Verantwortlich hierfür ist das neuerliche Elend der deutschen Sozialdemokratie im allgemeinen beziehungsweise der »Fall Wolfgang Thierse« im besonderen.
Die NZZ (v. 9.3.2021) weiß nämlich zu vermelden, daß sich die SPD-Führung in der Causa Thierse »selbst beschämt«. Die beiden Autoren Christoph Prantner und Alexander Kissler fragen sich: »Sind die Sozis denn noch zu retten?«
Das sind sie wohl ohnehin kaum, Thierse hin, Thierse her, aber zunächst zum konkretem Aufhänger:
Entzündet hat sich die sozialdemokratische Identitätspolitik-Debatte Mitte Februar. In einem von der Partei veranstalteten Online-«Jour fixe», den die Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission Gesine Schwan moderierte, kam die Kulturjournalistin Sandra Kegel zu Wort.
Diese hatte es gewagt, eine Initiative um Anerkennung homosexueller Schauspieler infrage zu stellen. Ein paar Tage später dann machte sich der frühere Bundestagspräsident und SPD-Altvordere Wolfgang Thierse in einem Essay in der «FAZ» Gedanken darüber, wie der erbitterte Streit über Rassismus, Postkolonialismus und Genderthemen den Gemeinsinn zu zerstören droht.
Was dann passierte, ist keine Überraschung: Der antifaschistisch-postmoderne Twittermob tobte sich aus, Thierse sah sich als »alter weißer Mann« (mindestens) oder gar als »Rassist« (maximal) tituliert, erfuhr (erwartungsgemäß) auf dem selben Medium aber kaum Solidarität seiner Parteigenossen.
Das liegt an der geballten Wut, welche die einen ergriff und die anderen abschreckte – man will ja nicht selbst ins Visier der »PoMo-Bubble« (d. i. ist der followerstarke Schwarm aggressiver Linksextremer, oft trotzkistisch beeinflußt und/oder BiPoC-nah und/oder LGBTQplus-affin) geraten, schon gar nicht wegen eines alten Mannes, erst recht nicht wegen – letztlich – einer einzigen Zeile aus dessen FAZ-Beitrag:
Der unabdingbare Respekt vor Vielfalt und Anderssein ist nicht alles.
Denn, so Thierse harmlos, auch Mehrheiten hätten doch ihre Rechte. Das war der vereinigten neu-neuen Linken zu viel des Guten:
Am nächsten Tag wusste das Onlinemedium «queer.de» zu berichten, das sei «neurechter Sprech». Der Berliner Landeschef von «SPDqueer» bekundete Wut und Verzweiflung. Thierse erklärte zwei Tage später im Deutschlandfunk, seine Auffassungen würden abgelehnt, weil es «die Ansichten eines alten weissen Mannes mit heterosexueller Orientierung, heteronormativer Orientierung» seien. Um Argumente ginge es gar nicht. Die Ablehnung eines Gegenübers, dessen Auffassungen man nicht teile, sei demokratiefremd, wenn nicht demokratiefeindlich.
Nun kann man Thierse daran erinnern, daß auch seine jahrzehntelange pauschale Agitation im »Kampf gegen Rechts« mit einiger Indulgenz zumindest als latent »demokratiefremd« bezeichnet werden könnte, aber wer gerade einen veritablen Shitstorm abbekommt, den darf man verschonen.
Dieser nahm erst an Fahrt auf, als die infantile Wut der PoMo-Akteure in den SPD-Vorstand selbst infizierte:
«Queer.de» zitierte aus einer Mail der SPD-Vorsitzenden Saskia Esken und des ehemaligen Juso-Chefs Kevin Kühnert an «rund 20 ausgewählte Personen, darunter Vertreter*innen aus der Community». Beide Politiker bekunden in dem Schreiben, «Aussagen einzelner Vertreter*innen der SPD zur sogenannten Identitätspolitik» hätten sie verstört und beschämt.
Von Thierses Frankfurter Intervention haben sich Kühnert und Esken indirekt distanziert,
was den Angegriffenen zu einer echten Frage in einem offenen Brief an Esken motivierte. Man möge ihm doch bitte mitteilen, ob er noch in der SPD erwünscht sei.
Thierse vergißt hierbei mehrere Fakten, die eine Bewertung seiner Lage beeinflussen: Erstens ist er lediglich noch einfaches Parteimitglied ohne herausragende Funktion, zweitens »menschelt« es beim Typ Esken auch dann nicht, wenn man ihm larmoyant entgegentritt, und drittens ist Kühnert selbst einflußreicher Akteur jener Thierse durchs Virtuelle jagenden postmodernen Linken, deren parteipolitische Dreiteilung auf Grüne, Die Linke und eben SPD keinem Beobachter der bundesdeutschen Linksparteien entgehen konnte.
Viertens, kann man mit Prantner und Kissler ergänzen, sind die derzeitigen SPD-Granden eben eminent nachtragend:
Vielleicht aber werden mit dem identitätspolitischen Radau auch nur alte SPD-Rechnungen beglichen. Thierse hatte nach der Wahl des neuen Vorsitzenden-Duos scharfe Kritik geübt. Unter Esken und Walter-Borjans werde sich der Absturz ebenso fortsetzen wie das «Klima der Unzufriedenheit, der Verdächtigungen und des Hasses».
Unterdessen hatte Thierse ebenjenen Haß auch dadurch verstärkt, daß er sich zu einer Äußerung hinreißen ließ, die im Sozi-Universum das größtmögliche Übel verkörpert. Der Tagesspiegel zitiert ihn wie folgt:
Der nationale Sozialstaat rettet uns. Es ist elitäre Dummheit, das nicht sehen zu wollen.
Damit formuliert Thierse eine kleine Quintessenz jenes solidarischen Patriotismus, der bewahrenswerte Elemente der Sozialdemokratie, die es in der deutschen Geschichte durchaus gibt, aufhebt und in etwas Neuartiges integriert. Trotz ideologischer Fehler und moralpolitischer Irrwege in der Vergangenheit seitens Thierses dürfte man also bereit sein, ihn im Lager des Sozialpatriotismus anzuhören. Vielleicht findet er hier mehr Gesprächskultur als in der Kühnert-Esken-SPD, die in akademischer wie tumber Identitätspolitik versinkt?
Gewiß: Thierse bleibt im Kampf gegen Rechts so verbohrt wie Kühnert und Esken im Kampf um »Sichtbarmachung« realer und fiktiver Minderheiten und Fetische. Dennoch bleibt sein Fall spannend, und er erhält endlich Nahrung durch weitere Stellungnahmen aus dem Nicht-PoMo-Lager der SPD, das in seiner Offenherzigkeit nicht mehr ernst zu nehmen ist, dafür aber für seine Weltfremdheit ein wenig Mitleid verdient.
Im Bezahlformat CiceroPlus (v. 9.3.2021) meldet sich etwa ein SPD-Bundestagsabgeordneter aus der zweiten Reihe spürbar verärgert zu Wort. Florian Post aus Bayern stellt fest:
In der SPD soll jetzt alles auf links gebürstet werden. Und Realos wie ich werden dann schnell in die rechte Ecke gestellt.
Na sowas. Das muß man natürlich gleich noch einmal wiederholen, gibt’s ja nicht!
Alles soll in der SPD jetzt auf links gebürstet werden.
Die Botschaft kam an. Doch das ist ja längst nicht alles:
Man wird ja in dieser Partei schon schief angeschaut, wenn man einen Anzug trägt!
AfD-Akteure werden ins Krankenhaus geprügelt und verlieren, so nicht in Parteianstellung befindlich, ihre beruflichen Perspektiven? Da kann man schweigen. Aber schief angeschaut werden, weil man Anzüge trägt? Das geht entschieden zu weit, dafür kann man sich mal mit dem eigenen Establishment anlegen. Denn dieses hat folgende Entwicklung zugelassen:
Den neuen sozialdemokratischen Dresscode gibt offenbar Kevin Kühnert vor.
Nun, mir fielen bei Kühnert einige Kritikpunkte ein, bevor ich mich an seinen Dauerstudenten-Look machen würde, aber immerhin weiß ja auch ein Florian Post, der zur kommenden Bundestagswahl von seiner Partei abgestraft und dementsprechend nicht neu aufgestellt wurde, daß es um mehr als nur um Kevins Hoodies geht. Kühnerts Gefolgschaft:
Das sind Bonsai-Jakobiner.
Ist Post spätestens mit dieser Wortneuschöpfung der lebendige Beweis, daß »Boomertum« (erklärt in der neuen Folge »Kulturlabor«!) nicht an die blaue Parteifarbe gebunden ist, bekommt er noch halbwegs die Kurve, indem er eine Erkenntnis formuliert:
Die Methoden, mit denen da im Hintergrund gearbeitet wird, sind Anzeichen dafür, dass das System am erodieren ist: Das ist ein Überlebenskampf. Anstatt darüber zu sprechen, wie man wieder groß werden kann, wird der Niedergang verwaltet.
Was Post hier artikuliert, korreliert auf einer übergeordneten Ebene mit der Analyse Christoph Müllers für den Merkur:
Hier kämpfen keine Flügel um Gestaltungseinfluss, sondern Individuen an der versiegenden Quelle relevanter Posten angesichts der nahenden Oppositionsrolle.
So, wie die Hardcore-Meuthenianer eben lieber eine Sechs-Prozent-AfD sehen wollen, in der sie allein die Posten besetzen, präferieren Kühnert und Co. eine geschrumpfte SPD, die woke, urban und entsprechend »auf Linie« gebracht wurde – ein ehernes Gesetz moderner Parteieitelkeiten, das »Solidarität und Respekt«, wie Post bekrittelt, »vermissen läßt«.
Der bayerische Sozialdemokrat gibt sich am Ende des Cicero-Gesprächs aber kämpferisch und schlägt den Bogen von seinem Fall zu jenem Thierses:
Ich unterstütze Thierse voll und ganz. Wir sollten uns von diesen Bonsai-Jakobinern doch nicht vorschreiben lassen, wie wir zu sprechen haben. »Kandidierenden-Plakate« stand in einer Mail, die ich gerade vom Generalsekretär Lars Klingbeil bekommen habe. Was ist das für eine Gaga-Sprache?
Nun, das ist nicht nur die Sprache der PoMo-Bubble, der Kühnerts und Eskens, der Grünen und Roten, der Dunkelroten und Blutroten; das ist seit kurzem auch die Sprache der Tagesschau, von Profi-Fußballvereinen und Verbänden – es ist die »Sprache der BRD« 2.0, mithin der Beweis dafür, daß Manfred Kleine-Hartlage für eine Erweiterung seines Standardwerkes beständig neues Material erhält.
Das Elend der Sozialdemokratie wäre indessen nicht das Elend der Sozialdemokratie, wenn die innerparteilichen Gegner der Kühnert-Eskapaden nicht ebenso enervierend wären wie der Gegenstand ihrer Kritik. Ein Beispiel hierfür ist Nils Heisterhagen. Er, dessen Analysen zu Mängeln seines Lagers ich in Blick nach links noch partiell fruchtbar machen konnte, steht in seiner aufdringlich-eitlen Redundanz auf Twitter seinen Antipoden in nichts nach.
Wohltuend sachlich ist da geradezu sein aktuelles Interview »Identitätspolitik atmet das Ich« in der katholischen Wochenzeitung Die Tagespost (v. 11.3.2021). Heisterhagen ahnt allmählich, daß man ideologischen Antifaschismus nicht ohne dem ihm immanenten Säuberungsfetischismus bekommen kann, der fortwährend neue Gegner in den eigenen Reihen produziert:
Man muss sich nur mal vor Augen führen, wen die linksidentitäre Reinigungsbewegung mittlerweile alles erwischt. Noch vor ein paar Jahren war der Konflikt Linksliberale in der SPD gegen Thilo Sarrazin, dann kam Linksliberale gegen Heinz Buschkowsky, dann kam Linksliberale gegen Sigmar Gabriel, dann kam Linksidentitäre gegen die Katholikin Andrea Nahles und jetzt sind es Linksidentitäre sogar gegen Linksliberale wie Gesine Schwan und Wolfgang Thierse.
Gewiß hat Heisterhagen Recht, wenn er daraufhin hinweist, daß
Identitätspolitik oft sehr von persönlicher Betroffenheit, Gefühlen und Subjektivismus getrieben
sei. Ein Blick auf die Profile narzißtischer Multiplikatoren von »Linkstwitter« ist schon ausreichend, um diese Erkenntnis zu unterstreichen; eine experimentelle Parteiaktivität in der SPD (oder bei den Grünen, oder bei den Linken) ist hierfür nicht vonnöten.
Heisterhagen, und hier unterscheidet er sich dann doch von Kühnert und Konsorten, wäre ein Linker, mit dem es sich geistig zu duellieren lohnte. Er liegt zwar (aus rechter Perspektive) oft falsch, aber über einige seiner Thesen ließe sich sachlich-fachlich streiten:
Progressive Politik ist für mich im Gegensatz universalistisch, auf Allgemeinheit, Gleichheit und Solidarität bezogen. Identitätspolitik atmet das Ich. Universalismus atmet das Wir. Das ist der intellektuelle Unterschied, den Menschen wie Gesine Schwan und Wolfgang Thierse ausdrücken und die Linksidentitären nicht mehr verstehen oder nicht mehr verstehen wollen.
Freilich überschätzt Heisterhagen die politische Ausstrahlung Thierses:
Eine SPD, der Lady Bitch Ray wichtiger ist als Wolfgang Thierse, hat keine Zukunft mehr.
Hätte denn eine altbackene Thierse-SPD mit ihren altbekannten Gebetskreisen »gegen Rechts« mehr Zukunftsoptionen, wäre das ein Neudenken sozialdemokratischer Praxis für das 21. Jahrhundert? Birgt nicht Thierses moralistische Aufladung von Politik bereits den Samen für die aus ihm erwachsenden Exzesse der hypermoralischen Identitätspolitik?
Diese Fragen wurden Heisterhagen von der Tagespost nicht gestellt, aber gerade ein prononciert »materialistisch« denkender Kopf müßte auch hierzu kritisch Stellung beziehen, denn daß heute Millionen Deutsche, die sozialer Politik gegenüber aufgeschlossen sind, parteipolitisch »heimatlos« sind (Grüß’ Dich, AfD!), kann ebenso wenig verwundern wie die analoge Heimatlosigkeit entsprechend ausgerichteter politischer Publizisten.
– – –
Zu letzterem Typus zählt sich explizit Bernd Stegemann. Der Berliner Dramaturg ist ebenfalls in der druckfrischen Tagespost-Ausgabe vertreten: Mit »Unter falscher Flagge« ist sein Beitrag überschrieben, und auch er ergreift, wie Heisterhagen, Partei für Thierse und Schwan und damit gegen Kühnert, Esken und die Mehrheitssozialdemokratie.
Um die brisante Dimension dieses Konfliktes zu ermessen,
führt Stegemann aus,
muss man sich vor Augen führen, welchen Weg die SPD in den letzten zwanzig Jahren zurückgelegt hat. Ihre Wahlergebnisse sind von 40 Prozent auf inzwischen 15 Prozent abgestürzt. Der Absturz begann mit einer weltanschaulichen Neuausrichtung unter Gerhard Schröder. Die Agenda-Reformen und vor allem die Hartz-IV-Gesetze waren Ausdruck eines Wirtschaftsliberalismus, den die Wähler der SPD noch nie wollten und der auch nicht in ihrem Interesse war. Schröder war der Genosse der Bosse, das haben ihm die SPD-Wähler nie verziehen.
In dieser materialistischen Stoßrichtung weiß sich Stegemann mit Heisterhagen einig, wenngleich Heisterhagen eine »mittige« SPD favorisiert und Stegemann eine dezidiert linke, kapitalismuskritische – nur eben ohne Identitätspolitik, postmoderne Albernheiten und antifaschistischen Dogmatismus.
Stegemann ordnet die Bemühungen der postmodernen Linken, die ihren Frieden mit den woken, also politisch korrekt und linksliberal daherkommenden Kapitalfraktionen gemacht haben, ein:
Die Ohnmacht vor den globalen Kräften des Kapitals scheint so lähmend, dass man sich auf das einzige Feld zurückzieht, wo noch Gerechtigkeit erreicht werden kann. Statt soziale Fragen anzugehen, soll die Anerkennung besser verteilt werden. Und es stimmt tatsächlich, Anerkennungspolitik ist im Kapitalismus gut durchzusetzen. Denn eine gerechte Anerkennung kostet wenig Geld, bringt aber den Unternehmen großen Gewinn.
Diese These untermauert der Autor mit einem aktuellen Beispiel:
Die hitzige Debatte um die Umbenennung der Zigeuner-Sauce hat jüngst diese Rechnung entlarvend auf den Punkt gebracht. Während die identitätspolitischen Aktivisten die Zigeuner-Sauce als Symbol für menschenfeindliche Sprache anprangerten, beschloss der Hersteller der umkämpften Sauce drastische Sozialkürzungen in seinen Betrieben.
Das Resultat ist bekannt: Die Umbenennung der Sauce wurde als großer Erfolg gefeiert, der Sozialabbau schaffte es bei all dem Getöse um den Saucen-Namen in keine Schlagzeile. Nun heißt sie PaprikaSauce, und das war weniger ein wertvolles Geschenk an die Community der Sinti und Roma als eine willkommene Ablenkung von den eigentlichen Plänen des Unternehmens.
Stegemann scheint verärgert darüber, daß diese Offensichtlichkeiten von der neuen Mehrheitslinken nicht mehr gewürdigt werden. Den Grund hierfür liefert er den Tagespost-Lesern aber frei Haus: das »Gesetz des Kindergartens«. Dieses funktioniert wie folgt:
Wer am lautesten schreit, gewinnt. Und damit ist man im Zentrum der Cancel Culture. Mit diesem Begriff kann man die schädlichen Wirkungen der Identitätspolitik zusammenfassen. (…) Ihr Dogma lautet: Dem Opfer muss immer geglaubt werden, und wer sich am lautesten empört, hat den größten Anspruch auf seine Opferwahrheit. Die Folgen sind eklatant. Die Gesellschaft zerfällt in immer kleinere Empörungskollektive, die jedes für sich einen absoluten Anspruch auf Gehör reklamieren.
Daß die Empörungszusammenschlüsse immer kleiner und ausdifferenzierter werden, ist richtig; daß sie aber mittlerweile in den Redaktionen der Öffentlich-Rechtlichen ebenso stilbildend sind wie in linksliberalen Tageszeitungen, dürfte die katholisch-konservativen Leser wie den originär linken Autor gleichermaßen beunruhigen, da sie beide Teil jener Mehrheit der Gesellschaft sind, die sich den neuen Sprach- und Verhaltensregeln der aggressiven PoMo-Szene unterordnen soll.
Wer sich dieser Politik nicht unterwirft, so wie Thierse und Schwan in ihren Artikeln, der muss gecancelt, also ausradiert werden. Mit dieser Methode erreichen die identitätspolitischen Aktivisten einen Sieg nach dem anderen. Denn immer weniger Menschen sind bereit, sich in einen Konflikt zu begeben, wo die eine Seite versucht, fair zu argumentieren, während die andere Seite zur Cancel Culture der persönlichen Beleidigungen und Diffamierungen der Person greift.
Freilich bleibt auch bei Stegemann ein blinder Fleck frappierend: Ungeachtet seiner präzisen Kritik der Cancel Culture und ihrer Einzelbestandteile übersieht – übergeht? – er, daß es der bewährte (und immer häufiger: bewaffnete) Kampf gegen Rechts ist, in dem die Keime für all das Monierte liegen.
Wozu braucht es Argumente, wenn es doch viel wirkungsvoller ist, unliebsame Meinungen durch Ächtung auszuschließen?,
bemängelt Stegemann, und ebendiese Frage ist ja explizit eine solche, die sich im Milieu rechts der Mitte seit Jahrzehnten gestellt wird; einem Milieu, gegen das die Ächtung von Meinungen und Personen also schon wirksam in Stellung gebracht wurde, als es noch keine Natascha Strobls, Quattromilfs oder Alice Hasters auf Twitter gab.
Das dürfte Stegemann insgeheim ahnen, doch ein Aussprechen dieser Tatsache würde wohl nur den nächsten (mehr oder weniger) alten weißen Mann aufs Twitter-Schaffot führen. Aber vielleicht vollzieht sich diese Entwicklung auch so. Dafür sprechen zahlreiche Stellen in Stegemanns jüngst publiziertem Buch Die Öffentlichkeit und ihre Feinde. Dort berührt er unter anderem Thierses Feld der sozialen Frage im Nationalstaat.
Wer die Frage stellt, wie ein Sozialstaat mit einer grenzenlosen Migration zu vereinbaren ist,
wird von den Mitgliedern des neuen Liberalismus als gefährliches Subjekt beschimpft. (…) Alle sollen kommen dürfen, um den Rest kümmert sich ›die‹ Gesellschaft. Und da es sehr unwahrscheinlich ist, dass die Migranten sich ein Leben in den teuren Stadtvierteln leisten können, ist die Gesellschaft dann überall, nur nicht vor der eigenen Haustür.
Die Wokeness sucht aktiv nach den Ereignissen, über die sie sich selbst empört in Szene setzen kann. Es geht ihr nicht um eine Verbesserung der Welt, sondern um den Skandal, der ihren öffentlichen Wert steigert, indem er andere beschämt.
Was in diesem Buch wie im Tagespost-Artikel spürbar wird, ist, daß Stegemann ahnt, daß das Ringen zwischen dem sozialen Restflügel der SPD und ihrem postmodern-identitätspolitischen (ergo: Antifa-nahen) Lager ein ungleiches ist; letztere Strömung hält alle Trümpfe in der Hand, ist jünger, dynamischer, kämpferischer, ideologisch geschlossener.
Doch damit wildert die neue, verjüngte SPD in Gefilden, in denen bereits die Linkspartei und die Grünen zugange sind; die Grüne Jugend beispielsweise betreibt postmoderne Identitätspolitik pur et dur, in der Linken haben entsprechende Kreise bis auf Wagenknecht-Reste und KPF-Relikte keinen Widerspruch mehr zu erwarten, zumal diesem Kurs gegnerisch gesonnene Akteure wie Fabio De Masi für Rückzug statt Angriff optierten.
Die SPD taumelt damit – ganz wie Die Linke – den Grünen in der identitätspolitischen Entwicklung hinterher, und Stegemann schließt seinen Artikel:
Die kommenden Wahlen werden zeigen, wie viele heimatlose Sozialdemokraten sie damit gewinnen. Aber man muss kein Hellseher sein, um den weiteren Gang in die Bedeutungslosigkeit vorherzusehen.
Dort warten für einige Sozialdemokraten, identitätspolitischen Zuschnitts oder nicht, Kummer und Leid.
– – –
Das paßt übrigens recht gut zu den ersten Entwürfen der SPD-Wahlkampfdesigns. Die für den Normalwähler wohl eher verwirrende als anziehende Mischung aus Sowjetoptics für Arme, Buchcovern der 1920er Jahre und Agit-Prop-Stil kursiert momentan noch ohne inhaltliche Ausgestaltung.
Man liest dort, wo bald SPD-Slogans stehen sollen, einstweilen nur den klassischen Fake-Latein-Fülltext à la Lorem Ipsum Dolor Amet Sit. Es handelt sich hier um eine ostentative Sinnlosigkeit, die bewußt vom Graphiker eingesetzt wird, um das prüfende Auge nicht von den Designs fernzuhalten.
Bei der SPD von heute trägt auch dies einen Doppelcharakter. Denn in der Originalsequenz Ciceros, aus der heraus der Blindtext am ehesten abstrahierbar wäre, heißt es:
Neque porro quisquam est, qui dolorem ipsum, quia dolor sit, amet, consectetur, adipisci velit.
Zu deutsch:
Es gibt niemanden, der den Schmerz selbst liebt, der ihn sucht und haben will, einfach, weil es Schmerz ist.
Vielleicht gibt es ja doch welche: Etwa Sozialdemokraten, die auch nach dem SPD-Katastrophenjahr 2021, das hiermit ausgerufen und am Sonntag in Rheinland-Pfalz sowie in Baden-Württemberg elektoral eingeleitet wird, das rote Parteibuch behalten. Denn eine gewisse Lustgewinnung ob chronischer Schmerzen wäre dann nicht länger von der Hand zu weisen.
brueckenbauer
Identitätspolitik lebt davon, dass sie den "Benachteiligungsverdacht" (J. Fernau) schürt und seine prospektiven Opfer an sich bindet. Das war aber doch schon immer die politische Grundlinie der SPD; nur scheint sich die Zahö der Konkurrenten erhöht zu haben, die nach derselben Maxime arbeiten.