C.G. Jung und die Neue Rechte

von Sophie Liebnitz
PDF der Druckfassung aus Sezession 94/Februar 2020

Iko­nen haben es an sich, auf den Altä­ren und ver­dun­kelt vom Ker­zen­rauch oft nicht bis in alle Ein­zel­hei­ten unter­scheid­bar zu sein. Das­sel­be Schick­sal trifft (kul­tu­rel­le) Leit­fi­gu­ren, und, wenn sie ein volu­mi­nö­ses Werk hin­ter­las­sen, auch die­ses. Man bewun­dert schnel­ler als man liest.

Der Psy­cho­lo­ge C.G. Jung hat nun zum zwei­ten Mal in der Geschich­te sei­nes Nach­le­bens Popu­la­ri­tät in einer Jugend­kul­tur erlangt: In der Hip­pie­be­we­gung und im Ame­ri­ka­ni­schen New Age eine Kult­fi­gur, gelang­te er auf viel­leicht uner­war­te­te, aber per­fekt zeit­ge­mä­ße Art zu sei­ner zwei­ten pop­kul­tu­rel­len Auf­er­ste­hung: Der kana­di­sche Psy­cho­lo­ge und Kul­tur­kri­ti­ker Jor­dan Peter­son (Autoren­por­trät von Mar­tin Licht­mesz, sie­he Sezes­si­on 87/Dezember 2018) greift in sei­nen Vide­os immer wie­der auf Begriff­lich­kei­ten und Kon­zep­te des Schwei­zers zurück und fei­ert ihn als Vordenker. 

Da Peter­son ein Mil­lio­nen­pu­bli­kum erreicht, kommt das einer Erhe­bung zur Ehre der (Internet-)Altäre gleich. Ent­spre­chend sind die Erwar­tun­gen an das, was eine Jung-Lek­tü­re leis­ten kann, ver­wor­ren, aber hoch. Peter­son prä­sen­tiert den Vater der »Ana­ly­ti­schen Psy­cho­lo­gie«, wie Jung sein Vor­ge­hen zur Abset­zung von dem Freuds nann­te, im Rah­men des­sen, was ihm sei­ne Popu­la­ri­tät bei der Ziel­grup­pe »jun­ger Mann, eher rechts« ver­schafft hat: einer Art Erzie­hung zur Männ­lich­keit. Er deu­tet das Leben als eine Bewäh­rungs­ge­schich­te, eine Per­spek­ti­ve, die prag­ma­tisch wie mora­lisch tra­di­tio­na­lis­ti­sche Deu­tun­gen wie­der­auf­le­ben läßt. Jede (männ­li­che) Indi­vi­dua­ti­ons­ge­schich­te gerät zu einer Vari­an­te von »Der Heros in tau­send Gestal­ten« (Camp­bell) – und zur Inter­pre­ta­ti­on die­ser Mytho­lo­ge­me greift Peter­son auf Ele­men­te aus dem Werk des Schwei­zers zurück.

Das ist der Kon­text, in dem Jung in ein brei­te­res Bewußt­sein zurück­ge­kehrt ist. Um die­se Anzie­hungs­kraft nach­voll­zie­hen zu kön­nen, hilft es, sich Jungs Kon­zep­ti­on der Per­sön­lich­keit vor Augen zu füh­ren, die sowohl vom All­tags­ver­ständ­nis als auch von dem Freuds ent­schei­dend abweicht.
Der zen­tra­le Begriff jeder Tie­fen­psy­cho­lo­gie, das Unbe­wuß­te, wird von bei­den völ­lig anders gefaßt und auch anders bewer­tet. Für Freud ist es zunächst nichts als eine der »Regio­nen des see­li­schen Appa­rats« (DU, 273), in die nicht gesell­schafts­fä­hi­ge Regun­gen ver­bannt wer­den. Es ist rea­li­täts­un­tüch­tig, nur dem Lust­prin­zip unter­wor­fen und daher voll­kom­men amo­ra­lisch. Gewis­ser­ma­ßen augen­los, weil nur mit ande­ren Tei­len der Psy­che, nicht aber mit der Außen­welt kom­mu­ni­zie­rend, ist es bloß die
»Vor­stu­fe einer höhe­ren Orga­ni­sa­ti­on«, eine Macht­über­nah­me des Unter­be­wuß­ten wäre krankhaft. 

Ab 1920 läßt Freud das Kon­zept eines »Sys­tem Ubw« hin­ter sich und tauscht es gegen das »zwei­te topi­sche Modell« ein, das die Psy­che aus Es, Ich und Über-Ich zusam­men­ge­setzt sein läßt, wobei jedes die­ser Ele­men­te unbe­wuß­te Antei­le haben kann.
Freud begeg­ne­te die­sem Unbe­wuß­ten (das er nicht erfand, son­dern das um die Jahr­hun­dert­wen­de bereits auf eine etwa hun­dert­jäh­ri­ge Geschich­te zurück­blick­te) mit einem Miß­trau­en, das sich am deut­lichs­ten in dem Stoß­seuf­zer von Schil­lers »Tau­cher« aus­drückt, mit dem der ers­te Teil von Das Unbe­ha­gen in der Kul­tur schließt: »Es freue sich, wer da atmet
im rosi­gen Licht.« Er blieb ein para­do­xer »Tie­fen­psy­cho­lo­ge«, der die (Un)Tiefen der See­le ver­ab­scheu­te, von denen der Reli­gi­on ganz zu schweigen.

Ganz anders Jung. Sei­ne Auf­fas­sung vom Unbe­wuß­ten weicht in wenigs­tens drei Punk­ten von der Freuds ab: Die dort ange­sie­del­ten »Kom­ple­xe« kön­nen sich ers­tens zu eige­nen »Teil­per­so­nen« ver­selb­stän­di­gen, ein Denk­mo­tiv, das mit einem aus­ge­präg­ten Hang zur Ver­bild­li­chung psy­chi­scher Inhal­te zu tun hat. Jungs Tech­nik der »akti­ven Ima­gi­na­ti­on«, eine Pra­xis gelei­te­ten Hal­lu­zi­nie­rens, gehört in die­sen Zusam­men­hang. Sie ver­leiht der Anschau­ung gegen­über dem rein begriff­li­chen Vor­ge­hen der »Tal­king-Cure« (wie eine frü­he Pati­en­tin Freuds die Psy­cho­ana­ly­se nann­te) beson­de­ren Stellenwert.

Die zwei­te Abwei­chung betrifft einen der bekann­tes­ten Ent­wür­fe Jungs, das »Kol­lek­ti­ve Unbe­wuß­te«. Im Gegen­satz zum indi­vi­du­el­len Unter­be­wußt­sein Freuds ist es »un- oder über­per­sön­lich , »eben weil es vom Per­sön­li­chen los­ge­löst und ganz all­ge­mein ist und weil sei­ne Inhal­te über­all gefun­den wer­den kön­nen«. Die Inhal­te die­ses Kol­lek­ti­ven Unbe­wuß­ten sind dann die viel­be­ru­fe­nen Arche­ty­pen. Als Nie­der­schlag stam­mes­ge­schicht­li­cher und his­to­ri­scher Erfah­rung sol­len sie eine Ver­bin­dungs­in­stanz zwi­schen der Per­sön­lich­keit und einem in die Vor­ge­schich­te zurück­rei­chen­den Kol­lek­tiv­ge­dächt­nis sowie dem bio­lo­gi­schen Erbe bil­den. Wenn sich hier eine Asso­zia­ti­on zu Pla­tons Ideen ein­stellt, so ist das durch­aus im Sin­ne Jungs, der bei­des sogar ein­mal gleichsetzt.

Zu dem indi­vi­du­el­len Unbe­wuß­ten Freuds kommt also eine kol­lek­ti­ve Ebe­ne, auf der die Indi­vi­du­en mit­ein­an­der und mit der Ver­gan­gen­heit ver­bun­den sind. Jungs kol­lek­ti­ves Unbe­wuß­tes hat damit eine uni­ver­sel­le Kon­no­ta­ti­on. Es bil­det iro­ni­scher­wei­se eine Art Uni­ver­sa­lis­mus von rechts (der Begriff natür­lich nicht im Sin­ne eines Kata­logs all­ge­mein­gül­ti­ger mora­li­scher Axio­me ver­stan­den). Iro­nisch, weil Jung in links­las­ti­gen Uni­ver­si­täts­wel­ten beharr­lich als dump­fer Mytho­ma­ne und geis­ti­ger Älp­ler ver­un­glimpft wor­den ist. Peter­sons Bemer­kung, er habe im aka­de­mi­schen Kon­text nie­mals über Jung spre­chen kön­nen (»I was con­stant­ly war­ned against tal­king about Jung.«), spie­gelt die­se Feind­se­lig­keit des aka­de­mi­schen Betriebs Jung hat stets die all­ge­mei­ne Gel­tung der Arche­ty­pen betont. Sie sind trans­na­tio­nal, trans­kul­tu­rell und trans­his­to­risch und damit ein ech­tes uni­ver­sel­les Erbe, ein Erbe übri­gens, das nicht aus­ge­schla­gen wer­den kann.
Es gibt hier deut­li­che Par­al­le­len zur den Mytho­lo­gi­ca von Lévi-Strauss, der frei­lich stets ein aka­de­misch emi­nent zitier­fä­hi­ger Autor geblie­ben ist, weil man ver­mu­te­te, ihn poli­tisch auf der rich­ti­gen Sei­te ver­or­ten zu können.

Und drit­tens: Jung nimmt, wie schon an der Beru­fung auf die Pla­to­ni­sche Ideen­welt deut­lich wird, eine voll­kom­men ande­re Hal­tung zu Fra­gen des Tran­szen­den­ten ein. Das läßt sich nicht nur bio­gra­phisch an sei­nem Inter­es­se an okkul­ten Phä­no­me­nen (denen sei­ne Dis­ser­ta­ti­on galt), an Tele­pa­thie, Wahr­träu­men und Visio­nen fest­ma­chen (die Auto­bio­gra­phie »Erin­ne­run­gen, Träu­me, Gedan­ken« hält eine eige­ne, gnos­tisch inspi­rier­te Visi­on Jungs fest), son­dern auch an sei­nen zahl­ei­chen, sich wider­spre­chen­den Aus­sa­gen zum metho­do­lo­gi­schen Sta­tus sei­ner Arbei­ten: Trotz wie­der­hol­ter Beru­fung auf eine Kan­ti­sche Grund­hal­tung, die einen Ver­zicht auf inhalt­lich gefüll­te Aus­sa­gen über Tran­szen­den­tes vor­aus­setzt, ver­wei­gert er sich letzt­lich einer kla­ren Grenz­zie­hung zwi­schen psy­cho­lo­gisch-empi­ri­schen und meta­phy­si­schen Fra­gen. Nach­fra­gen pfleg­te er mit gro­ßer Geschmei­dig­keit aus­zu­wei­chen und leg­te sich nie­mals end­gül­tig nach der einen oder ande­ren Sei­te fest. 

Es ist beson­ders die­se Stel­le, an der er aus der Rol­le des Psych­ia­ters her­aus­tritt und selbst in die eines Arche­typs, näm­lich des alten Wei­sen, ein­tritt. Als Tricks­ter bringt er die säu­ber­li­che Schei­dung epis­te­mo­lo­gi­scher Kate­go­rien, auf denen Wis­sen­schaft­lich­keit beruht, ins Wanken.
Wie Freud ein Nach­fah­re von Auf­klä­rung und Posi­ti­vis­mus, ist Jung ein direk­ter Erbe der Roman­tik, ins­be­son­de­re der Roman­ti­schen Medi­zin, ihrer Spi­ri­tua­lis­ten und Magne­ti­seu­re, deren Schrif­ten er schon früh aus der Biblio­thek sei­nes Vaters, eines pro­tes­tan­ti­schen Pfar­rers, kannte.

All das läßt sich auf das Stich­wort »Tota­li­tät« bezie­hen, ein Grund­be­geh­ren aller Moder­ne­kri­ti­ker seit der Roman­tik. Die Ein­be­zie­hung des Eide­ti­schen, des Kol­lek­ti­ven, des Stam­mes­ge­schicht­li­chen und des Numi­no­sen heben das Indi­vi­du­um aus der bür­ger­li­chen Ver­ein­ze­lung her­aus und stel­len es in einen über­grei­fen­den Zusam­men­hang, der der Freud­schen Ana­ly­se fremd ist. 

So gese­hen wäre es sinn­vol­ler gewe­sen, Jungs Metho­de als «Syn­the­ti­sche Psy­cho­lo­gie« (statt als ana­ly­ti­sche) zu bezeich­nen, denn auch die Per­son wird von ihm unter dem Gesichts­punkt ihrer Ganz­heit ins Auge gefaßt.
Auf the­ra­peu­ti­scher Ebe­ne geht es daher um eine Inte­gri­tät der Per­son, die die­se Ebe­nen mit­ein­an­der in Ein­klang brin­gen soll. 

Das vol­le Selbst wäre das Ergeb­nis eines Wachstums‑, Inte­gra­ti­ons- und Bewäh­rungs­vor­gangs, der inner­halb einer ganz und gar nicht gol­de­nen Gegen­wart statt­zu­fin­den hat. (Und hier wären wir wie­der bei Peter­son ange­langt.) Die Aner­ken­nung der Wider­stän­dig­keit des Wirk­li­chen unter­schei­det die­se Per­spek­ti­ve von regres­si­ven Phan­ta­sien vom Gol­de­nen Zeit­al­ter, die es auf eine sorg- und mühe­lo­se Form der Voll­kom­men­heit abge­se­hen haben. Das gol­de­ne Zeit­al­ter ist heroen­los – der Held wird dort ein­fach nicht gebraucht. (Die sich als ulti­ma­tiv auf­ge­klärt ver­ste­hen­de links­li­be­ra­le Men­ta­li­tät ist, wie empört sie das auch von sich wei­sen wür­de, sehr wohl auch ein Reflex des Mythos vom Gol­de­nen Zeitalter.)

Eine Aner­ken­nung die­ses Wider­stands fin­det man frei­lich, und in nüch­terns­ter Form, auch und gera­de bei Freud. Der aber zielt nicht auf Ganz­heit, son­dern bloß auf Repa­ra­tur. Der Pati­ent soll funk­tio­nie­ren, der Lei­dens­druck her­ab­ge­setzt wer­den, die Krank­heit auf intel­lek­tua­li­sier­te Wei­se inter­pre­tiert und damit gebannt wer­den. Mit die­sem Pro­gramm konn­te Freud zum Lieb­ling einer Intel­li­genz avan­cie­ren, die ihre Lebens­be­rech­ti­gung aus kom­ple­xen frei­schwe­ben­den Deu­tungs­spiel­chen bezog, die sich als ein­zi­ge Bedin­gung am Kompaß des »Fort­schritt­li­chen« aus­zu­rich­ten hat­ten und das wie Feil­spä­ne an einem Magne­ten auch taten.

Wer sich damit nicht abspei­sen ließ, fühl­te sich eher von Jung ange­zo­gen, und das waren stets lebens­re­for­me­ri­sche Bewe­gun­gen und Beweg­te, die sich mit der Kas­tra­ti­on des moder­nen Men­schen zum bloß­In­tel­lek­tu­el­len und bloß Hie­si­gen nicht abfin­den woll­ten. Ein Begeh­ren, das die ideo­lo­gi­schen Lager von Hip­pie­tum und Neu­kon­ser­va­ti­vis­mus sowie Neu­er Rech­ter über­wölbt und das die Roman­ti­ker antrieb, gegen die »Glas­köp­fe« (Jus­ti­nus Ker­ner) einer reduk­tio­nis­ti­schen Auf­klä­rung in Stel­lung zu gehen. 

Jungs Den­ken und For­schen ist nicht auf Repa­ra­tur­ar­bei­ten aus­ge­rich­tet, son­dern auf Ergän­zung und Her­stel­lung eines Gegen­ge­wichts zu die­ser mono­ma­nen Ein­sei­tig­keit. Er folgt damit – selbst, wie es nicht anders sein kann, ein Pro­dukt der Moder­ne – kei­nem anti­mo­der­nen, son­dern einem ihre Defi­zi­te kor­ri­gie­ren­den und aus­glei­chen­den Impuls. Davon geht Jungs immer erneu­er­te Anzie­hungs­kraft aus. Lebens­rat­schlä­ge à la Peter­son wird man in sei­nem Werk nicht fin­den. Es ver­mit­telt sei­ne Rezep­te und Wert­hal­tun­gen allen­falls in sehr indi­rek­ter Form.

Statt­des­sen ver­sucht es sich am »Leben aus dem was immer gilt«, eine Wen­dung, die sei­ne Tief­see­fahr­ten in die Mytho­lo­gie sehr gut beschreibt. Wie­weit die­se als Schu­le der Männ­lich­keit her­hal­ten kön­nen, steht aller­dings sehr in Fra­ge. Im Wider­spruch zur aktu­el­len durch Peter­son sti­mu­lier­ten Rezep­ti­on war Jung Zeit sei­nes Lebens von einem gro­ßen Kreis von Frau­en umge­ben, die teils rasch wech­sel­ten, teils sich Jah­re bis Jahr­zehn­te ihres Lebens in sei­nen Dienst stell­ten. Auch in der Fol­ge bleibt
der Anteil weib­li­cher Ana­ly­ti­ker und Anhän­ge­rin­nen der Jung­schen Metho­dik auf­fal­lend. Das erklärt sich dar­aus, daß Jung auf den betont szi­en­ti­fi­schen Ges­tus Freuds zwar kei­nes­wegs voll­stän­dig ver­zich­te­te, aber reich­lich Deu­tungs­an­ge­bo­te für sein Werk bereit­stell­te, die dar­über hinausgingen.

Das scha­de­te ihm fach­in­tern, ermög­lich­te aber einen um so brei­te­ren Anschluß nach außen. Die Anzie­hung auf Män­ner schien sich dem­ge­gen­über in Gren­zen zu hal­ten. Das iko­ni­sche Bild des »Wei­sen von Küs­nacht«, das rund um ihn geschaf­fen wur­de, ver­deut­licht den Unter­schied: Jung trat nicht ein­deu­tig ins pres­ti­ge­träch­ti­ge und klar mas­ku­lin kon­no­tier­te Bild des Natur­wis­sen­schaft­lers ein, son­dern in das des Wei­sen, das eine »wei­che­re«, tra­di­tio­nel­le und über­grei­fen­de Form des Wis­sens suggeriert.

Auch die Per­sön­lich­keits­leh­re Jungs kommt einem mas­ku­li­nis­tisch ori­en­tier­ten Den­ken nicht unbe­dingt ent­ge­gen. Ihr Zen­trum bil­det die Vor­stel­lung von »Ani­mus« und »Ani­ma«, also eines gegen­ge­schlecht­li­chen »See­len­teils«, der in Män­nern und Frau­en das ande­re Geschlecht gewis­ser­ma­ßen ein­schreint, aller­dings über­wie­gend in Form nega­ti­ver Eigen­schaf­ten. So ist die Ani­ma angeb­lich lau­nisch, um nicht zu sagen zickig, wäh­rend sich der Ani­mus gern in fal­schen Ratio­na­li­sie­run­gen ergeht.

Man muß nun weder femi­nis­tisch noch mas­ku­li­nis­tisch ange­haucht sein, um an Jungs Zuord­nun­gen ein gewis­ses Unbe­ha­gen zu emp­fin­den − in jedem Fall aber trägt jedes Geschlecht aus die­ser Sicht sei­nen Gegen­pol in sich, so daß der Ein­zel­ne in einer bipo­la­ren Span­nung steht, die eine all­zu pla­ne Bestim­mung von Geschlechts­ei­gen­schaf­ten unterläuft.

Wie immer es sich mit dem Geschlech­ter­ge­gen­satz aus Jungs Sicht im Ein­zel­nen ver­hält (sei­ne Aus­sa­gen zum The­ma sind wider­sprüch­lich), die Ten­denz ist klar: Es geht um die Selbst­er­schaf­fung und Selbst­hei­lung eines tran­szen­den­tal obdach­lo­sen moder­nen Selbst, das zual­ler­erst Jung selbst und in zwei­ter Linie der Pati­ent ist. Die­se Pra­xis ist nur des­halb nicht die rei­ne Hybris, weil in dem, was Jung Unbe­wuß­tes nennt, ein Ver­bün­de­ter gesucht wird, des­sen Koope­ra­ti­on sich nicht erzwin­gen läßt.
Inso­fern gehört Jung, viel mehr noch als Freud, in eine Geschich­te (post) moder­ner Sub­jekt­kri­tik. Ver­merk­te Freud, das Ich sei nicht Herr im eige­nen Haus (ein Satz, der sich so ähn­lich übri­gens bereits 1791 bei dem Heil­bron­ner Arzt Eber­hard Gme­lin fin­det) und setz­te durch die For­de­rung, »wo Es war, soll Ich wer­den« die­sem beun­ru­hi­gen­den Befund Wider­stand ent­ge­gen, so strebt Jung nach Ver­söh­nung und Ver­ei­ni­gung mit den unver­füg­ba­ren Ele­men­ten der Psy­che, auch das ein sym­bo­lisch eher weib­li­cher Zug.

Das Selbst bezeich­net dabei eine inte­grie­ren­de Ich-Instanz, einen höhe­ren, wei­se­ren Bewußt­seins­zu­stand, der als Poten­ti­al vor­han­den ist und erreicht wer­den kann und soll. Jungs Bild der Per­son ist daher nicht nur umfas­sen­der und küh­ner als das Freuds, es wohnt ihm vor allem eine Ziel­rich­tung inne. Er ist damit der Erbe einer Tra­di­ti­on, die auf Ent­fal­tung der Per­sön­lich­keit nicht als iso­lier­tes Indi­vi­du­um, son­dern als Teil eines grö­ße­ren kul­tu­rel­len, tran­szen­den­ten und anthro­po­lo­gi­schen Zusam­men­hangs zielt.

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