Die Stützpfeiler der Nation sind morsch geworden.
Doch inmitten dieser Krise regiert die Infantilität. Blickt man auf etliche gesellschaftlichen Phänomene der Industrie- und Konsumgesellschaften westlicher Provenienz, muß man zwangsweise an das bekannte Meme »Hard Times Create Strong Men – Strong Men Create Good Times – Good Times Create Weak Men – Weak Men Create Hard Times« denken.
Der Erfolg der Ladenkette »Elbenwald« erbringt nur einen der vielen empirischen Beweise für den infantilen Hang des »Westens«. Nun hat der Autor und Journalist (vormals Cicero, mittlerweile NZZ) Alexander Kissler diesem Phänomen ein ganzes Buch gewidmet: Die infantile Gesellschaft.
Sezession-Literaturredakteurin Ellen Kositza empfiehlt das neuste Werk von Kissler in Ihrem beliebten Buchvorstellungs-Vlog ausdrücklich:
Dieses Buch handelt von zwei Seelen in unser aller Brust, auch in meiner. Ich muß Sie darum warnen: Auch von mir wird in diesem Buch die Rede sein.
Alexander Kissler war jedoch nicht der erste, der sich mit dem Phänomen der Infantilisierung der Gesellschaft auseinandergesetzt hat. Kositza hat der Machtergreifung der Kinder bereits in der Sezession 6 einen ganzen Artikel gewidmet und erkennt selbst in der political correctness einen Ausdruck kindlicher Verhaltensweisen:
Das Phänomen der »political correctness«, das im letzten Jahrzehnt die westliche Welt geprägt hat, ist ebenfalls ein deutliches Symptom. Die Sprache der Väter wird als unrecht und mit Schuld behaftet empfunden und folglich erneuert – mittels eines Rasters von Ausweichmanövern, das eindeutige Zuweisungen stets scheut und diese Vermeidungshaltung zum System erklärt. Auch das ist infantil.
Weiter sieht sie den Kapitalismus dieser Entwicklung Pate stehen:
Dabei gehen (…) beruflicher Erfolg und private Regressionstendenzen gern Hand in Hand: Der Zwang zu Mobilität und unbedingter Flexibilität vermag die Ausbildung eines festen Wesenskerns zu hemmen und allgemeine Bindungslosigkeit zu fördern.
Ganz so zahnlos scheinen die infantilisierten Nerds dann aber auch wieder nicht zu sein. Denn seit ein paar Tagen blasen sie zur digitalen Offensive gegen die Mächtigen des Finanzmarktkapitalismus: Hedgefonds. Begonnen hat die Affäre in dem Unterforum r/wallstreetbets auf »Reddit« und mit den Aktien des Videospielehandels GameStop.
GameStop war eine erfolgreiche Ladenkette gewesen, die wie viele andere Branchen auch, massiv unter der Digitalisierung leidet und ihre glanzvollen Zeiten schon lange hinter sich hat. Speziell im Videospielsegment haben digitale Plattformen wie Steam oder Epic den Großteil der Distribution von Spiele-Software übernommen. Um die 2015 noch für 44 Euro gehandelte GameStop-Aktie sah es zuletzte sehr düster aus: Auf gerade noch fünf Euro belief sich ihr Wert 2020. Corona tat sein übriges.
Doch dann trat ein neuer Investor, Ray Cohen, auf den Plan und es bestand die reelle Möglichkeit einer Trendwende. Indes sah ein Hedgefonds, Melvin Capital, die Sache gänzlich anders und wettete auf fallende Kurse. Wie man solche »Wetten« plaziert und daraus noch Profit schlagen kann, hat das junge, konservative Netzmagazin konflikt in einem eigenen Artikel zum »Digitalen Klassenkampf« ausgeführt:
Dies tat sie [die Investmentfirma Melvin Capital] , indem sie massiv sog. short sales (“Leerverkäufe”) tätigte. Einfach erklärt leiht man sich dabei eine Aktie, verkauft diese zum gegenwärtigen Preis und verpflichtet sich, sie zu einem bestimmten Datum zurückzukaufen. Wird die Aktie etwa zu einem Stand von 30 € “leer” verkauft und sinkt zum Zeitpunkt des Rückkaufes auf 15 €, hat der short seller 15 € Profit gemacht. So lässt sich aus dem Untergang eines Unternehmens (und der damit verbundenen Existenzen) ein schöner Profit schlagen.
Diese Praxis hat den Hedgefonds ein schlechten Leumund eingebracht: Nicht zu unrecht wirft man ihnen vor, wie Heuschrecken über Unternehmen herzufallen und koordiniert deren Untergang herbeizuführen, um dabei mächtig abzukassieren.
konflikt sieht in diesem Fall eine paradigmatische Gegenüberstellung von »spekulativem Kapital (das auf weitere Monopolisierung wettet) und innovativem Kapital (das auf Wachstum durch dezentrale & flexibilisierte Marktwirtschaft setzt)«, wobei der GameStop-Investor Ray Cohen das innovative Kapital verkörpert, während Melvin Capital für das spekulative Kapital steht.
Hier kommen dann die GameStop-Nerds ins Spiel bzw. wurde im besagten Unterforum auch über das Spielen der Nostalgiekarte im Stile »Ihr macht mir meinen guten alten Videospielladen nicht kaputt!« eine digitalte Zusammenrottung von Kleinstanlegern mobilisiert – natürlich mit eigenem Gewinninteresse –, die mit Hilfe des Börseninstruments des Short Squeeze zum finanzkapitalistischen Gegenangriff ausholte. Hierzu wieder konflikt:
Nach einem ersten Kurssprung vom 13. Januar (von dem noch nicht abschließend gesagt werden kann, ob er mit dem neu erstarkten Vertrauen in die Marke zusammenhängt oder Ergebnis einer gezielten Manipulation war, um die Leerverkäufe lukrativer zu gestalten), stieg der Kurs insbesondere vom 21. bis zum 27. Januar massiv an (43 € auf 347 €), weil r/wallstreetbets-Nutzer gezielt immer und immer wieder in die unter $gme am NASDAQ gehandelte Aktie investierten.
Das beabsichtigte Ergebnis: Melvin Capital, und damit symbolisch das US-Finanzkapital, in den Ruin zu treiben. Steigt nämlich infolge eines Leerverkaufes der Kurs wider Erwarten, macht der short seller beim Rückkauf einen Verlust; bei stark steigenden Kursen muss er zurückkaufen und die geliehene Aktie erstatten, weil die (steigenden) Sicherheiten gegenüber dem Verleiher sonst überhand nehmen, er vertraglich geregelt ab einer gewissen Verlustschwelle automatisch zurückkauft (seine “Positionen schließt”), usw.
Steigt die Nachfrage (und damit der Kurs) nun aber so massiv, dass das Angebot auf dem Markt sie nicht mehr decken kann, ist der short seller gezwungen, immer höhere Preise für seine (erzwungenen) Rückkäufe zu bezahlen und somit seine eigenen Verluste in die Höhe zu treiben. Sein Investmentkapital fließt in diesem Moment direkt in die Taschen der Anleger, die seine zuvor leerverkaufte Aktie gekauft haben. Dieser sog. short squeeze quetscht den Geldsack des short seller also aus und transferiert sein Kapital in die Taschen der Investoren.
Genau das gelang den Kleinanlegern von r/wallstreetbets und wuchs darüberhinaus zum Börsen-Flächenbrand an, sodaß nicht mehr nur die Leerverkäufe von Melvin Capital betroffen waren, sondern auch weitere häufig leerverkaufte Aktien in das Visier der Short Squeeze-motivierten Kleinanleger gerieten. Reuters sprach von 70 Milliarden Euro Verlust, den Hedgefonds durch diese Taktik zu verzeichnen hätten.
Doch diesem freien Markttreiben und der Veranschaulichung, welche Auswüchse der Finanzkapitalismus hervorbringt, wurde ein jähes Ende bereitet:
Am 27. Januar kündigte NASDAQ an, den Handel mit Aktien künftig zu stoppen, wenn sich Kleinanleger in den sozialen Medien zum Kauf absprechen; gleichzeitig sperrten diverse Online-Broker und Trading-Apps den Kauf der wichtigsten short squeeze – Aktien.
Da war es dann vorbei mit dem »freien Markt« – die eigenen Instrumente waren den großen Investmentfirmen schmerzlich unangenehm geworden. Was macht diesen Fall nun so brisant? Er zeigt exemplarisch, daß Macht jeden Markt bestimmt und seine Spielregeln festlegt. Vollkommen egal für wie »frei« er erklärt wird und ursprünglich konzipiert wurde. Unabhängig davon, ob einzelne Individuen oder Kollektive auf dem Markt agieren, selbst wenn man ihn ungeordnet, ohne Regularien aufstellt, werden die Akteure ihn zu Ihren Gunsten zu manipulieren wissen.
Wer den Finanzeklat in seiner Gesamtheit nachvollziehen möchte, der sollte unbedingt den Netzartikel von konflikt lesen.
bb
Das ist richtig, allerdings nicht weiter tragisch, denn Betrüger werden durch den freien Markt systematisch aussortiert und Verluste geben wichtige Signale zur Umstrukturierung, was das System langfristig resilienter und die Marktteilnehmer umsichtiger macht. Regularien sind mindestens überflüssig und meist schädlich.