Zu seinem 70. Geburtstag am 11. April 2020 hat Rolf Schilling einen neuen Gedichtband vorgelegt: Orpheus des Nordens. Wie andere Gestalten seiner Dichtung – wie der Quester, der Holder und der Gralshüter – so ist auch dieser Orpheus kein anderer als Schilling selbst. Und wie schon in früheren Gedichten, so bedient sich der Dichter auch jetzt gern des lyrischen Du, liebt das Selbstgespräch, mit dem er sich von der Welt und ihren Nichtigkeiten zurückzieht, macht doch der Reichtum des inneren Lebens allen zeitgeschichtlichen Lärm vergessen. Schillings Solipsismus verdankt sich seiner Ausgrenzung in der DDR, an der sich nach der Wende nichts geändert hat: »Langer Atem war vonnöten / Vor und mehr noch nach der Wende.«
Denn auch im neuen Deutschland blieb Schilling auf sich selbst verwiesen und wird bis heute sowohl von der »Qualitätspresse« als auch von der Germanistik nicht wahrgenommen, woran sich vermutlich auch nichts ändern wird. Schilling hat sich ins Unvermeidliche gefügt, und mit Wohlwollen fällt sein Blick auf das Werk, für das er so manches Opfer gebracht hat. So sprechen aus den neuen Gedichten eine Heiterkeit und ein spätes, übermütiges Glück, wie man es weder beim frühen noch beim mittleren Schilling findet. Sogar – man reibt sich verdutzt die Augen – das eigene Autodafé wird in Erwägung gezogen. Das Gedicht mit dem Titel »Mag sein« sei zitiert: »Mag sein, daß ein Autodafé / An deines Verswerks Ende steh, / Doch sag das heut noch nicht zu laut. / Solange sich’s zusammenbraut / Und aus der Wolke zuckt der Blitz, / Harr aus auf deinem Dichtersitz.«
Die von Schilling auch in den neuen Gedichten beschworenen Götter sind nicht die Götter der Antike – auch sie findet der Dichter in sich selbst. Doch sind sie nicht bloße Erfindungen, sie gewinnen ein eigenes Leben und begleiten den Leser durch die Gefilde des Traums, der dem Leben Sinn verleiht. So ist Schillings poetischer Solipsismus keine Sackgasse, sondern der Dichter führt den Leser auf ein weites Feld, wo sich Erde und Himmel begegnen. Zuweilen auch springt er über seinen Schatten und wendet sich den kleinen Dingen des Lebens zu wie etwa einem unscheinbaren Wespennest oder einer Nuß, die es zu knacken gilt. Hieraus die letzte Strophe: »Doch wer sie mit der Zange packt / Oder mit Zähnen, gut in Schuß, / Die Schale zwacken kann, der knackt / die Nuß.«
Ein Gedicht, voller Unbeschwertheit und jungenhafter Ernsthaftigkeit, das übrigens auch ein Augenzwinkern enthält, denn der Dichter des Hohen Tons fällt unvermittelt aus der Rolle und wird umgangssprachlich: »gut in Schuß«. Auf solche auf den ersten Blick befremdliche umgangssprachliche Einsprengsel muß man in Schillings Spätwerk gefaßt sein. So läuft einem sogar das scheußliche »angesagt« über den Weg. Es handelt sich dabei aber um keine fahrlässigen Entgleisungen. Im Gegenteil: Schilling bezeugt durch sie – im Kontrast zur stilistischen Meisterschaft seiner Verse – seine spielerische Souveränität, die es ihm erlaubt, zuweilen mit dem Mainstream zu kokettieren.
So heiter und übermütig viele Gedichte des neuen Bandes auch sind – es finden sich unter Schillings späten Gedichten aber auch einige, die von Einsamkeit und Stille sprechen: den Quellen seiner Inspiration. So zum Beispiel in dem Sonett »Still«: »Vor der Schwelle stehend, / Halte dich ganz still, / Andres nicht erflehend / Als was kommen will. // Säum vor der Christrose, / Die im Garten-Eis / Zeugt, wer dich erlose, / Was der Traum verheiß. // Sieh den Himmel blauend / Über Hof und Haus. / Auf das Wort vertrauend, // Halt im Schweigen aus. / Spür den Strom, sich stauend, / Bis der Tauwind braus.«
Auch hier wieder ein Selbstgespräch, eine Selbstverständigung, auch Selbstbeschwichtigung, denn ein neues Gedicht kündigt sich an – steht auf der »Schwelle« –, das nicht aufs Spiel gesetzt werden darf. Sein Gelingen liegt nicht in der Macht des Dichters, doch trägt er durch sein Schweigen, seine Geduld dazu bei, daß es sich offenbart. Aber auch die Natur – sei es der »blauende« Himmel, sei es die Christrose – tragen zur Geburt des neuen Werkes bei: Ein wundersames Gedicht von fragiler Zartheit und meditativer Innerlichkeit, das uns in das Mysterium des Dichtens einweiht.
Rolf Schilling hat sich selbst zu seinem 70. Geburtstag das schönste Geschenk überreicht: einen Gedichtband, der von einem poetischen Reichtum und einer stilistischen Meisterschaft zeugt, wie man sie in der Gegenwartsliteratur vergeblich sucht.
Rolf Schilling: Orpheus des Nordens. Gedichte, Neustadt an der Orla: Arnshaugk 2020. 255 S., 28 €
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