immer die AfD ist, sie ist eines nicht: eine Bürgerkriegsformation im Wartestand. Und wir leben nicht in der Idylle einer Wehrbauernrepublik, in der man, im Falle des Falles das Volk zu den Waffen rufen zu kann. Die AfD muß „den Anfängen wehren“.
Das ist keine angenehme Position, die der Partei dadurch aufgezwungen wird. Sie wird jedoch erträglicher, wenn man sich bewußt macht, daß wir noch in einem Land leben, in dem man nicht nur die Wahl zwischen bedingungsloser Unterwerfung und der Illegalität hat. Das gilt insbesondere für den Umgang mit dem Verfassungsschutz, dessen Einstufungen, Beobachtungen und Berichte ja keine Verbotsbeschlüsse sind, auch wenn sie schädliche Folgen haben.
Solche Einstufungen können ignoriert werden. Es ist nicht notwendig, den Verfassungsschutzämtern gegenüber (einer Institution, die es in keiner anderen Demokratie gibt), einen unsittlichen Blankoeid auf Gehorsam auszusprechen und sei es über den Umweg nicht zwingend notwendiger Gerichtsprozesse gegen diese Behörden.
Frieda Helbig
Das Offensichtliche darf nicht ausgesprochen werden.
1. Akt:
Corona-Diktatur ist doch Quatsch, schließlich dürfen wir hier unseren Parteitag abhalten. Der Hochschulprofessor beendete seine Rede und zog brav seinen MNS auf. Er setzte sich leicht fröstelnd auf den ihm zugewiesenen Platz in sicheren Abstand zu seinen Kollegen. Noch schnell eine Kniebeuge gemacht und in die Hände geklatscht.