Philippe Muray: Das Reich des Guten

Eine Rezension von Konrad Gill

Fran­zo­sen haben eine Nei­gung zu ­fol­gen­lo­ser Pole­mik. Den Leser kann’s ver­gnü­gen, ­erre­gen oder im bes­ten Fall zur Tat moti­vie­ren. Im schlimms­ten Fall aber erlahmt jeder kri­ti­sche Impuls im Wort­ge­wit­ter von belang­lo­sen Eitel­kei­ten und ver­kopf­ten Gedan­ken­sprün­gen, und ermat­tet greift der Leser zum Wein­glas oder zur Nachtmütze.

Wer im Jahr 2020 ein knapp 30 Jah­re altes »gesell­schafts­kri­ti­sches« Buch aus Frank­reich über­set­zen läßt, soll­te Grün­de dafür haben, die in der beson­de­ren Güte der Ana­ly­se, in zeit­lo­sen Bemer­kun­gen oder einer vor­her unge­ahn­ten neu­en Aktua­li­tät des Gegen­stan­des lie­gen könn­ten. Sind sol­che Grün­de nicht ersicht­lich, wird das Neu­erschei­nen um so mehr zum Wag­nis, je stär­ker sich die Umge­bungs­be­din­gun­gen seit­her gewan­delt haben.
Nun leben Fran­zo­sen wie Deut­sche 2020 in einer ganz und gar ande­ren Welt als 1991 – sofern kri­sen­haf­te Ten­den­zen 1991 schon ange­legt waren, haben sie sich stark ver­schärft, neue sind hin­zu­ge­tre­ten. Der 2006 ver­stor­be­ne Muray beklagt sich im vor­lie­gen­den Text über Phä­no­me­ne wie die ubi­qui­tä­re Geräusch­be­läs­ti­gung, pseu­do­re­li­giö­se New-Age-Wel­len, die Infan­ti­li­tät öffent­li­cher Debat­ten, wohl­mei­nen­de Ver­wal­tungs­emp­feh­lun­gen (z. B. gegen­über Rau­chern) und ande­res, das mit dem zeit­li­chen Abstand über­holt und stel­len­wei­se fast nied­lich wirkt. Was waren das für gol­de­ne Zei­ten, als ein Pole­mi­ker in Euro­pa Zeit und Anlaß hat­te, über sol­che Pro­ble­me zu schimpfen!
Ange­sichts von Mas­sen­psy­cho­sen, Über­frem­dung und aggres­si­ver Min­der­hei­ten­agi­ta­ti­on liest man von Luxus­pro­ble­men wie einer zu gro­ßen Rühr­se­lig­keit und man­geln­der Ernst­haf­tig­keit in der Öffent­lich­keit mit einer Mischung von Nost­al­gie und Des­in­ter­es­se. Hin­zu kommt, daß dem Essay jede Strin­genz und jeder ana­ly­ti­sche Anspruch fehlt. Muray schimpft zwar wie ein Rohr­spatz über alles und jeden, lie­fert aber weder Hin­wei­se auf die Grün­de für die ihn so sehr stö­ren­den Miß­stän­de noch kann er einen inne­ren Zusam­men­hang der Phä­no­me­ne plau­si­bel machen. Sei­ne Rekur­se auf Ideo­lo­ge­me der 68er (unter ande­rem ruft er de Sade zum Zeu­gen an und beklagt die Lust­feind­lich­keit der Zeit und allen Erns­tes eine Über­be­to­nung von Fami­li­en­wer­ten, es wer­de zu wenig kreuz und quer kopu­liert!) las­sen die gele­gent­li­chen reak­tio­nä­ren Apho­ris­men und tra­di­ti­ons­sehn­süch­ti­gen Ein­spreng­sel zudem arg hohl klin­gen. Das ist kei­ne (viel­leicht etwas wüs­te) Kul­tur­kri­tik, son­dern da schimpft eher einer im Café aus Lan­ge­wei­le oder Gel­tungs­drang mit sei­nen Freun­den. Was dar­an »anti­mo­der­nis­tisch« (Ver­lags­wer­bung) sein soll, bleibt ein edi­to­ri­sches Geheimnis.
Der Wert des Buches, wenn man einen fin­den möch­te: es ahnt vor­aus. Was heu­te an Tugend­ter­ror die euro­p­id gepräg­ten Gesell­schaf­ten durch­flu­tet, ist hier in ver­gleichs­wei­se harm­lo­sen Anfän­gen schon sicht­bar. Muray stö­ren Mora­li­sie­rung, öffent­li­che Tugend­be­wei­se und Emo­tio­na­li­sie­rung, also alles das, was heu­te »Gut­men­schen­tum« genannt wird. Auch las­sen sich im Buch eini­ge sehr schnei­den­de und schnei­di­ge Zuspit­zun­gen fin­den, so über das öffent­li­che Auf­ein­an­der­tref­fen von vor­der­grün­dig kon­tra­hie­ren­den Ver­tre­tern der glei­chen Ideo­lo­gie als Thea­ter und Schein­de­bat­te oder über eine »neue Spi­ri­tua­li­tät«, die sich als letzt­lich anti­tran­szen­den­tal ent­puppt. Den­noch: Eine Anein­an­der­rei­hung von Zita­ten und Apho­ris­men, von Schimpf­ti­ra­den und flüch­ti­gen, ja schlam­pi­gen Pro­blem­auf­ris­sen macht noch kei­ne Zeit­geist­kri­tik, von einer Ana­ly­se ganz zu schwei­gen. Ein im Kri­sen­jahr 2020 über­flüs­si­ges Buch.

Phil­ip­pe Muray: Das Reich des Guten, Ber­lin: Matthes & Seitz Ber­lin 2020. 133 S., 20 € – hier bestel­len.

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