Gedichte lesen – zwölf Gründe

von Jonas Mahraun

PDF der Druck­fas­sung aus Sezes­si­on 94/Februar 2020

Ob Ihnen Lyri­ker geläu­fig sind, die sich zunächst hart­nä­ckig an Erzähl­wer­ken ver­such­ten, das eige­ne Metier also ent­we­der nicht auf Anhieb fan­den oder sich zumin­dest nicht abfin­den woll­ten allein mit ihm? Umge­kehrt fällt die Lis­tung leich­ter: Ernst Jün­ger erwarb sich in Wan­der­vo­gel-Krei­sen ers­te Aner­ken­nung mit Gedich­ten, Ste­fan Zweig begann sei­ne Lauf­bahn 1901 mit dem Lyrik­band Sil­ber­ne Sai­ten und auch vom jugend­li­chen Tho­mas Mann sind bemüh­te bis gequäl­te, in jedem Fall miß­glück­te Vers-Expe­ri­men­te über­lie­fert. War­um bil­den Lyri­ker, die bewäh­rungs­eif­rig zum Pro­sa-Prüf­stein drän­gen, bei wei­tem die Aus­nah­me und Pro­sa­ik­er mit Lyrik-Lei­den­schaft gera­de­zu eine Regel? Was darf man in Ver­s­wer­ken eher zu fin­den hof­fen als zwi­schen Roman-Zei­len? War­um Gedich­te lesen?

1. Die Lyrik – die­sen Schluß legt unse­re Ein­gangs-Beob­ach­tung nahe – reizt im Beson­de­ren jun­ge, aus­scher­wil­li­ge Köp­fe auf der Suche nach dem ganz und gar Ande­ren, weil sie dem All­tags­trott und sei­nen Sprech­ge­wohn­hei­ten am gründ­lichs­ten ent­ho­ben scheint und zugleich hin­ab­reicht zum ver­schüt­te­ten Ursprung: Weit vor aller über­kom­me­nen Epik setzt Rhyth­mi­sches und Ritu­el­les an, das uns in der Dich­tung bis heu­te ent­ge­gen­tritt. Lan­ge vor Ili­as und Odys­see ste­hen – dumpf und erd­nah – Opfer­spruch, Wie­gen­lied, Schlachtgesang.
Die Ver­wandt­schaft des Lyri­kers zu die­sem archai­schen Grund­rau­schen wird im Pri­mat greif­bar, den etwa Rolf Schil­ling der Akus­tik über das Seman­ti­sche ein­räumt. »Kehr heim in den Klang, / Gesät­tigt von Bil­dern, / Von Wap­pen, von Schil­dern, / Von Zei­chen-Zudrang, / Kehr heim in den Klang.« Gedich­te lesen: weil in ihnen das Kul­ti­sche als Glut­kern der Kul­tur am sicht­bars­ten durch­schim­mert, am ver­nehm­lichs­ten widerhallt.

2. So eng die Dich­ter sich geis­tig am Ur-Ent­sprun­ge­nen wäh­nen mögen, so wenig kön­nen sie sich hin­weg­täu­schen dar­über, daß alle Welt ihm bestän­dig fer­ner­rückt. Wer da nicht mit­zieht, gilt flugs als gest­rig und muß sich ver­un­glimp­fen las­sen von naß­for­schen Expres­sio­nis­ten. »In Deutsch­land« – spot­te­te Alfred Döb­lin 1935 aus sei­nem Pari­ser Exil – »hat sich die Vor­stel­lung eines Urwald­dich­ters bewahrt, eines mys­ti­schen Wisents.« Aus­ge­rech­net jenem Tier, das Göring spä­ter in den Wäl­dern der erober­ten Ost­ge­bie­te neu anzu­sie­deln ver­such­te, schreibt der Ber­lin-Alex­an­der­platz-Autor das Urwüch­sig-Schrof­fe zu, stem­pelt es zum Wap­pen­biest des Obsku­ran­tis­mus: Nichts sei im Lan­de so unklar und ver­wor­ren, führt er aus, »als daß es nicht für hohe Wisent­poe­sie gel­ten könn­te.« Weil der gän­gi­ge Ver­dunk­lungs­vor­wurf am Lyri­ker abper­len muß wie Schif­fah­rer Miß­mut am unbe­gra­dig­ten Strom, darf man Hans Magnus Enzens­ber­ger einen guten Schuß kon­ser­va­tiv-sub­ver­si­ver Iro­nie zutrau­en, wenn er 1957 emp­fiehlt: »Lies kei­ne Oden, mein Sohn, lies die Fahr­plä­ne: / sie sind genauer.«
Das mys­ti­sche Wisent (der Typus Ange­lus Sile­si­us, Fried­rich Höl­der­lin, Paul Celan) bleibt ideell auch dann in sei­nem Dickicht behei­ma­tet, wenn die übri­ge Natur als voll­ends bezwun­gen, erschlos­sen und ein­ge­hegt vor ihm liegt. Die Lyrik ist sein letz­tes Refu­gi­um. Gedich­te lesen: weil Tier­schutz-Bemü­hun­gen auch meta­pho­ri­sche Paar­hu­fer nicht aus­klam­mern sollten.

3. Wenn ein Pro­sa-Wisent wie Jan van Hel­sing behaup­tet, die Ari­er sei­en in grau­er Vor­zeit mit­samt ihrem Herr­schafts­wis­sen von Atlan­tis gen Hima­la­ya geflo­hen, so bleibt das lie­bens­wür­di­ger Eso-Kram. Schon näher käme man der Wahr­heit viel­leicht, wenn man die »Her­ren­ras­se« durch den Dich­ter und das Atlan­ti­sche Impe­ri­um durch ein vager umris­se­nes Gol­de­nes Zeit­al­ter ersetz­te. Denn fest zum Gesin­nungs­re­per­toire des Lyri­kers zählt die Anmu­tung, als letz­ter Erbe eines ver­lo­re­nen Para­die­ses ein­ge­setzt zu sein, die Erin­ne­rung an »mehr Lamet­ta« (Lori­ot) auf ver­lo­re­nem Pos­ten wach­hal­tend. Schil­ler etwa sehnt sich nach umfas­sen­der Neu­erwe­ckung. »Schö­ne Welt, wo bist du? – Keh­re wie­der / Hol­des Blü­ten­al­ter der Natur! / Ach, nur in dem Feen­land der Lie­der / Lebt noch dei­ne fabel­haf­te Spur.« Wie dem Revo­lu­tio­när, so schwe­ben auch dem Dich­ter ande­re Wel­ten vor, doch offen­bar kei­ne, die er aus hei­te­rem Him­mel ent­wirft, son­dern sol­che, deren er sich noch dun­kel ent­sinnt – wie Agnes Mie­gel des Buchen­walds aus Kin­der­ta­gen. Statt eine Ide­al-Ord­nung gewalt­voll aus dem Boden zu stamp­fen, legt der Lyri­ker sie sorg­sam frei unter den Schla­cken sei­nes Jahr­hun­derts. Gedich­te lesen: weil dort bezeugt wird, daß Uto­pien ihre Flucht­punk­te auch in der Ver­gan­gen­heit haben kön­nen und mög­li­che Umstür­ze dem­nach restau­ra­ti­ven Charakter.

4. Trotz Bezü­gen zur Reak­ti­on ist die Dich­tung dem moder­nen Men­schen in ihrer Frag­ment­haf­tig­keit gemäß. Zwar wird lau­fend bemän­gelt, Kin­der lern­ten kei­ne Poe­sie, nicht ein­mal »Das Lied von der Glo­cke« mehr aus­wen­dig. Doch hart­ge­sot­te­nen Kul­tur­op­ti­mis­ten, die sol­che Kla­gen mit dem Hin­weis auf die rhyth­mi­sier­ten Tex­te all­seits mit­bet­ba­rer Pop­songs abschmet­tern, ist im Grund­satz kaum zu wider­spre­chen. Mag der Flynn-Effekt auch kehrt­ge­macht haben und die Auf­merk­sam­keits­span­ne sich täg­lich ver­rin­gern: für Mer­se­bur­ger Zau­ber­sprü­che oder eine Hand­voll Sile­si­us-Epi­gram­me wäre noch Platz in jedem Mil­le­ni­al-Gehirn. Als ich 2015 beim Ver­lag Antai­os Rolf Schil­lings Werk­aus­ga­be bestell­te, fand ich sie bewor­ben mit der Beteue­rung, die­ser Autor ver­fer­ti­ge kei­ne Gedich­te, er emp­fan­ge sie.
Wer aber woll­te von sich behaup­ten, über Nacht ein Hel­den­epos oder einen Fort­set­zungs­ro­man in Emp­fang genom­men zu haben? Gedich­te lesen: weil in ihrem Umkreis weit und breit kei­ne Fol­ter lau­ert, auf die man als Leser gespannt wer­den könn­te. Man weiß auf der Stel­le, wor­an man ist. Kost­ba­re Lebens­zeit, die der Roman-Leser für den Nach­voll­zug von Auf­fä­che­run­gen inves­tiert, spart der Lyri­ker sei­nem Publi­kum durch Zusam­men­bal­lung ein.

5. »Pro­fes­si­on vom Dich­ten machen, das ist über­haupt lächer­lich, als wenn einer bestän­dig ver­liebt sein woll­te und noch oben­drein auf öffent­li­cher Stra­ße.« Soweit Eichen­dorff. Weil die Schwel­le zwi­schen Sprech- und Schrift­pro­sa eine leicht über­wind­li­che ist, hat über Roma­ne und Essays nahe­zu jeder gut reden: an vor­ge­fun­de­ne Gedan­ken wird man mäkelnd oder aner­ken­nend eige­ne knüp­fen, darf räso­nie­ren und resü­mie­ren im groß­zü­gi­gen Reso­nanz­raum des Grund­tex­tes. Der Kreis der Lyrik ist enger gezo­gen und geschlos­se­ner: Das Gedicht ist sei­ne eige­ne Echo­kam­mer, der man bes­ten­falls einen allu­so­ri­schen Vor­hof bau­en kann. Rück­te man ihm näher zu Lei­be, wür­de es zu ersti­cken dro­hen wie Ste­fan Geor­ges gefie­der­ter »Herr der Insel«, der das Tages­licht mei­det und einerdunk­len Wol­ke gleicht. Gedich­te lesen: weil sie Deu­ter, Theo­re­ti­ker und sons­ti­ge Behel­li­ger wahl­wei­se lächer­lich oder arbeits­los machen. Wird das Sekun­dä­re zudring­lich, ver­flüch­tigt sich das Pri­mor­dia­le bei­zei­ten »in gedämpf­ten schmerzeslauten.«

6. Geor­ges »Herr der Insel« – wie Bau­de­lai­res Alba­tros ein Bild für den Dich­ter – lebt »seit urbe­ginn« ein­sam in sei­nem ent­le­ge­nen Reich, sofern man von den Del­phi­nen – »freun­de des gesan­ges« – absieht. Doch tau­gen Gedich­te, so sehr das man­chem Lyri­ker zuset­zen muß, seit jeher auch zur Stif­tung oder Fes­ti­gung von Gemein­schaft: Roman-Lesern schie­ben sich im Rah­men der Lek­tü­re jeweils eige­ne Bil­der vor das geis­ti­ge Auge, wohin­ge­gen der rhyth­mi­sche oder über­haupt der ritu­el­le Laut, wie er in Psal­men und Cho­rä­len, beim Treue­schwur und Fah­nen­eid, in Hym­nen oder Marsch­lie­dern zum Tra­gen kommt, allen gleich und gemein­sam im Ohr klingt. Gedich­te lesen und dekla­mie­ren: weil man bei der Aus­söh­nung zwi­schen Kol­lek­tiv und Indi­vi­du­um nicht auf Essay­is­ten zäh­len kann.

7. »Der Dich­ter besingt die Welt, die wie Mem­nons Bild, voll stum­mer Bedeu­tung, nur dann durch und durch erklingt, wenn sie die Auro­ra eines dich­te­ri­schen Gemü­tes mit ihren ver­wand­ten Strah­len berührt.« Eichen­dorff zum zwei­ten. Die Säu­le des Mem­non im Tal der Köni­ge stün­de auch dann bereit, wenn kein Son­nen­auf­gang sie all­mor­gend­lich zum Klin­gen bräch­te. Die Welt beher­bergt das Dich­tungs-Poten­ti­al, bevor der Lyri­ker es akti­viert. Jedes Gedicht gleicht einem Gang mit der Wün­schel­ru­te auf der Suche nach Gold­adern, die unab­hän­gig vom Ruten­gän­ger exis­tie­ren. Der Lyri­ker ist nicht Erfin­der, son­dern Ent- und Auf­de­cker. Was ver­deckt bleibt, geht der Mensch­heit, doch nie­mals dem Kos­mos ver­lo­ren. Gedich­te lesen: weil ihnen ein Welt­bild zugrun­de­liegt, an dem die Schwer­ter der Ent­zau­be­rung stump­fen. Die Erde hört nicht auf eine Schatz­tru­he zu sein, bloß weil bestimm­te Gene­ra­tio­nen oder Epo­chen die Schlüs­sel verlegen.

8. Wenn Mal­thus oder Speng­ler uns vor­rech­nen oder aus­ma­len, daß und war­um die Welt ganz oder zu Tei­len unter­geht, dann mag das Hand und Fuß haben, doch setzt es kei­nen brauch­ba­ren Anfang. Sobald aber Abgän­ge, Auf­lö­sun­gen, stür­zen­de Rei­che besun­gen wer­den, stellt man ihnen in die­sem (Atem-)Zuge neue Auf­gän­ge, metri­sche Ord­nun­gen, geis­ti­ge Impe­ri­en ent­ge­gen. Und man­cher Dich­ter nimmt – wie Schil­ler in »Die Göt­ter Grie­chen­lands« – für sei­ne Stro­phen die Kata­stro­phen nicht bloß bil­li­gend in Kauf, son­dern preist sie fest ein: »Was unsterb­lich im Gesang soll leben, / Muß im Leben untergehn.«
Das Gedicht bie­tet Schöp­fung ohne Deu­tung. Weder wird die Welt durch Lyri­ker ver­än­dert noch ver­schie­den inter­pre­tiert, son­dern end­lich wie­der ohne Ver­wer­ter­Blick in Augen­schein genom­men. Rolf Schil­ling emp­fängt nicht nur statt zu ver­fer­ti­gen, er betrach­tet auch ohne zu zer­den­ken. »Mohn­län­der, die du erbeu­test, / Löwen­zahn, zit­ternd im Wind, / Stim­men, die du nicht deu­test – / Nimm dein Genü­gen: Sie sind.«
Gedich­te lesen: weil sie uns unter­wei­sen in der Schau, der Beschei­dung und der Absichts­lo­sig­keit – »Dies alles gibt es also.«

9. Auf­gang und Unter­gang, Stro­phe und Kata­stro­phe, Eden und Atlan­tis. Drun­ter, so hat man das Gefühl, macht es der Lyri­ker nicht. Und war­um soll­te er auch? Das Gedicht ist der unver­bes­ser­li­che Extre­mist unter den lite­ra­ri­schen For­men. Noch wo der Poet ein­mal nicht von vorn­her­ein höchs­te und heh­re Sujets aus­er­liest, wirkt sein Blick ver­edelnd wie der Hand­streich des Midas: »Die aber wie der Meis­ter sind, die gehen, / Und Schön­heit wird und Sinn, wohin sie sehen.«
Bei Rolf Schil­ling heißt es zur Extre­mis­mus-Nei­gung, die Lyrik ken­ne nur Tri­umph und Kla­ge, alles ande­re – Seich­te­re – blei­be der Pro­sa über­las­sen. Daß jedoch selbst das Gedicht nicht bis zu den äußers­ten Enden vor­dringt, stellt Max Kom­me­rell in »Das ent­zü­ckends­te der Lie­der« her­aus: Voll­kom­me­nes genügt sich selbst und ver­langt nicht mehr nach Aus­druck – und auch der tiefs­te Schmerz bleibt stumm. Zuge­ge­ben: die letz­te aller Sprach­gren­zen ist das Schwei­gen, doch gleich an die­ses schließt sich die Lyrik an.
Gedich­te lesen: weil die Kunst – wie die Mei­nungs­frei­heit – von den Rän­dern her ver­tei­digt wird.

10. »Jeden­falls kann man nun, im Bewußt­sein enden­der Ära, kein poe­ti­sches Wort mehr set­zen, ohne daß es in sei­nem schwin­gen­den Kern deren Anfän­ge, frü­he­re Ver­läu­fe, spä­te Fol­gen mit bedenkt und erkenn­bar wer­den läßt. Die Fra­ge nach der Dich­tung ist nicht mehr – aber war sie es je? – zu tren­nen von den Fra­gen nach der abgrün­di­gen Beschaf­fen­heit der Gegen­wart.« Die­se Sät­ze sind dem Essay­werk des Lyri­kers Jochen Win­ter ent­nom­men. Sie ver­wei­sen auf alt­ehr­wür­di­ge Sprach-Sedi­men­te, die das Gedächt­nis bil­den für erfüll­te­re Zei­ten und damit zugleich einen poten­ti­el­len Aus­gangs­punkt restau­ra­ti­ver Utopien.
Über die Ver­wahr-Eigen­schaft der Wor­te und den leicht­her­zi­gen Umgang der Ein­tags­men­schen mit ihrem wert­volls­ten Gut heißt es in Hof­mannst­hals »Welt­ge­heim­nis«: »So tritt des Bett­lers Fuß den Kies / Der eines Edel­steins Verließ.«
Gedich­te lesen: weil sie den Blick schär­fen für Kult-Rück­stän­de im End­sta­di­um der Zivilisation.

11. Debat­ten über den Umfang ver­schie­de­ner Dich­ter-Wort­schät­ze – Goe­the ver­sus Shake­speare – sind frucht­lo­ses Phi­lo­lo­gen-Geplän­kel. Auch dem bil­dungs­ferns­ten Lyri­ker sind deut­lich mehr Wor­te geläu­fig als für sei­ne Dich­tun­gen ernst­haft in Betracht kom­men. Roma­nen wird bis­wei­len beschei­nigt, sie könn­ten als Zeit­ge­mäl­de die­nen oder über­dau­ern. In Gedich­ten hin­ge­gen wird jedes Zeit­ko­lo­rit abge­tra­gen. Wet­ten, daß Oskar Loer­ke das Wort »Leucht­re­kla­me« kann­te? Den­noch läßt er sich in Ber­lin abs­trak­ter aus über »trü­be Tafeln, beschmiert mit bren­nen­der Schrift, / Die zuckend ruft und bet­telnd beteu­ert.« Wet­ten wei­ter­hin, daß Ste­fan Geor­ge die »Lit­faß­säu­le« als Begriff eben­so ver­traut war wie »Pla­kat­wer­bung«? Und trotz­dem spricht er im »Gehei­men Deutsch­land« von Mün­chen als »der stadt wo an pfos­ten und mau­er­eck / Jed nich­tig begeb­nis von aller­wärts / Für eiler und gaf­fer hing angeklebt.«

Soll man Gedich­te lesen, um eine Epo­che zu ver­ste­hen, ihren Geist und Ges­tus? Gott bewah­re! Wer sich Auf­schluß erhofft über zeit­ty­pi­sche Gepflo­gen­hei­ten, dem muß frei nach Enzens­ber­ger erwi­dert wer­den: »Lies die Geschichts­bü­cher, sie sind genau­er.« Auf Ein­laß in das streng bewach­te Pan­the­on der Poe­sie darf berech­tigt nur spe­ku­lie­ren, wer sich der »laut­lo­sen Tie­fe des Oze­ans« (Ernst Jün­ger) ver­bun­de­ner weiß als dem Gekräu­sel an der Was­ser­ober­flä­che. Gedich­te lesen: weil nicht obso­let wer­den kann, was nie ori­gi­nell war.

12. Sehr zu Unrecht ste­hen Lyri­ker im Ruch der Tau­mel­trun­ken­heit: Das gelun­ge­ne Gedicht ist nie­mals bloß Kind der Emp­fin­dung, son­dern stets vor allem das Ergeb­nis ihrer Züge­lung und Matt­füh­rung. Wo der Flut­prall des Ein­drucks die sach­ten Aus­drucks­wo­gen über­wäl­tigt, miß­lin­gen die Ver­se. Was ver­rät der Umkehr­schluß über voll­kom­me­ne Gedich­te? Daß in ihnen Käl­te des Stils über Inbrunst des Emp­fin­dens tri­um­phiert. Pochen­des und Pul­sen­des kommt stro­phen­wei­se form­schön zum Erlie­gen: das Poem als Petre­fakt. Geglück­te Dich­tung trieft nicht vom zäh­flüs­si­gen Harz des Sen­ti­ments, son­dern hält Impuls und Sti­mu­lus ver­sie­gelt wie das Insekt im Bern­stein – womög­lich geschlif­fen von Oda Schae­fer. »Schwer, so klirrt im Reim die Spra­che, / Hart­ge­pan­zert lebt das Wort, / Senkt die Sage in das Bra­che, / Spä­ten Völ­kern gold­ner Hort.«

Gedich­te lesen: weil Har­ni­sche nottun. 

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