Der 400 Meter lange Frachter steht sinnbildlich für die Globalisierung des Welthandels. Dieser ist abhängig von Seerouten, auf denen Containerschiffe, oft Megafrachter, Waren und Güter an ihr Ziel bringen. Schon vor der Blockade im Suezkanal, die dieser Thematik Aufmerksamkeit garantierte, widmeten wir der Problematik in Heft 99 unserer Zeitschrift eine grundlegende Betrachtung.
Wir geben diesen Beitrag Guillaume Travers’ nachfolgend wieder; die PDF ist hier verfügbar, Heft 99 der Sezession hier. Travers (Jg. 1988) ist Lehrer für Wirtschaft an einer Handelshochschule und Journalist des französischen Magazins éléments.
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Reise ins Herz des Welthandels – Beitrag von Guillaume Travers
Containerschiffe sind die wahren Triebwerke des Welthandels. Ohne sie gäbe es keine Globalisierung des Handels, da 90 bis 95 Prozent der Waren auf dem Seeweg transportiert werden. Der Seeverkehr aber unterliegt nicht den Beschränkungen – weder den arbeitsrechtlichen Regelungen noch anderen Normen, auch nicht den Umweltstandards –, denen sonst ein jeder unterworfen ist.
Mehr noch: Einem Sonderrecht im Versicherungsbereich verdanken es diese schwimmenden Plattformen, die unter Billigflaggen segeln, daß sie ihre ganze Verantwortung auf die Gesellschaft – in diesem Fall: auf uns – abwälzen können. Sie sind die blinden Passagiere des Welthandels: Sie zahlen den tatsächlichen Preis ihrer Fahrkarte nicht. An ihrer statt kommen wir dafür auf. Ein Tauchgang in trüben Gewässern.
August 2019: In Frankreich drängt man sich wie überall im Supermarkt vor den Regalen für Obst und Gemüse. Vor ihren Augen Zwiebelsäcke aus Neuseeland, Australien oder Tasmanien. Das Kilo kostet ungefähr einen Euro. Heißt dies, daß die Reise aus Sydney oder Auckland nur einige Cents gekostet hat? Denn man mußte inzwischen noch den Landwirt bezahlen, die Großhändler, die Zwischenhändler, den Verkehrsunternehmer, der die Verbindung zwischen einem europäischen Hafen und dem Gemüsestand im Supermarkt herstellt, den Supermarkt selbst usw.
Eine schwindelerregende Frage drängt sich auf: Wie ist das möglich? Daß Güter von erheblichem Wert die Welt durchqueren, ist leicht eingängig. Das war – man denke nur an die Edelmetalle oder die Gewürze – fast schon immer der Fall gewesen. Aber Zwiebeln? Die in jedem Garten wachsen? Die fast nichts wert sind? Und da gibt’s noch eine Menge anderer lächerlicher Waren, die bloß einen Pfifferling wert sind. Bleistifte, Küchenzubehör usw.
Auf der Suche nach einer ersten, vorläufigen Antwort wenden wir uns einem der großen europäischen Häfen zu: Antwerpen, Rotterdam oder Hamburg. Im Juni 2020 kam es in Hamburg zu folgendem Ereignis: Das größte Containerschiff der Welt, die »HMM Algeciras«, lief das erste Mal einen europäischen Hafen an. Die Abmessungen des Frachters sind beeindruckend: über 400 Meter lang, 61 Meter breit. Die Ladung ist mehrere Milliarden Euro wert, verteilt auf fast 24 000 Standardcontainer, die, hintereinander aufgestellt, eine 146 Kilometer lange Reihe bilden würden.
Der Megafrachter bewegt sich mit einer Geschwindigkeit von 14 Knoten fort, was ihm erlaubt, 600 Kilometer am Tag zurückzulegen. Der durch diesen Koloß verursachte Energieverbrauch und die dabei entstehende Umweltverschmutzung sind schwer abzuschätzen; einmal Volltanken kostet mehrere Millionen Euro. Die»HMM Algeciras« fällt da nicht aus dem Rahmen. Mehrere tausend Handelsschiffe überqueren täglich die Weltmeere.
In zwanzig Jahren hat sich ihre Anzahl verdoppelt, und größer sind sie auch geworden. Die Taufe eines jeden dieser Schiffe wird von großem Pomp und überschwenglichen Zeitungsartikeln begleitet. Die »HMM Algeciras«, Eigentum der Hyundai-Gruppe (»HMM« bedeutet »Hyundai Merchant Marine«), wurde im April letzten Jahres während einer feierlichen Zeremonie in Anwesenheit einer vielköpfigen Ansammlung von politischer Prominenz aus Seoul vom südkoreanischen Staatspräsidenten getauft.
Die Billigflaggen
Um einen Blick hinter die Kulissen werfen zu können, muß man die Flagge, die auf der»HMM Algeciras« weht, einmal genauer in Augenschein nehmen: Da flattert keine koreanische Flagge, sondern eine … panamaische. Erstaunlich? Nun, herkömmlicherweise hatten alle großen Seefahrernationen (Briten, Franzosen, Dänen, Griechen, Japaner usw.) ihre eigene Handelsmarine: die Schiffe hißten die Nationalflagge und waren den arbeitsrechtlichen Regelungen und den Umweltstandards des eigenen Landes unterworfen. Aber diese Zeiten sind längst passé. Die internationale Handelsschiffahrt wurde vor mehreren Jahrzehnten aus der Bahn geworfen – und zwar durch das Aufkommen und später die allgemein üblich gewordene »Ausflaggungspraxis«.
Was ist darunter zu verstehen? Die Flagge eines Schiffes entspricht juristisch gesehen seiner »Nationalität«. Demnach ist ein Schiff, das die Flagge Panamas führt, dem panamaischen Recht unterworfen und wird im Falle eines Rechtsstreits (Zusammenprall, Ölpest usw.) vom internationalen Recht als panamaisches Schiff angesehen. Historisch entsprach die »juristische« Nationalität eines Schiffes fast automatisch seiner »effektiven« Nationalität: Ein Schiff mit koreanischen Eignern, auf dem Koreaner arbeiteten, hißte selbstverständlich die koreanische Flagge.
Die Ausflaggung (der Wechsel der Nationalflagge) hingegen erlaubt eine Entkopplung der »effektiven« von der »juristischen« Nationalität. So wird beispielsweise die »HMM Algeciras« vom internationalen Recht als panamaisch eingeordnet, wo sie doch »effektiv« koreanisch ist: Weder wurde ihr Bau von panamaischem Kapital finanziert, noch stammt an Bord auch nur ein einziges Besatzungsmitglied aus Panama, sie ist niemals nach Panama gefahren und wird dort wohl auch nie einen Hafen anlaufen. Einzig und allein ihre Schiffspapiere sind panamaisch.
Die Billigflaggen tauchen ab den 1920er Jahren auf, und zwar gerade in Panama. Mitten in der Prohibitionszeit hatten US-Reeder begonnen, Schiffe nach Panama auszuflaggen, um die Passagiere mit Alkohol versorgen zu können. Und da diese Schiffe regelmäßig den Panamakanal passierten, um die West- und Ostküste der Vereinigten Staaten zu erreichen, blieb zu Panama eine enge Verbindung bestehen. Panama verstand recht schnell, daraus seinen Vorteil zu schlagen: Es lockerte seine Schiffahrtsrichtlinien, um seine Flagge ausländischen Schiffen übertragen zu können, die hier bald nicht einmal mehr Zwischenstopps einlegen mußten.
Panama streicht dabei die Registrierungsgebühren für das ausländische Schiff ein. Man spricht von »offenen Registern«: Wenn es gewissen Anforderungen genügt, darf jedes Schiff der Welt gegen bescheidene Gebühren juristisch ein panamaisches werden. Das Auftauchen der Billigflaggen entspricht also der Etablierung eines Marktes, auf dem mit den »Nationalitäten« der Schiffe gehandelt wird.
Aber es ist dies ein Markt, wo es sozusagen nur Vorteile gibt und überhaupt keine Kosten: Wenn nämlich ein Staat einem ausländischen Bürger seine Staatsbürgerschaft verleiht, geht er ihm gegenüber Verpflichtungen ein (er verpflichtet sich, ihm gewisse Sozialleistungen zu zahlen, ihm gewisse Dienstleistungen anzubieten) – dies alles fällt hier weg. Tatsächlich wird ein Staat, der seine Flagge bereitwillig einem Schiff abtritt, dieses höchstwahrscheinlich nie in seinen Küstengewässern sehen. Etwaige Umwelt- oder anderweitige Schäden müssen andere tragen.
Die Binationalen der Meere
Panamas Flagge war früh ein spektakulärer Aufstieg beschieden, und bald schon sollten andere Länder folgen, unter anderem Liberia. Seit 1968 wurde die liberianische Flagge zur weltweit wichtigsten Handelsflagge noch vor derjenigen des Vereinigten Königreichs. Der Niedergang der traditionellen Seemächte hat sich seit den 1980er Jahren beschleunigt.
Die Anzahl der Staaten, die ihre Flagge bereitwillig ausländischen Schiffen übertragen, ist stark angestiegen, so daß es heute bereits mehrere Dutzend offener Register gibt. Einige Fälle grenzen ans Lächerliche: Die Mongolei, ein Binnenland ohne Zugang zum Meer, verkauft seit Ende der 2000er Jahre seine Flagge an ausländische Schiffe. Die Entkopplung des Staatsgebiets von der Nationalität der Schiffe, die dessen Flagge hissen, ist also total.
Und es liegt auch auf der Hand, daß ein Schiff, sind einmal alle territorialen Bindungen gekappt, seine Flagge und mithin seine »Nationalität« beliebig wechseln kann, um diese oder jene Reglementierungsentwicklung in den fraglichen Ländern zu seinem Vorteil zu nutzen. Es ist nur eine Frage des Geldes. Heute sind ungefähr 75 Prozent der Schiffe der Welthandelsflotte in Billigflaggenländern registriert, darunter 40 Prozent in den drei Ländern Panama, Liberia und auf den Marshall-Inseln. Einst ein bloßes Randphänomen, sind heute Billigflaggen die Norm.
Ein Reeder hat dank der Billigflaggen unzählige Vorteile. In erster Linie kann er so die Steuerpflicht umgehen. In der Tat wird die Registrierung eines Schiffes in einem Billigflaggenland häufig von der Ad-hoc-Gründung einer Gesellschaft vor Ort begleitet, die formell als Schiffseignerin gilt. Solch eine Gesellschaft ist eine bloße Briefkastenfirma, die keine weiteren Vermögenswerte besitzt, häufig nicht einmal über eine lokale Adresse verfügt und nur dazu dient, Gewinne an das Mutterunternehmen weiterzuleiten. So gehört beispielsweise die »HMM Algeciras« offiziell nicht der Hyundai-Gruppe, sondern Meritz Taurus 1 S. A., einer Gesellschaft panamaischen Rechts.
Diese Gesellschaft hat noch nicht einmal einen Briefkasten in Panama, weil ihre Post nach Korea umgeleitet wird.
Ein maßgeschneidertes Recht
Neben der Steuerflucht erlauben Billigflaggen auch die Umgehung aller anderen in traditionellen Seefahrernationen geltenden Vorschriften. Darunter fallen vor allem die Umweltstandards und die arbeitsrechtlichen Regelungen. Traditionellerweise forderten zahlreiche Staaten von den Schiffen, die ihre Flagge führten, daß diese einen gewissen Prozentsatz der Besatzung im eigenen Land rekrutierten. Das wird nun mit den Billigflaggen hinfällig, die durch kein Arbeitsrecht gebunden sind. Mit Ausnahme des Kapitäns wird also die Besatzung heute fast ausschließlich in den Ländern mit den geringsten Lohnkosten rekrutiert, vor allem auf den Philippinen.
Die Arbeitsbedingungen sind oft katastrophal. Die Internationale Transportarbeiter-Föderation, die regelmäßig Inspektionen durchführt, weiß von schweren Mißständen zu berichten: keine Arbeitsverträge; nicht ausbezahlte Heuern; Seeleute, die in Häfen zurückgelassen werden, wenn sie krank sind; Schiffe samt Besatzung, die aufgegeben werden, wenn sie zu alt sind etc. Es ist also kein Zufall, daß sich mit Aufhebung der Handelsschranken die Ausbreitung der Billigflaggen beschleunigt hat: In einem wettbewerbsorientierten Umfeld erlaubte sie eine drastische Kostensenkung.
Zu guter Letzt kann man sich dank der Billigflaggen jeglicher gesetzlichen Verantwortung entziehen. Ein philippinischer Arbeiter, der in einem südamerikanischen Hafen zurückgelassen wird, hat überhaupt keine rechtliche Mittel, um gegen eine in Liberia registrierte Strohfirma vorzugehen: Seine Rückführung in die Heimat geht zu Lasten des Landes, in dem er sich gerade befindet. Die Frage der Haftung stellt sich ganz allgemein bei Seeunfällen und Umweltschäden.
Ein Beispiel: Wenn die »HMM Algeciras« eines Tages eine erhebliche Umweltverschmutzung oder einen anderen Großschaden verursachen würde, könnte sich ein Richter nicht leicht an ihr Mutterunternehmen Hyundai wenden, um von diesem Schadensersatz einzufordern. Er könnte sich nur an die Briefkastenfirma Meritz Taurus 1 S. A.richten, die in Panama der gesetzliche Eigentümer des Schiffes ist und keinerlei Vermögenswerte besitzt, die einen Ausgleich erlauben würden.
Die Ausflaggungspraxis ermöglicht also eine Profitmaximierung – indem die Gewinne an die Mutterunternehmen weitergeleitet werden und man die Steuern umgeht – bei gleichzeitiger Verantwortungsminimierung. Im Schadensfall, etwa einer Ölpest, werden die Kosten fast vollständig »externalisiert«, das heißt, von den Staaten getragen, in deren Hoheitsgewässern es zur Havarie kommt. Ist ein privater Gewinn in Aussicht, wird also die Ausübung aller umweltschädigenden maritimen Aktivitäten fast ohne Einschränkungen in Kauf genommen.
Der Umweltskandal
Diese Möglichkeit besteht nicht nur in der Theorie, wie Ölkatastrophen seit mehreren Jahrzehnten hinlänglich bezeugen: »Torrey Canyon«, »Amoco Cadiz«, »Exxon Valdez«, »Erika«, »Prestige«. In allen Fällen werden kaum behebbare Schäden verursacht, und es ist oft unmöglich, bis zum Eigentümer vorzudringen, um von ihm eine finanzielle Entschädigung zu erhalten, die die durch den Schaden entstehenden Kosten decken würde.
Ein aktuelles Beispiel ist das Containerschiff »MSC Napoli«, das 2007 trotz gefährlicher Ladung (150 Container mit Pestiziden) im Ärmelkanal aufgegeben wurde. Von der zweitgrößten Reederei der Welt (MSC)betrieben und im Besitz einer nicht minder prosperierenden Gesellschaft (Zodiac Maritime), war der legale Eigentümer dieses Schiffes eine Briefkastenfirma mit Sitz auf den Jungferninseln, Metvale Ltd. Die für Reinigung und Abwrackung (Verschrottung) benötigte Gesamtsumme belief sich für die französischen und britischen Behörden auf 120 Millionen Pfund Sterling, von denen lediglich 15 Millionen von der Versicherungsagentur der »MSC Napoli« eingetrieben werden konnten.
Sind Ölunfälle Extrembeispiele der Umweltbelastung, so stehen sie doch nicht alleine da. In unzähligen Weltgegenden dienen Billigflaggen auch dazu, die Fangquoten (Fischerei) zu umgehen und tragen somit zur Überfischung der Meere bei. Auch hier das bekannte Muster: Wird das Schiff dingfest gemacht, so ist die Rekonstruktion der Verantwortungskette, die erst eine Verhaftung der Eigentümer erlauben würde, unmöglich.
Ein Beispiel: Die »Atlantic Wind«, ein Schiff, das oft im Verdacht illegalen Fischfangs stand, hat mittlerweile elfmal Namen und »Nationalität« gewechselt, und fuhr schon unter den Flaggen von Curaçao, Nordkorea, Togo, Tansania, Äquatorialguinea, Sierra Leone usw. Ist die illegale Fischerei auch schwer bezifferbar, dürften doch mindestens 20 Prozent der weltweit konsumierten Fische daher stammen. Überhaupt verwendet die Piratenfischerei Technologien, die mit Blick auf Umwelt und Meeresboden überaus verheerend sind.
Schließlich erlauben Billigflaggen auch, sich leicht der Verpflichtung zu Recycling und Abwrackung der Altschiffe zu entledigen. Man begreift unschwer, daß ein fachgerechtes und sicheres Entsorgen dieser manchmal von Schweröl und anderen toxischen Substanzen (vor allem bei Tankern) imprägnierten Metallmassen sehr kostspielig ist.
In der Praxis entgeht mehr als 90 Prozent der weltweiten Abbruchtonnage einem ordnungsgemäßen Abwracken durch die beachinggenannte Methode (ein Schiff wird bei Springflut mit voller Kraft auf den Strand gefahren). De facto enden beinahe alle ausrangierten Containerschiffe, Schüttgutfrachter und Tanker an einem Strand in Bangladesch, Pakistan oder Indien, wo sie unter desolaten Bedingungen verschrottet werden: Tanks werden ins Meer entleert, Treibstoff und toxische Substanzen laufen aus, nicht abbaubare Stoffe werden emittiert.
Dieses Verfahren ist am Strand von Chittagong in Bangladesch am weitesten fortgeschritten: Photos zeigen Hunderte von Container- und anderen gestrandeten Schiffen nebeneinander aufgereiht. Seit 2009 sind hier 6555 schrottreife Schiffe »gebeacht« worden. Dies Ausrangieren auf den »Friedhöfen der Globalisierung« ist eine absolut gängige Praxis, die Regel also und keineswegs die Ausnahme.
Alle Großreedereien machen mehr oder weniger mit, wobei sie allerdings einen pfiffigen Trick anwenden, der ihnen erlaubt, das Gesicht zu wahren: Einige Tage oder Wochen, bevor man das Schiff beacht, wird es, oft umbenannt und unter neuer Flagge, an einen Mittelsmann weiterverkauft. Diese Mittelsmänner, cash buyergenannt, spezialisieren sich auf den Aufkauf schwimmender Wracks, die sie gegen ein Entgelt für den Metallwert auf einen Strand auflaufen lassen, wo das Metall von lokalen Niedriglohnarbeitern wiedergewonnen wird.
Die Großreeder können hinterher behaupten, vom Verbleib ihres verkauften Schiffes »keinerlei Kenntnis« gehabt zu haben – eine billige Komödie, denn die Methode wird systematisch angewendet.
Die Vermarktung des Rechts
Angesichts dieser Lage reagierten die traditionellen Seemächte mit dem einzigen ihnen verbliebenen Mittel: mit der Möglichkeit, den Schiffen, die ihre Häfen anliefen, gewisse Regeln aufzuerlegen oder gewissen Schiffen den Zugang schlicht zu verwehren. Dies wiederum führte logischerweise zu einer Spezialisierung der Billigflaggen. Der Eigentümer eines neuen Schiffes will dieses natürlich nicht unter einer Flagge mit ruinierter Reputation segeln lassen, die es in unzähligen Häfen verdächtig machen würde und langwierige, kostspielige Kontrollen nach sich zöge.
Es kann also eine wachsende Tendenz beobachtet werden, zwischen »guten« und »schlechten« Billigflaggen zu unterscheiden. Das ist nur logisch: Da Billigflaggen einen »Deal mit der Nationalität« erlauben, überlebt ein Staat im Konkurrenzkampf nur, wenn er sich ein besonderes Segment des Marktes zu sichern weiß. Während sich Panama und Liberia auf relativ neue Schiffe spezialisieren, spezialisieren sich andere auf Wracks.
So bieten die Inselstaaten Palau oder Niue – Vorbilder im Umweltschutz, wie sie sich rühmen – einem Schiff den Erwerb ihrer Flagge für die ausdrücklich »letzte Fahrt« an. Dementsprechend führen seit zwei Jahren 30 Prozent der Schiffe, die in Bangladesch oder Indien auf Strand gesetzt werden, die Flagge Palaus … einer Insel mit 21 000 Einwohnern, deren Hauptstadt Melekeok mit ihren 299 Einwohnern die am dünnsten besiedelte der Welt ist.
Angesichts dieses Skandals sollte man aber nicht meinen, daß der Konkurrenzkampf, den sich Kleinstaaten (immer häufiger Inseln in der Karibik oder im Pazifischen Ozean) auf dem »Markt der Nationalitäten« liefern, eine tatsächliche Konkurrenz zwischen Staaten sei. In den meisten Fällen nämlich sind die »Register«, die die Zuteilung der Flaggen verwalten, Handelskonzerne in einigen der traditionellen Schiffahrtsnationen.
Das Palau International Ship Registry beispielsweise hat seinen Sitz im Hafen von Piräus in Griechenland, und sein Geschäftsführer Panos Kirnidis ist auch Grieche. Die Register von Niue und der Mongolei haben ihre Basis in Singapur, die von Barbados und St. Kitts und Nevis in Großbritannien, das Register von Antigua und Barbuda in Deutschland, dasjenige von Liberia in den Vereinigten Staaten etc. Hinter den Billigflaggen stecken also Anwaltskanzleien oder Unternehmer, die, von den traditionellen Seemächten aus agierend, die Behörden der »kleinen« Staaten überzeugen, ihnen die Verwaltung der eigenen Flaggen gegen eine Linzenzgebühr zu überlassen.
Jegliche Verbindung zwischen Territorium und Nationalität ist somit aufgehoben: Die Nationalitätszuweisung ist nicht einmal mehr das Werk von Staatsbeamten, sondern das ausländischer Handelskonzerne. Dies erlaubt den Anwaltskanzleien der traditionellen Seemächte, das Recht nach eigenem Gutdünken umzuschreiben, um so die Zuweisungsbedingungen einer Flagge den Bedürfnissen der Reeder, die ihre Klienten sind, von Fall zu Fall anzupassen.
Der Nationalitätenmarkt unterliegt also im weitesten Sinne dem Seerecht, in dem alles darauf ausgerichtet ist, maximale Profite zu erzielen – bei gleichzeitiger Reduktion der Beschränkungen und der Haftung. Das birgt auch Gefahren: 2002 mußte das »offene Register« des Inselstaats Tonga (mit Sitz in Athen) seine Aktivitäten infolge einer Serie von Skandalen (Waffenschmuggel etc.) einstellen. Die Geschäftsleitung entfloh mitsamt dem Geld, das man Tonga schuldete.
Das Problem des Seerechts
Das grundlegende Problem, das durch die Ausflaggungspraxis ins Licht gerückte wird, hatte bereits Carl Schmitt in Land und Meer bemerkt: Die hohe See ist keiner staatlichen Souveränität unterstellt, gehorcht nicht zwingend irgend einem nationalen Recht, ist in fine ein Raum der Ununterscheidbarkeit. Zumindest seit Hugo Grotius im 17. Jahrhundert ist die »Freiheit der Meere« ein grundlegendes Prinzip des Völkerrechts. Schmitt zitiert Schiller: »Auf den Wellen ist alles Welle«.
Aber mag das Meer auch jede Souveränität abschütteln, so entkommt es doch nicht der Notwendigkeit einer rechtlichen Regelung: Denn Schaden kann eben auch hier auftreten. Im Lauf der Jahrhunderte entwickelte sich das Seerecht weitgehend am Rande des Rechts der einzelnen Staaten; im Gegensatz zum traditionellen Recht, das immer an ein bestimmtes Gebiet gebunden, also geortet ist, kennt das Seerecht keinen Ort, keine Grenzen, sehr wohl aber einen unbegrenzt bewegten Raum.
Das Seerecht ist demnach in seinen Leitprinzipien dem Landrecht entgegengesetzt: Es beruht auf einer Entkopplung von Territorium und Recht, es öffnet Tür und Tor für ein abstraktes Weltrecht. Historisch gesehen eine Randerscheinung, haben die Leitprinzipien des Seerechts in der modernen Zeit so überhandgenommen, daß sie zur Erosion des auf ein konkretes Gebiet bezogenen, klassischen Landrechts führten: Sobald man auf dem Seeweg Gebiete umschiffen kann, die durch diese freie Bewegung der Schiffe miteinander in Konkurrenz geraten, bricht die interne rechtliche Hierarchie dieser Gebiete zusammen, muß sie sich doch den Handelsinteressen, die von den Meeren Besitz ergriffen haben, anpassen.
In diesem Zusammenhang ist folgendes bezeichnend: Einige der traditionellen Seemächte wie Frankreich, Deutschland oder Dänemark schufen ihre eigene »Billigflagge«, um ihre Flotten nicht gänzlich zu verlieren. In Frankreich wurde 2005 das Registre International Français (RIF)ausdrücklich zum Zweck geschaffen, das französische Recht international wettbewerbsfähig zu machen.
Und ein letzter Punkt verdient noch Beachtung: Sehr bald schon mußte man den Reedern, damit Schiffe wichtige Ladungen transportieren konnten, mit rechtlichen Ausnahmeregelungen entgegenkommen. Als beispielsweise zu Beginn des 17. Jahrhunderts in England und den Niederlanden die Indienkompanien gegründet werden, sind sie die ersten Handelsgesellschaften, die die Haftung ihrer Anteilseigner beschränken können: Letztere haften im Falle eines Verlustes der Ladung auf dem Meer nur in sehr beschränktem Maße dafür.
Ohne diese rechtliche Ausnahmeregelung hätte der Fernhandel wahrscheinlich niemals so einen großen Aufschwung erleben können. Ähnliches gilt für die die Eigentümer der »HMM Algeciras«: Müßten sie persönlich für die Ladung dieses Schiffes haften – mehrere Milliarden Euro –, ist zu bezweifeln, ob sie seinen Stapellauf überhaupt in Erwägung gezogen hätten.
Dieses äußerst strittige Ausnahmerecht bezüglich des Seetransports wurde neuerdings von verschiedenen internationalen Abkommen aufgegriffen: Ein »Übereinkommen über die Beschränkung der Haftung für Seeforderungen« wurde 1976 von sozusagen allen Ländern der Erde unterzeichnet und bleibt auch weiterhin der Bezugsrahmen für den Seetransport.
Der Welthandel – eine Piraterie
Am Ende dieser Untersuchung erscheint eine Schlußfolgerung zwingend: Durch das Billigflaggensystem ist der Seetransportsektor fast in seiner Gänze dergestalt strukturiert, daß er zu einer Gewinnmaximierung führt, während er gleichzeitig erlaubt, jeglicher steuerlichen Belastung, allen Sozial- und Umweltvorschriften, der gesetzlichen Haftung im Schadensfall und der Verpflichtung zum Recycling von Schiffen aus dem Weg zu gehen.
Die Folgekosten beim Seetransport werden also nicht von den Reedern oder anderen Akteuren des Sektors getragen, sondern im wesentlichen von der »Gesellschaft«. Die Vermarktung des Rechts und das Vorhandensein von Haftpflicht-Ausnahmen erlauben eine künstliche Niedrighaltung der Transportkosten.
Ohne diese rechtlichen Ausnahmeregelungen würde der Seehandel wahrscheinlich weit eher dem ähneln, was er schon immer war: Einem relativ randständigen und nur Luxusgütern vorbehaltenen Aktivitätsfeld. Überdies wären Deindustrialisierung und die diese begleitenden sozialen Folgen nicht so verheerend gewesen.
Ein System der unbegrenzten kommerziellen Ausbeutung des Planeten hätte sich nicht etablieren können. Billigflaggen und Ausnahmerecht im Seeverkehr waren eine der Bedingungen für die Globalisierung. Carl Schmitt sah ganz richtig, daß der Pirat die »Freiheit der Meere« ausnutzt, um daraus den größtmöglichen Gewinn zu schlagen, ohne dabei politisch motiviert zu sein. Das ist bei den aktuellen Großreedern nicht anders, nur in weit beachtlicherem Maße.
Die »Schwarze Liste« der Billigflaggen (geführt von den europäischen Staaten) hat die »schwarze Flagge« ersetzt. Aber die Methode bleibt die gleiche.
Lotta Vorbeck
Blick zurück ins Mittelmeer des Jahres 2017:
Das einst in Finnland auf Kiel gelegte Schiff "C-Star" fuhr unter der Flagge der Mongolei mit einer ceylonesischen Besatzung.
Bereedert wurde die "C Star" von der Firma "C Vessels".
Nicht nur das, was sich bei der Passage des Suezkanals an Bord der "C-Star" ereignete, beschreibt der helvetische Hochseekapitänspatentinhaber Alexander Schleyer plastisch in seinem Buch "Defend Europe".
In diesem Fall war es die vom Guillaume Travers detailliert dargestellte Ausflaggungspraxis, die es überhaupt erst ermöglichte, daß das Schiff für die IB-Reise ins Mediterrane Meer gemietet werden konnte.