Geschichtsdenken

PDF der Druckfassung aus Sezssion 94/Februar 2020

Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

Vor fast einem hal­ben Jahr­hun­dert ver­öf­fent­lich­te der Phi­lo­soph Odo Mar­quard (1928–2015) ein Buch mit dem Titel Schwie­rig­kei­ten mit der Geschichts­phi­lo­so­phie, in dem es einen Abschnitt gibt, der »Abschied von der Geschichts­phi­lo­so­phie« über­schrie­ben ist. Damit woll­te sich Mar­quard nicht vom Nach­den­ken über die Geschicht­lich­keit des Men­schen im Unter­schied zu sei­ner Natür­lich­keit ver­ab­schie­den, son­dern von der Idee eines uni­ver­sa­len Sinns der Geschich­te, einer sich in Ein­heit voll­enden­den linea­ren Welt­ge­schich­te. Mar­quard stand damals nicht allein mit die­ser Auf­fas­sung, son­dern reagier­te mit ande­ren auf die Marx-Renais­sance der 1960er Jah­re, die zu einer neu­en Wert­schät­zung der uto­pi­schen Geschichts­phi­lo­so­phie geführt hat­te. Mar­quard ori­en­tiert sei­ne Ver­tei­di­gung der bür­ger­li­chen Welt daher nicht an den gesell­schaft­li­chen Inter­es­sen oder der Zukunft, son­dern am Ein­zel­nen und an der Gegen­wart. Uto­pien, so Mar­quard, for­der­ten Opfer für eine bes­se­re Zukunft und ent­wer­te­ten damit die Gegen­wart als etwas, das es zu über­win­den gel­te. Men­schen wür­den dar­in nur als Teil eines Pro­jek­tes gese­hen, man gehe ein­fach über sie hinweg.

Im Gegen­satz dazu beharr­te Mar­quard dar­auf, daß das Leben end­lich sei und daher nicht für ver­tag­te Hoff­nung geop­fert wer­den dür­fe: Die Gegen­wart habe ein Recht gegen­über der Zukunft. Der Geschichts­phi­lo­so­phie setz­te Mar­quard sein berühm­tes »Recht der nächs­ten Din­ge gegen­über den letz­ten« ent­ge­gen. Die Welt sol­le nicht ver­än­dert, son­dern ver­schont werden.

Die­ser Ver­such der Dele­gi­ti­mie­rung der Geschichts­phi­lo­so­phie ringt wie all die ande­ren mit einem Pro­blem. Das Ver­scho­nen und das Behar­ren auf dem Sta­tus quo ist kaum in der Lage, den Ori­en­tie­rungs­be­darf der Men­schen zu stil­len, weil er der mobi­li­sie­ren­den Kraft der Geschichts­phi­lo­so­phie kei­nen alter­na­ti­ven Mythos ent­ge­gen­set­zen kann. Die Fra­gen »Woher kom­men wir?« und »Wohin gehen wir?«, mit denen um Ori­en­tie­rung gerun­gen wird, sind aber der Schlüs­sel des Poli­ti­schen. Die bei­den Fra­gen ste­hen in einem engen Zusam­men­hang, den man ganz lebens­prak­tisch mit dem Satz zusam­men­fas­sen könn­te: Das Woher bestimmt nicht sel­ten das Wohin. Die Mög­lich­kei­ten von Völ­kern und Men­schen sind nicht unend­lich, son­dern hän­gen von unter­schied­li­chen Din­gen ab; vom Gelän­de, das man vor­fin­det, aber eben auch vom Ruck­sack, den man auf sei­nen Weg mit­be­kom­men hat, und natür­lich dem, was sich dar­in befin­det. Das ent­schei­det mit­un­ter dar­über, ob man in einer Situa­ti­on springt oder sich duckt, ob man schnell vor­an­kommt oder lang­sam. Ob man ande­re mit­rei­ßen kann, liegt nicht nur an der Lage selbst, son­dern auch dar­an, wel­che Ant­wort man auf eine Her­aus­for­de­rung hat und, so man frei ent­schei­den kann, wel­che Rich­tung und wel­ches Ziel man vor­gibt. Ob all das auch für die Welt als Gan­zes gilt, ist eine Fra­ge, um die im 20. Jahr­hun­dert in zwei Welt­krie­gen gerun­gen wurde.

Heu­te scheint die Fra­ge ent­schie­den: Alles betrifft alle. Die Welt hat ein gemein­sa­mes Ziel: Demo­kra­tie und gren­zen­lo­se Wohl­fahrt. Wie wir­da­hin gelan­gen, wie wir die­ses Ziel errei­chen, mag umstrit­ten sein (es bie­ten sich Geld oder Gewalt als Mög­lich­kei­ten an); Einig­keit besteht hin­ge­gen dar­über, was das Errei­chen die­ses Ziels ver­hin­dert: die Ungleich­heit auf der Welt und die­je­ni­gen, die sich der Gleich­heit ent­ge­gen­stel­len. Sie ver­hin­dern näm­lich, daß die erlö­sungs­be­dürf­ti­ge Mensch­heit end­lich in bun­ter Ein­heit den Wider­spruch zwi­schen Wohl­fahrts­staat und Kli­ma­zie­len auf­he­ben könn­te. Hier kommt ins Spiel, wofür die Geschichts­phi­lo­so­phie meis­tens steht: eine Fort­schritts­ideo­lo­gie, der zwar ein zwangs­läu­fi­ger Sog auf das rich­ti­ge Ziel hin unter­stellt wird, der aber nicht sel­ten durch eine ent­schlos­se­ne Eli­te not­falls auch mit Gewalt nach­ge­hol­fen wer­den muß.
Das erklärt auch, war­um es auf Sei­ten der Rech­ten so star­ke Vor­be­hal­te gegen­über der Geschichts­phi­lo­so­phie gibt oder zumin­dest gab.

An zen­tra­ler Stel­le steht hier Carl Schmitt (1888–1985), der nach dem Zwei­ten Welt­krieg zwar ver­haf­tet und geäch­tet wur­de, aber den­noch über zahl­rei­che Kon­tak­te ver­füg­te und dar­über zum Anre­ger und Rück­halt einer jun­gen Gene­ra­ti­on von Wis­sen­schaft­lern wur­de, die er vor allem mit Lek­türe­hin­wei­sen füt­ter­te und in Gesprä­chen auf den rich­ti­gen Weg führ­te. Die­ser Kreis wur­de im Lau­fe der Jah­re von ver­schie­de­nen Per­so­nen bevölkert. 

Im Hin­blick auf die Geschichts­phi­lo­so­phie war es vor allem ein Dop­pel­schlag aus den 1950er Jah­ren, der die geschichts­phi­lo­so­phi­sche Skep­sis mit Argu­men­ten ver­sorg­te. Den ers­ten Schlag führ­te Han­no Kes­t­ing (1925–1975), der 1952 mit einer Arbeit über »Uto­pie und Escha­to­lo­gie« bei Hans-Georg Gada­mer pro­mo­vier­te. Die­se Arbeit wur­de nie ver­öf­fent­licht, kur­sier­te aber im Freun­des­kreis und reg­te dadurch wei­te­res Nach­den­ken über das Pro­blem der Geschichts­phi­lo­so­phie an. 1959 ver­öf­fent­lich­te er dann sein dar­auf auf­bau­en­des Buch Geschichts­phi­lo­so­phie und Welt­bür­ger­krieg, in dem er die pro­ble­ma­ti­sche Ent­ste­hungs­ge­schich­te der Geschichts­phi­lo­so­phie unter­sucht. Geschichts­phi­lo­so­phie gibt es bei Kes­t­ing erst seit dem 18. Jahr­hun­dert. Zwar hät­ten die Men­schen auch vor­her über ihre Geschich­te nach­ge­dacht, aber Geschich­te sei damals kein Abso­lu­tum gewe­sen, son­dern ein Gesche­hen, das in einem grö­ße­ren Gesche­hen auf­ge­ho­ben gedacht und dadurch rela­ti­viert wor­den sei: in der Anti­ke durch die kos­mi­schen Kreis­läu­fe der Natur und im Chris­ten­tum durch den len­ken­den Gott. Erst durch den im 18. Jahr­hun­dert auf­kom­men­den Deis­mus, einer Leh­re, in der Gott als an sei­ne eige­nen Geset­ze gebun­den gedacht wird, kann Geschich­te als ein rein mensch­li­ches Gesche­hen auf­ge­faßt wer­den. Die­se Prä­mis­se hat den Vor­teil, auch dem stren­gen Blick der Auf­klä­rung stand­zu­hal­ten: Der Mensch kann nur ver­ste­hen, was er gemacht hat, und da er die Geschich­te gemacht hat, kann er sie auch ver­ste­hen. Hier­aus folgt eine gott­ähn­li­che Erkennt­nis, bei der Tat und Erkennt­nis zusam­men­fal­len. Wei­ter­hin folgt Kes­t­ing der bekann­ten The­se Karl Löwi­ths (1897–1973), des­sen Buch Welt­ge­schich­te und Heils­ge­sche­hen (1953) Kes­t­ing ins Deut­sche über­setzt hat­te, daß im Zuge der Säku­la­ri­sie­rung das welt­be­herr­schen­de Prin­zip der gött­li­chen Vor­se­hung durch die Idee des Fort­schritts ersetzt wurde.

Das hat nicht zuletzt Kon­se­quen­zen für die gesell­schaft­li­che Rele­vanz der Phi­lo­so­phie über­haupt, die sich bis­lang aus­schließ­lich an Gelehr­te gewandt hat­te. Nun rich­tet sie sich an die gan­ze Öffent­lich­keit als den Trä­ger der Geschich­te, der in die­se ein­grei­fen kann und soll. Kes­t­ing: »Geschichts­phi­lo­so­phie ist von Anfang an nicht nur eine kri­ti­sche, gesell­schafts­kri­ti­sche, viel­mehr eine aus­ge­spro­chen aggres­si­ve Philosophie.«
Und sie ist prak­ti­sche Phi­lo­so­phie, weil es den aus­ge­mach­ten Fort­schritt­zu beför­dern gilt. Auf die­sem Wege mün­det sie in das revo­lu­tio­nä­re Gesche­hen des 18. und 19. Jahr­hun­derts, den revo­lu­tio­nä­ren Bür­ger­krieg, der seit 1917 in den Welt­bür­ger­krieg über­ge­gan­gen ist. 

Damit knüpft Kes­t­ing an eine The­se Carl Schmitts an, die den als Ant­wort auf den reli­giö­sen Bür­ger­krieg des 17. Jahr­hun­derts ent­stan­de­nen moder­nen Staat durch die bür­ger­li­che Gesell­schaft in Fra­ge gestellt sieht. Rein­hart Koselleck (1923–2006), spä­ter einer der bekann­tes­ten deut­schen His­to­ri­ker, hat sei­ne Dis­ser­ta­ti­on eben jenem Moment gewid­met, als der Staat von
der bür­ger­li­chen Krank­heit befal­len wird. Sei­ne Arbeit, mit der er 1954 pro­mo­viert wur­de, erschien 1959 als Buch, das gemein­sam mit Kes­t­ings Werk eben jenen erwähn­ten Dop­pel­schlag darstellt.Koselleck zeich­net den Pro­zeß nach, in dem das Neben­ein­an­der von pri­va­tem und poli­ti­schem Raum, von dem der abso­lu­tis­ti­sche Staat geprägt war, zunächst zu einem Dua­lis­mus (im Sin­ne eines Ant­ago­nis­mus) erho­ben wird. Aus der abso­lu­tis­ti­schen Unter­schei­dung zwi­schen öffent­li­cher Per­son, dem Bür­ger, der dem Sou­ve­rän unter­wor­fen ist, und der pri­va­ten Per­son, die nur ihrem Gewis­sen unter­wor­fen ist, wird am Ende der Ent­wick­lung die schar­fe Front­stel­lung zwi­schen Poli­tik und Moral sowie zwi­schen Staat und Gesellschaft. 

Es eta­bliert sich die Auf­fas­sung, daß der Mensch nur im Pri­va­ten frei und damit eigent­lich Mensch sei. Über das Vehi­kel der Geschichts­phi­lo­so­phie tritt die pri­va­te Moral aus dem Gehei­men her­aus und wird zur öffent­li­chen For­de­rung: alle kön­nen und sol­len frei sein. Die Kri­tik an den abso­lu­tis­ti­schen Ver­hält­nis­sen, so Koselleck, erzeugt die Kri­se, in dem sie den oben beschrie­be­nen Ant­ago­nis­mus schafft. 

Die Geschichts­phi­lo­so­phie ver­deckt und ver­schärft den Vor­gang der Kri­se, indem sie die Revo­lu­ti­on her­bei­schreibt und gleich­zei­tig deren Kon­se­quen­zen ver­deckt. Zu die­sen Kon­se­quen­zen gehört die Gewalt des Bür­ger­kriegs, die Koselleck als eine Krank­heit beschreibt. Mit­hin ist die bür­ger­li­che Welt das Resul­tat einer Krank­heit, die uns seit­dem als Welt­bür­ger­krieg beglei­tet. Das Ziel die­ses Krie­ges ist jetzt nicht mehr der Dua­lis­mus, son­dern die Auf­he­bung der Spal­tung zwi­schen öffent­li­cher und pri­va­ter Sphä­re, um die uni­ver­sel­le Gleich­heit zu beför­dern. Es ist das Kenn­zei­chen einer tota­li­tä­ren Dik­ta­tur, daß sie sich nicht mit dem Ver­zicht auf gegen­sätz­li­che Mei­nun­gen zufrie­den­gibt, son­dern aktiv Zustim­mung ein­for­dert. Wer schweigt, zeigt im Zwei­fels­fall, daß er Vor­be­hal­te hat. Wäh­rend der Abso­lu­tis­mus eine Pri­vat­mei­nung zulas­sen kann, weil er im öffent­li­chen Raum abso­lut herrscht, kann der libe­ra­le Staat die­se Frei­heit nicht mehr gewäh­ren, son­dern sieht in der Indi­vi­dua­li­tät eine Gefahr.

Ein wei­te­rer Schü­ler Schmitts, Armin Moh­ler (1920–2003), hat sich bereits 1949 in sei­ner Dis­ser­ta­ti­on zur Kon­ser­va­ti­ven Revo­lu­ti­on als Geg­ner der Geschichts­phi­lo­so­phie, die er für eine Fort­schritts­ideo­lo­gie hielt, bekannt. 1963 ging er in sei­nem Buch Die Fünf­te Repu­blik über das Frank­reich de Gaulles noch einen Schritt wei­ter, indem er die Aus­sa­ge »Es gibt kei­ne Geschichts­phi­lo­so­phie« als einen für ihn zen­tra­len Gedan­ken mar­kier­te. Er schreibt die­sen Gedan­ken der anti­kom­mu­nis­ti­schen Rech­ten zu, die damit gegen die Auf­ga­be der Kolo­nie Alge­ri­en durch Prä­si­dent de Gaul­le oppo­nier­te. Gemeint war damit eine vol­un­t­a­ris­ti­sche Posi­ti­on, die in der Geschich­te weder Geset­ze noch eine Ent­wick­lung sehen wollte.
Dem­zu­fol­ge konn­te es auch kei­ne Not­wen­dig­keit geben, auf Alge­ri­en zu ver­zich­ten. Im Gegen­teil: Ent­schlos­se­ne kön­nen der Geschich­te jeder­zeit eine neue Rich­tung geben, wäh­rend einer, der Gesetz­mä­ßig­kei­ten in der Geschich­te annimmt, damit nur zeigt, daß er sich gegen das Han­deln ent­schie­den habe. Wie eine Ent­schei­dung im Ein­zel­fall aus­zu­se­hen­hat, ist damit nicht gesagt.
Moh­ler inter­pre­tier­te de Gaulles Ent­schluß – anders als des­sen Fein­de – als Befrei­ungs­schlag für Frank­reich, das so in Euro­pa wie­der an die alte Vor­macht­stel­lung anknüp­fen kön­ne. Der Satz »es gibt kei­ne Geschichts­phi­lo­so­phie« ist also als vol­un­t­a­ris­ti­sche Behaup­tung Moh­lers zu ver­ste­hen: Es soll sie ein­fach nicht geben.

Vor einem ähn­li­chen Dilem­ma stand auch der größ­te Geschichts­phi­lo­soph, den die Rech­te im 20. Jahr­hun­dert her­vor­ge­bracht hat: Oswald Speng­ler (1880–1936). Nach­dem er im Früh­jahr 1918 sei­nen ers­ten Band des Unter­gangs des Abend­lan­des ver­öf­fent­licht hat­te, sah er sich mit dem Vor­wurf des Pes­si­mis­mus kon­fron­tiert, obwohl er durch­aus vol­un­t­a­ris­ti­sche Poin­ten gesetzt hatte. 

Er sah sich ver­an­laßt, mit einer Ent­geg­nung dar­auf zu reagie­ren, da sich das Erschei­nen des zwei­ten Ban­des, der nach Speng­lers Auf­fas­sung die Miß­ver­ständ­nis­se aus­räu­men wür­de, ver­zö­ger­te. Neben dem Titel, der für Ver­wir­rung sorg­te und den Speng­ler nicht mit Kata­stro­phe, son­dern mit »Voll­endung« über­setzt wis­sen woll­te, hät­te das Buch zudem auch die fal­schen Leser gefun­den. Speng­ler hat­te sich für sein Buch nicht Grüb­ler, son­dern täti­ge Men­schen als Leser gewünscht, da sich sei­ne Phi­lo­so­phie an die Han­deln­den rich­te: »Der Täti­ge lebt in und mit den Din­gen. Er braucht kei­ne Bewei­se, er ver­steht sie oft nicht einmal.«
Pro­ble­ma­tisch wird es, wenn Speng­ler den zen­tra­len Gedan­ken sei­nes Wer­kes, den Schick­sals­ge­dan­ken, zur Fra­ge des Mit­füh­lens, nicht des Ver­ste­hens erklärt. Nur in einem Tief­en­er­leb­nis kön­ne man erfas­sen, was Zeit und damit Geschich­te in Bezug auf das Schick­sal bedeu­te, und wie die Rol­le des Rau­mes und sei­ne Kau­sa­li­tät in der Gesamt­schau zu wer­ten sei. Wei­ter­hin bedür­fe es des phy­sio­gno­mi­schen Takts als der Fähig­keit, den Gang der Welt zu erspü­ren. Den hät­ten nur der Staats­mann und der His­to­ri­ker, die davon aus­ge­hend der sys­te­ma­ti­schen Metho­de Speng­lers fol­gen könn­ten, um in der Geschich­te Ent­spre­chun­gen zur Gegen­wart zu finden.

Falsch ver­stan­den wor­den sei auch der Rela­ti­vis­mus, der nichts mit Phy­sik zu tun habe, son­dern eine Beja­hung der Schick­sals­idee ist: »Das Ein­ma­li­ge, Unwi­der­ruf­li­che, nicht Wie­der­keh­ren­de alles Gesche­hens ist die Form, in wel­cher das Schick­sal vor das mensch­li­che Auge tritt.«
Die Welt­ge­schich­te sei kei­ne Ein­heit, son­dern eine Grup­pe von acht hohen Kul­tu­ren, die ähn­lich geglie­dert, aber völ­lig unab­hän­gig von­ein­an­der sind. Da eini­ge von ihnen bereits unter­ge­gan­gen bzw. voll­endet sei­en, kann man für das noch exis­tie­ren­de Abend­land ermit­teln, wie es wei­ter­ge­hen wird. Dem Ein­wand, das aber gera­de das doch pes­si­mis­tisch sei, wenn die Zukunft schon fest­ste­he, begeg­net Speng­ler mit dem Ver­weis auf den Maß­stab der Geschich­te. Nur wer davon aus­ge­he, daß des Men­schen Glück in einer als Offen­heit gedach­ten Frei­heit lie­ge, kön­ne so den­ken. Das sieht Speng­ler aber ganz anders. 

Sein Frei­heits­be­griff ist ein ganz ande­rer, der die Frei­heit des Men­schen gera­de dar­in sieht, sein Schick­sal anzu­neh­men und zu gestal­ten. Die­se schar­fe The­se ist vor allem vor dem Opti­mis­mus der Vor­kriegs­zeit zu ver­ste­hen. Die­se Vor­be­hal­te gegen den Opti­mis­mus, die auch heu­te als Pes­si­mis­mus miß­ver­stan­den wer­den, sind ein wie­der­keh­ren­des Moment rech­ten Geschichts­den­kens bis in die heu­ti­gen Tage, das nicht sel­ten, man den­ke nur an David Engels oder Samu­el Hun­ting­ton oder Max Otte, auf den Spu­ren Speng­lers wandelt. 

Geschichts­den­ken bedeu­tet ein Klar­wer­den über die eige­ne Lage und ein Abschät­zen der Ent­wick­lungs­mög­lich­kei­ten. Das ist auch bei Rolf Peter Sie­fer­le (1949–2016) der Fall, um einen neue­ren Ver­tre­ter ins Feld zu füh­ren. Sein 1994 erst­mals erschie­ne­nes Buch Epo­chen­wech­sel ist nach sei­nem Frei­tod vor drei Jah­ren wie­der auf­ge­legt wor­den und gibt uns die Mög­lich­keit, sei­ne Besich­ti­gung des »Schlacht­fel­des der Geschich­te« noch ein­mal auf ihren Bestand hin zu prü­fen. Vor dem Hin­ter­grund der Zei­ten­wen­de von 1990 ent­wi­ckelt er ein Pan­ora­ma der gegen­wär­ti­gen Her­aus­for­de­run­gen, das von den Grund­la­gen der Gesell­schaft, über die Glo­ba­li­sie­rung bis hin zu den Fron­ten der Umwelt­po­li­tik reicht. 

Beson­ders inter­es­sant ist für unse­ren Zusam­men­hang aber das Schluß­ka­pi­tel über die Gren­zen des Uni­ver­sa­lis­mus, da wir von der Geschichts­phi­lo­so­phie auch eine Ant­wort auf die drän­gends­te Fra­ge erwar­ten dür­fen: Kön­nen wir unse­re Art zu leben, unse­re Iden­ti­tät, unse­re Kul­tur im Sturm des Uni­ver­sa­lis­mus bewah­ren? Dar­auf gibt Sie­fer­le eine salo­mo­ni­sche Ant­wort: Es wird uns wei­ter­ge­ben, aller­dings nur noch als funk­tio­nie­ren­den Teil der Welt­ma­schi­ne. Aber Sie­fer­le ist wenigs­tens in der Lage, die Fron­ten klar zu benen­nen, die eben zwi­schen Uni­ver­sa­lis­mus und Par­ti­ku­la­ris­mus verlaufen.

Der huma­ni­tä­re Uni­ver­sa­list zer­stört durch sei­ne Gleich­heits­ideo­lo­gie die trag­fä­hi­gen Struk­tu­ren sei­nes Sozi­al­staats­pa­ra­die­ses. Der natio­na­le Par­ti­ku­la­ris­mus ist nicht in der Lage, sich in einer uni­ver­sa­lis­tisch geson­ne­nen Welt argu­men­ta­tiv Gehör zu ver­schaf­fen und wird durch sei­ne Abschot­tung zum Objekt des­sen, was er ver­mei­den woll­te. Der Uni­ver­sa­lis­mus kommt eben­so an sei­ne Gren­zen, weil er in einen Wider­spruch gerät, der am Beginn des geschichts­phi­lo­so­phi­schen Uto­pis­mus noch nicht gege­ben war: Er kann nicht mehr bean­spru­chen, für die Mehr­heit zu spre­chen, da der Gegen­satz zwi­schen den Men­schen der Wohl­stands­zo­nen und dem End­ziel glo­ba­ler Gerech­tig­keit ein tota­ler ist. 

Er kann daher kei­ne Inter­es­sen mehr ver­tre­ten, son­dern nur noch appel­lie­ren, daß man ver­zich­ten und sich nivel­lie­ren sol­le: »Der Par­ti­ku­la­ris­mus hat den Vor­zug, kon­kre­te Inter­es­sen ver­tre­ten zu kön­nen. Der Uni­ver­sa­lis­mus ver­tritt dage­gen nur Prin­zi­pi­en.« Das Para­dox sieht Sie­fer­le dar­in, daß bei­de nicht mehr in der Lage sind, Inter­es­sen und Prin­zi­pi­en zu verbinden. 

Das gilt eben auch für den Par­ti­ku­la­ris­mus, der irgend­wie ahnt, auf einem ver­lo­re­nen Pos­ten zu kämp­fen, wohin­ge­gen der Uni­ver­sa­lis­mus, das erle­ben wir stän­dig, noch immer in der Lage ist, die Mas­sen zu mobi­li­sie­ren. Die­ser Schwung kommt nicht nur aus der gut geöl­ten Wirt­schafts­ma­schi­ne, die eben immer noch läuft, son­dern auch aus der mora­lisch siche­ren Posi­ti­on, mit der der Uni­ver­sa­lis­mus ganz selbst­ver­ständ­lich gegen Dun­kel­män­ner und Natio­na­lis­ten kämpft. 

Ganz offen­sicht­lich ist der Impuls der Geschichts­phi­lo­so­phie im Sin­ne der Fort­schritts­ideo­lo­gie noch nicht verpufft.
Ernst Nol­te (1923–2016) hat in sei­nem gro­ßen Spät­werk über die His­to­ri­sche Exis­tenz eben die­sen Impuls als eine der his­to­ri­schen Exis­ten­zia­li­en bezeich­net, wenn er von der »ewi­gen Lin­ken« spricht, die zu allen geschicht­li­chen Zei­ten exis­tiert habe. Aber er hält es im Gegen­satz zu Sie­fer­le für nahe­zu aus­ge­schlos­sen, daß sich die gro­ße Mehr­heit der
Bevöl­ke­rung der ers­ten Welt dem lin­ken Ruf nach all­ge­mei­ner Gleich­heit anschließt und ihr Ver­mö­gen aufteilt.
Er sieht sogar hier die größ­te Mög­lich­keit für eine mili­tan­te Gegen­be­we­gung, so daß letzt­lich der Grund­im­puls der Lin­ken wie­der eine beson­ders inten­si­ve Geschichts­pha­se als Gegen­re­ak­ti­on her­vor­brin­gen könn­te und alles Gere­de vom »Ende der
Geschich­te« Lügen stra­fen wür­de. Nol­te betont hier die mensch­li­che Nei­gung, die Din­ge zu hin­ter­fra­gen und auch den schein­bar idea­len Zustand für ver­bes­se­rungs­wür­dig zu halten.
Doch der Bedarf nach Ori­en­tie­rung wird auf die­se Art nur schwer gedeckt wer­den. Nur weni­ge sind in der Lage, nur aus dem Nega­ti­ven zu leben, selbst wenn es eine sta­bi­le Min­der­heit gibt, die ihnen folgt. Die Ana­lo­gie, daß die geschichts­phi­lo­so­phi­schen Mora­lis­ten am Beginn ihres Sie­ges­zugs auch in der Min­der­heit waren und nur behaup­te­ten für die Mehr­heit zu spre­chen, bie­tet ange­sichts der grund­sätz­li­chen Ver­schie­den­heit des Denk­an­sat­zes nur wenig Trost und Hoffnung. 

Aber um Hoff­nung ist es unse­rer Geschichts­phi­lo­so­phie nicht zu tun. Die Geschich­te ist kein Sana­to­ri­um, in dem man auf seine
Behand­lung und spä­ter den Tod war­tet, son­dern Schau­platz von Kämp­fen, ein ewi­ges Wagen und Ver­su­chen, ein Ris­kie­ren und Hin­ein­sprin­gen in eine Situa­ti­on, wenn sich die­se öffnet. 

Alle genann­ten Wer­ke kann man hier bestel­len.

Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

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