Den Himmel zum Sprechen bringen schließt an verschiedene offen liegengelassene Fäden an. Zum einen schreibt Sloterdijk die Ausführungen des amerikanischen Philosophen und Psychologen William James (1842 – 1910) weiter, der in Die Vielfalt religiöser Erfahrung (1902) dem Rätsel der regionalen und zeitlichen Ausdifferenzierung eines allgemeinen Phänomens auf die Spur kommen und in Der Wille zum Glauben die dahinterliegenden Psychoenergien deutlich machen wollte. Nicht zufällig schrieb Sloterdijk das Vorwort zur Neuausgabe der Vielfalt. Zum anderen steigt Sloterdijk in selbst getretene Spuren: In Weltfremdheit (1993) widmete er sich der inneren Dynamik religiöser Segregation am Beispiel des Anachoretentums, in Gottes Eifer (2007) – einem Beifang der Überlegungen zum Thymos (Zorn und Zeit) – fragte er nach den Antriebsenergien und den Akzelerationslogiken der monotheistischen Religionen auf ihrem unabänderlichen Weg zur Zivilisierung, und in Nach Gott (2017) widmete er sich der theologischen Aufklärung.
Die Theologie wird nun hinter sich gelassen; sein jetziges Ansinnen spiegelt das Zentralwort »Theopoesie« wieder. Es soll den Redeverkehr zwischen Gott und Menschen einfangen. Da es auf der Erde ein starkes und zunehmendes Bedürfnis – in den verschiedenen religiösen Ausformungen – nach Gott gab und gibt, dieser sich aber als oft schweigsamer, rätselhafter oder zumindest unberechenbarer Gesprächspartner erwiesen hat, der nur wenigen Auserwählten die Gnade einer direkten Kommunikation zuteilwerden ließ, haben Menschen immer wieder auf mehr oder weniger poetische Art und Weise versucht, den Herrn zum Sprechen zu bringen oder doch wenigstens zu erraten, was er sagen würde, wenn es ihn gäbe und zu sprechen gelüstete. Freilich, im Begriff der poeisis (Erschaffung) liegt ein notwendiger Affront den Erschaffenen oder sich als erschaffen Wähnenden gegenüber.
Im ersten Teil beruft sich Sloterdijk auf einen altgriechischen Theatertrick: Man ließ den Gott mithilfe einer technischen Konstruktion, die den zukunftsschwangeren Namen »theologeion« trug, in die Arena schweben, um ihn an den Sorgen, Kämpfen und Sünden der Erdlinge aktiv teilnehmen zu lassen. Diese Metapher wird durch die Zeiten verfolgt bis hin zu den späten theologischen Kuriositätensammlungen. Im zweiten Teil durchleuchtet er die häufigsten Stil- und Zielmittel der Theopoesie wie »Zusammengehörigkeit«, »Geduld«, »Übertreibung«, »Kerygma«, »Suche« usw. Auch wenn das als »abgehoben« erscheinen mag, so sind die Rückbezüge in die Gegenwart jederzeit sichtbar, wenn auch nicht immer so klar ersichtlich wie in den recht unzeitgemäßen Äußerungen zu Islam und Koran oder der Kritik solcher Kampfbegriffe wie »Volk«, »Nation« oder »Identität«. Warum freilich die poetischen Selbstbildungskräfte in Hinblick auf Gott konstitutiv sein, beim Volk – also einer »Demospoesie« – versagen sollen, ist nicht ausgeführt.
Immerhin lernt der Leser in dieser kommentierten Ausgabe der gesammelten theologischen Paradoxien, daß Glauben, dessen Rechnung logisch aufgeht, unmöglich ist. Im letzten Abschnitt zieht Sloterdijk die Fäden seiner bis dahin scheinbar schwebenden gedankensatten Assoziationen überraschend straff zusammen – hier klärt sich die Frage »wozu?« endgültig – und begründet den notwendigen Autoritätsverlust des Religiösen in der Moderne: Sich verselbständigende »Diesseitspraktiken« haben der Religion und ihren Institutionen die Kompetenzen entzogen, befriedigen mit eigenen Mitteln den numinosen Bedarf; Religion ist »der Rest, der nach dem Abzug von allem bestehen bleibt, was in die Wissenschaft, die Ökonomie, das Justizwesen, die Philosophie usw. abwandert« und eine »Beihilfe zur Auslegung des Daseins« darstellt. Der Begriff der Religionsfreiheit erhält hier eine doppelte Bedeutung: die Religion sei frei, ihre sozialen Funktionen zu entlassen, sie müsse den sozialen Ensembles keine Zusammenhaltsmotive mehr liefern – diese sind also auch frei von der Religion –, sie müßten sich zum zweiten einer neuen Konkurrenz um die Existenzdeutung stellen, namentlich der Philosophie und der Künste. Religion erringt eine »erhebende, skandalöse Nutzlosigkeit, sie ist so überflüssig wie die Musik«. Sie erlangt Luxuscharakter, ihre Institution dürfe nun den Rang einer Körperschaft des öffentlichen Rechts beanspruchen.
Die sprachliche Kunstfertigkeit, in der Sloterdijk diese Erkenntnisse kleidet, ist ein Paradebeispiel eines Textes – letztlich löst er damit das nicht gehaltene Versprechen postmodernen Schreibens ein –, der verletzungsfrei, ohne jegliches Zündeln über wahren Explosivstoff spricht und zudem genügend Selbstsicherungen einbaut, die vor weltanschaulichem Mißbrauch schützen (sollen). Eventuell auftretende Verspannungen werden durch eine immer wieder aufblitzende Heiterkeit und Ironie gekontert.
Peter Sloterdijk: Den Himmel zum Sprechen bringen. Über Theopoesie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 2020. 344 S. 24.80 € – hier bestellen.