zurück in den Strom der Leseflüsse zu führen, erschien nun ein wundersames, einzigartiges Buch: Straumēni. Hinter diesem geheimnisvollen Namen steht ein altes lettisches und wohl fiktives Gut, dessen verwehtes Leben Edvarts Virza 1933 aus der Erinnerung beschrieb.
Der Hof steht im Mittelpunkt der Schilderung, die darauf lebenden und arbeitenden Menschen sind seine Diener, eingebettet in das magische Quadrat aus Haus-Mensch-Natur-Geister. Alle sind Glied einer langen Kette, deren Anfang im historischen Dunkel – im Volk eingebettet – verschwunden ist, die zugleich aber geschlossen wird vom ewigen Kreislauf der Jahreszeiten, welche Virza als Gerüst, man kann auch sagen: als Joch nutzt. Denn das Joch – »sie waren alle in ein Joch gespannt, das sie bis zum Tode zu tragen hatten« – ist hier in erster Linie Ordnung und garantiert die Freiheit durch die Struktur.
Man kann das Buch daher wie einen Ring an jeder beliebigen Stelle anfassen und das Rund umtasten, denn es schließt dort, wo es beginnt; die Handlung vollendet den Kreis. Und wenn man hier von Handlung spricht, dann meint man nicht die Handlung eines geläufigen Romans – denn diese ist abwesend –, sondern das Handeln, das Handwerk, das Handhaben, das Hantieren, das, was die Hände leisten, dann spricht man von der Arbeit, die den Menschen Sinn und Orientierung gibt und die dazu führt, daß sie ihre Hände am Ende der Ernte nicht mal mehr strecken können.
Es ist ein Hohelied auf den Reichtum des einfachen Lebens, das die Vielfalt aus sich selbst gewinnt und das Hereinholen des Fremden und Neuen kaum benötigt. »So hatten ihre Vorfahren gelebt, und so lebten auch sie, schöpften ihre Kraft aus der Erde, mischten sich mit allem, was sie hervorbrachte, und blickten mit gelehrigen Augen durch den Staub der Arbeit in die Zukunft.« Alles in diesem Quadrat greift ineinander, alles hat Sinn und Zweck, alles ist belebt und beseelt, alles hat seinen Platz, alles eine Wurzel: »Mit Bewegungen, die ihnen seit uralten Zeiten angeboren waren, machten sich die Männer an die Arbeit.«
Wie eine ferne, fast unwahre Melodie erklingt dem heutigen durchindividualisierten Leser die Erzählung der Geschehnisse, des Ablaufs der Dinge, als der Mensch noch ein Abschnitt eines langen Fadens war, den die Spindel der Zeit in gleichförmigen Rhythmen aufnahm und abspulte. Virza wählt den entscheidenden Punkt des Umschlagens, er idealisiert nicht, er zeigt auch die Härte, gelegentlich die Brutalität, er scheut nicht den Tod und das Töten – auch dies eingebettet in die jährlichen Bahnen. Es ist der historische Augenblick des Einzugs des sogenannten Fortschritts: in der Darre hängen noch die alten Geräte, um deren Nutzung kaum noch jemand weiß, und eine neue Dreschmaschine, die den Flegel ersetzte, gefiel den Alten nicht, »weil das von ihr gedroschene Korn nicht mehr die rechte Reife und das Brot nicht mehr den Duft nach Getreide hatte.« Überhaupt war das Brotbacken mystisch, »denn bei der Geburt von Brot fanden Dinge statt, von denen nur die Frauen etwas verstanden.«
Man muß dieses Buch schon deswegen haben, weil es eine unschätzbare Sammlung, gleichsam phänomenologisch, an fraulichen und männlichen Arbeiten bietet. Aber auch der natürliche Wandel wird eingefangen und wie in einem Honigglas konserviert – so unerschöpflich wie die beschriebene Natur ist auch die sie beschreibende Phantasie und Wortfreude Virzas: Immer wieder findet er neue faszinierende Bilder. Das Buch ist eine Augenweide, ein Klangteppich, eine Geruchskomposition, ein Sammelsurium an verklungenem Vokabular, ihm entsteigt förmlich der Duft des gemähten Heus, das Geklapper der Flegel, das Farbspiel der Felder, die klirrende Kälte des Winters. Und aus all dem zieht Virza mitunter kryptische Schlüsse der Weisheit, der Essenzen, des Geistes, des Wesens; wie der Rigaer Balsam die Seele der Kräuter einfängt, so enthält dieses zauberhafte Buch das blanke Sein – wie es war, wie es sein sollte, wie es richtig ist: die Ordnung der Dinge.
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Edvarts Virza: Straumēni, Berlin: Guggolz 2020. 333 S., 25 €
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