Wer auf den Begriff des christlichen Abendlandes rekurriert, wird meist darauf aufmerksam gemacht, daß es sich hierbei um eine anachronistische Sichtweise handelt – nicht nur wegen der religiösen Konnotation.
Tatsächlich darf ein Großteil der Deutungen des eigenen Kulturraumes (ungeachtet der Tatsache, daß der Ausdruck »Abendland« auf das frühe 16. Jahrhundert zurückgeht) als Ex-post-Darstellungen gelten. Das bedeutet, daß sie zu einem Zeitpunkt verfaßt wurden, als die kulturelle Blütezeit schon vorüber war. Das gilt für Novalis’ im Trauergestus gehaltenen Essay Die Christenheit oder Europa ebenso wie für den Bestseller des agnostischen Protestanten Oswald Spengler, der die Erlahmung der einst kulturerschaffenden Kräfte in eine geistvolle wie angreifbare Erzählung packte. Das Lebensgefühl vieler Menschen nach dem Ersten Weltkrieg hat er wie kein Zweiter getroffen.
Die Perspektive des (bisweilen melancholischen) Rückblicks in wenig hoffnungsvollen Zeiten ist auch charakteristisch für die AbendlandRenaissance der 1920er und 1950er Jahre. Hauptsächlich Katholiken wie der Romanist Hermann Platz waren es, die sich um die kurzzeitig erscheinende Zeitschrift Abendland sammelten. Besonders die Erbfeinde Deutschland und Frankreich sollten sich versöhnen, um für eine neue Blütezeit Europas zu sorgen, dessen Überlegenheit angesichts des Aufstiegs der »jungen« Mächte USA und Sowjetrußland ein für allemal Geschichte zu sein schien.
Noch eindringlicher stellte sich nach 1945 die Frage, wie Deutschland zurückkehren könne in die Reihe der Kulturvölker Europas, so das übliche Narrativ. Der Abendlandgedanke bot weiter die Möglichkeit der Abgrenzung gegen den Bolschewismus. Die »Abendländische Aktion«, die Zeitschrift Neues Abendland und die »Abendländischen Akademien« in Eichstätt stellten die für das Wirken herausragender Denker nötige Infrastruktur zur Verfügung. Zu den emsigsten Aktivisten solcher Kreise
zählte der CSU-Politiker Gerhard Kroll. Diese Zirkel sahen die junge Bundesrepublik und das Grundgesetz nicht als das »Ende der Geschichte«. Zu den alternativen Konzepten zur realen Verfassung zählten Vorstellungen einer berufsständischen Ordnung, die in einer bestimmten Variante während der Regierungszeit der Bundeskanzler Engelbert Dollfuß und Kurt Edler von Schuschnigg in Österreich praktisch umzusetzen versucht wurde. Als Ideengeber fungierte besonders der Philosoph und Ökonom
Othmar Spann. Unter anderem diskutierten die Erneuerer des Abendlandes ein parlamentarisches Zwei-Kammern-System. Bis in die praktische Politik reichten ihre Einflüsse.
Ab Mitte der 1950er Jahre gerieten die Vertreter dieses Gedankenguts immer stärker in die Kritik. 1958 stellte die Zeitschrift Neues Abendland ihr Erscheinen ein. Zunehmender Wohlstand und liberal-individualistische Tendenzen breiterer Bevölkerungsschichten waren (nebender Erosion des katholischen Milieus) die Hauptgründe für das absehbare Ende dieser Abendland-Renaissance.
Nach den 1950er Jahren ist das Wort »Abendland« aus Politikerreden praktisch verschwunden. Erst in den letzten Jahren etabliert sich der Topos als »Identitätsmarker« (Herfried und Marina Münkler) erneut und reizt das Establishment zum Widerspruch. Bereits vor den 2010er Jahren waren (häufig subkutan) Auseinandersetzungen um das eigene kulturelle
Erbe wahrzunehmen. Als Beispiel sind Kontroversen um islamische Einflüsse im Kontext der hochmittelalterlichen Scholastik zu erwähnen. Sylvain Gouguenheims Abhandlung Aristoteles auf dem Mont Saint-Michel (2011), die bei ihrem Erscheinen im französischen Original für heftige politisch-korrekte Einsprüche sorgte, belegt, daß aus dem islamischen Kulturraum geflüchtete Mönche auf dem Mont Saint-Michel die »Politik« und andere Schriften des Aristoteles ins Lateinische übersetzt haben. Damit sind islamische Einflüsse auf die europäische Kultur des Mittelalters zumindest relativiert.
Weiterhin ist auf die Deutungskämpfe um Homer und Troja seit rund 30 Jahren aufmerksam zu machen. Eine Richtung der Debatte, die vom mittlerweile verstorbenen Tübinger Archäologen Manfred Korfmann angeführt worden ist, identifiziert Troja mit der ehemaligen hethitischen Metropole Wilusa. Die Botschaft im Subtext ist offenkundig: Ohne maßgebliche orientalische Einflüsse keine kulturelle Genese des Okzidents!
Unter den Vertretern katholischen Abendland-Denkens in den 1920er Jahren ragt der Schriftsteller Theodor Haecker heraus. Er stellte zum 2000. Geburtstag des römischen Nationaldichters Vergil diesen als »Vater des Abendlandes« heraus. Etliche andere Gelehrte wie Rudolf Borchardt und Hugo von Hofmannsthal hoben ebenfalls die Bedeutung Vergils für die abendländische Kultur hervor. Haecker zog die Grundlinien der Vergil-Rezeption aus: Sie reicht von Augustinus über Dante und Veldeke und Murner bis T.S. Eliot und Hermann Broch.
Haecker zufolge könne Vergil Markstein sein »in dem großen geheimnisvollen Prozess der Selbstbestimmung des Abendlandes, einer Restauration des Okzidents, wie sie dem tiefahnenden Geist« eines Hofmannsthals vorgeschwebt sei.
Zugänge zum Abendland gab es in der Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg auch aus theologisch-religionsphilosophischer Perspektive. Romano Guardini legte 1950 seine kritischen Betrachtungen Das Ende der Neuzeit vor. In dieser Publikation, die an einigen Stellen an René Guenons Traktat Die Krisis der Neuzeit erinnert, skizziert er die prometheischen Grundkräfte der Neuzeit als langsam erlahmend.
Die Ressourcen der Moderne seien allmählich erschöpft. Ab dem 14. Jahrhundert bereits erkennt Guardini einen Niedergang dessen, was das Mittelalter einst groß gemacht habe. Neuzeit zeichnet sich für den Autor in erster Linie dadurch aus, daß sie verschiedene Facetten eines autonomen Bewußtseins (in Formen von Natur, Kultur und Persönlichkeit) hervorgebracht habe. Gott verliere auf diese Weise seine exzeptionelle Position. Guardini prophezeit, daß »der nicht-humane Mensch und die nicht natürliche Natur … einen Grundzug« ausmachten, auf dem das »kommende Dasein« aufbauen werde.
Kaum eine Zeitdiagnose bringt die kulturpessimistischen Stimmungslagen der Zeit so sehr auf den Begriff wie die des österreichischen Kunsthistorikers Hans Sedlmayr. Methodisch steht er der Wiener Schule seiner Lehrer nahe (Alois Riegl, Julius von Schlosser), die die Symptome und Symbole der Kunst als Hinweis auf den Zustand der Kultur generell, insbesondere aber auf die Stellung des Menschen interpretierten. Sedlmayr hat viele Studien über abendländische Kunst und Künstler verfaßt, etwa über die Entstehung der Kathedrale, über Fischer von Erlach und Borromini. Abendländische Kunstüberlieferung und Moderne kontrastiert er mit Vorliebe, so das Gesamtkunstwerk der Kathedrale mit der »Zerspaltung der Künste« ab dem 18. Jahrhundert.
Sedlmayr schlägt am Ende seiner Untersuchung über die Entstehung der Kathedrale den Bogen von der himmlischen zur irdischen Stadt, wie sie beispielsweise beim führenden Revolutionsarchitekten Claude-Nicolas Ledoux zum Vorschein kam. Besonders ab 1760 sieht Sedlmayr einen Zug der Kunstmotive hin zum Rationalen und Abstrakten. Ab diesem Zeitpunkt werden Kirchen und Schlösser als Zentralaufgabe der Kunst allmählich verdrängt. Es folgen in immer kürzeren Zeiträumen andere Themen, vom Landschaftsgarten bis zur Fabrik. In den äußeren Symptomen erkennt Sedlmayr eine »innere Revolution von unvorstellbaren Ausmaßen … die Ereignisse, die man als ›Französische Revolution‹ zusammenfaßt, sind selbst nur ein sichtbarer Teilvorgang dieser ungeheuren inneren Katastrophe. Es ist bis heute nicht gelungen, die dadurch geschaffene Lage zu bewältigen, weder im Geistigen noch im Praktischen«.
So beginnt Sedlmayrs Klassiker Verlust der Mitte. Diese Mitte wird nicht genau bestimmt. Gemeint ist wohl der angestammte Platz Gottes. Dessen Negierung führe »fort vom Menschen« und »fort vom Humanismus«.
Sedlmayr stellt exemplarisch die Zerstörung umfassender metaphysisch-religiöser Sinnstrukturen durch die gottesmörderische Moderne heraus. Die dadurch existierende Haltlosigkeit der ex-zentrischen Welt werde mittels künstlicher Symboliken aus Politik, Technik und Kultur einzudämmen versucht. Diese Substitutionsprozesse werden mustergültig in den globalisierungstheoretischen Studien Peter Sloterdijks dargestellt.
Bei Apologeten der Moderne wie Werner Haftmann, Theodor W. Adorno oder Willi Baumeister riefen die großinquisitorischen Urteile Sedlmayrs heftigen Widerspruch hervor. Der britische Historiker Christopher Dawson beschreibt das reichhaltige abendländische Erbe in umfangreichen historiographischen Untersuchungen. Anders als sein prominenter Landsmann Arnold Toynbee
scheute er vor positiven Werturteilen über das geistige Erbe Europas nicht zurück. In seiner 1945 in deutscher Sprache auf den Markt gekommenen Veröffentlichung Gericht über die Völker greift er zur Erklärung der Katastrophe nicht auf einen spezifischen Verlauf der deutschen Geschichte zurück, wie es damals üblich war.
Stattdessen sucht er die entscheidenden Faktoren zur Erklärung der Ereignisse im Niedergang des christlichen Glaubens, der in ganz Europa bemerkbar sei. Das Böse sieht er »ent-persönlicht«. Von Saint-Just und Robespierre schlägt er einen Bogen zu Feliks Dzierżyński, dem ersten Leiter der Tscheka.
Heutige Leser sind über einige Interpretationen Dawsons irritiert: Er stellt »Demokratie und totalen Krieg« nebeneinander. Das verbindende Glied zwischen beiden liegt aber auf der Hand: die Massen, die man zum Guten wie zum Schlechten lenken könne. Liberale Demokratie kann unter bestimmten Umständen schnell in eine totalitäre umschlagen.
Hier trifft sich Dawson mit den Ergebnissen der Abhandlung des israelischen Historikers Jacob Talmon Ursprünge der Totalitären Demokratie. Dawson verortet das Übel tiefer als nur bei Hitler und seinen kriminellen Spießgesellen. Er führt die großen kulturkritischen Seismographen der Barbarei auf, die schon im 19. Jahrhundert ein zukunftsweisendes Bild von der Brüchigkeit der christlichen Grundlagen der westlichen Zivilisation entworfen haben.
Ausführlich unterzieht er den Liberalismus einer kritischen Prüfung. Dawson differenziert den älteren Liberalismus, der viele Bestandteile aus der christlichen Kultur übernimmt, von seiner neueren Variante, die diese Zusammenhänge leugnet.
Dieser Zug läßt sich bei seinen historiographischen Werken beobachten, etwa in seinem Buch Die Gestaltung des Abendlandes. Für ihn lieferte das römische Reich die Daseinsform des Abendlandes. Die katholische Kirche, der die Verschmelzung von Klassik und Moderne gelungen sei, habe jedoch die geistige Einheit bewerkstelligt. So sei es zur Aneignung dieses Erbes in Wissenschaft und Philosophie gekommen. Man vergleiche den Lektüreplan eines höheren Schülers im 18. Jahrhundert mit dem eines gebildeten Römers im ersten nachchristlichen Jahrhundert oder mit der gängigen Lektüre im Mittelalter. Dawson beschreibt die diversen Kulturen, etwa auch die im oströmischen Raum, als Einheit.
Auch andere Verteidiger der katholischen Tradition wie der jüngst neuentdeckte Schriftsteller Hilaire Belloc leiten den Niedergang des Abendlandes aus häretischen Entwicklungen ab, zu denen primär der Glaubensabfall der Modernen zählt.
Welche Bedeutung kommt den Vertretern der (wenn auch kurzzeitigen) Abendland-Renaissance bald nach dem Ende beider Weltkriege zu?
Zum letzten Mal konnte eine weder links noch liberal anzusiedelnde Strömung zumindest zeitweilig kulturelle Hegemonie erlangen. Alle »Abendländer« sahen den Trend zur Säkularisierung und Marginalisierung des Glaubens in der Neuzeit als Grundübel der Gesellschaft. Sie teilten die Vorstellung, daß diese Entwicklung sich stufenweise vollzogen habe: Vorbereitet durch die Reformation und gipfelnd in der Französischen Revolution mit ihren Christenverfolgungen, führt aus dieser Perspektive eine direkte Traditionslinie zu den gottlosen totalitären Regimes und ihren Ideologien im 20. Jahrhundert.
Eine solche Diagnose war grundsätzlich auch bei nichtkatholischen Konservativen konsensfähig. Viele Repräsentanten der Konservativen Revolution teilten bis zu einem gewissen Grad die Diagnose der Abendländer, zumindest aber deren damit verbundene kulturpessimistische Folgenabschätzungen. Als Konsequenzen der Gottlosigkeit wurden die »Verwirtschaftlichung des Lebens« (Othmar Spann), die »Selbstzerstörung der Völker« (Paul Ernst), die »Kulturlosigkeit des zivilisatorischen Zeitalters« (Jung) und so fort genannt. Wie die Abendländer strebten auch diese Protagonisten eine Revolution zur Wiederherstellung dauerhaftgültiger Formen an.
Der Kanon der erwähnten Gelehrten umfaßt Theoretiker, die ein kulturprägendes, modernekritisches Christentum favorisieren, das seinerzeit zum letzten Mal eine breitere gesellschaftliche Basis besessen hat. Moderne-Kritikern wie Guardini und Sedlmayr mußte man wenigstens konzedieren, daß sie die Moderne ernst genommen haben, auch hinsichtlich ihrer destruktiven Potenzen. Diesen Grundzug (in aller Ambivalenz) zu erfassen, ist Carl Schmitt gelungen, als er 1950 ein letztes Mal im großen literarischen Stil die Okkupation außereuropäischer Gefilde rechtfertigte: »Es ist also ganz falsch, zu sagen ebenso gut wie die Spanier die Azteken und Inkas entdeckt haben, hätten diese umgekehrt Europa entdecken können. Den Indianern fehlte die wissensmäßige Kraft der christlicheuropäischen Rationalität, und es ist nur eine lächerliche Uchronie, sich auszumalen, daß sie vielleicht ebenso gute kartographische Aufnahmen von Europa hätten machen können, wie die Europäer solche von Amerika gemacht haben. Die geistige Überlegenheit war ganz auf Seiten der Europäer und zwar so stark, daß die neue Welt einfach ›genommen‹ werden konnte.«
Es wäre sicher kein kurzes Referat, die Folgen dieses Verlusts an kulturgenerierender Potenz des Abendlandes und der Abendländer in der unmittelbaren Gegenwart auch nur skizzenhaft darstellen zu wollen.