Wie heißt es heute? Abgesagte Bundesligaspiele habe es »zuletzt 1945« gegeben! Massiven Schulausfall, nur noch zweilagiges Toilettenpapier, nur noch Vollkornnudeln in den Regalen etc.: dito? Manche Lautsprecher wähnen uns heute in einer »Krise«, die der von anno 1945 vergleichbar sei. Vermutlich kommt es dabei auf die Perspektive und den Ausgangspunkt an.
Wenn ich meine Eltern frage, welche Qualität das Klopapier in ihrer Kindheit hatte, erinnern sie sich an Zurechtschneidearbeiten von Zeitungen. Was war damals doch gleich nochmal? Die Rede von der glücklichen »Befreiung« 1945 dominiert heute die Narrative – und bald darauf begann ja im Goldenen Westen das Wirtschaftswunder (pardon, nein, das begann erst mit den Gastarbeitern) und das Jahrzehnte währende »große Fressen« mit Saumagen, Döner und vierlagigem Klopapier (sprechender Markenname: »Happy End«).
Tatsächlich fand vor 75 Jahren in den deutschen Ostgebieten das statt, was heute unter »Flucht und Vertreibung« etikettiert wird. Meine Eltern waren beide betroffen. Mein Vater stammt aus Niederschlesien. Ihn und seine Familie ereilte der Vertreibungsbefehl im Winter 1946. Binnen zwölf Stunden hatten die Einwohner von Kunzendorf, heute: Dziadowa Kłoda, Sack und Pack zusammenzuraffen, um sich auf den Vertreibungstreck gen Westen zu begeben. Ein Votum gab es nicht. Mein extrem unsentimentaler Vater (damals sechs Jahre alt) hat den polnischen Soldaten mit dem Gewehr noch heute vor Augen. Einzelne Worte und Befehle hat er memoriert.
Mutter lebte in Oberschlesien nahe Oppeln. Dort durfte bleiben, wer »für Polen votierte«, das heißt, wer als Deutscher einwilligte, fortan Pole zu sein. Der Vater meiner Mutter war anno 1945 erst erschossen, dann von einem russischen Panzer zermalmt worden. Er war Bahnangestellter und niemals Soldat gewesen. Es hatte ihm nicht geholfen. Er hatte sich mit Kollegen im Wald bei Proskau versteckt. Einmal kam er heraus und schlich ins Dorf, um nach der Jüngsten seiner fünf Kinder zu sehen, das war meine Mutter, die er noch kaum kannte. Ein Kollaborateur, ein Nachbar, verpfiff ihn an die neue Besatzungsmacht. Meine Großmutter Franziska, streng katholisch, versuchte alles, um ihn zu retten. Sie warf sich – ihre Kinder waren zugegen, die beiden großen Söhne, 13 und 15, wurden dann gleich mitgenommen und zur Zwangsarbeit verpflichtet – vor ihren Mann, zog ihren Ehering ab und rief: »Nehmt mich, nehmt alles, aber laßt mir Vinzent!« Umsonst.
Sie blieb, als es vorbei war. Wohin hätte sie als Witwe fliehen sollen? Das war jetzt Polen. Die deutsche Sprache war hier fortan verbannt. Das wurde streng überwacht, es gab Horcher am Küchenfenster, die dafür sorgten, daß auch häuslich polnisch gesprochen wurde. Als meine Mutter mit ihrer Mutter und den Geschwistern 1958 nach Westdeutschland ausreisen durften, sprachen sie Deutsch wie Ausländer.
Ich habe vor längerer Zeit zahlreiche Verwandte und Bekannte nach ihren Erlebnissen von »damals« befragt und etliche Audioaufnahmen angefertigt, für ein Projekt an der Gutenberg-Universität Mainz. Die Antworten sind für mich noch heute interessant. Übereinstimmend waren es »Mongolen«, also außereuropäische Truppenteile, die 1945 über die Oder stürmten. Übereinstimmend: Es gab keine Gnade.
Im Heimatdorf (früher: Groß Schimnitz; zur nationalsozialistischen Zeit Groß Schimmendorf, hinterher Zimnice Wielkie; seit 2010 zweisprachiger Ortsname) meiner Mutter wurden damals binnen weniger Tage 164 von etwa 700 Einwohnern getötet. Die Anzahl der vergewaltigten Frauen liegt naturgemäß im Dunkeln. Ich weiß von drei sogenannten Russenkindern in diesem strengkatholischen Dorf. Man könnte da leicht Hochrechnungen anstellen.
Der hier abgebildete Grabstein steht im Nachbarort Gottesdorf. Gottesdorf hieß vorher Boguschütz und nach der polnischen Vereinnahmung Boguszyce. In den Tagen zwischen dem 28. und dem 30. Januar 1945 starben etwa 200 Einwohner von Gottesdorf sowie 100 bis 150 weitere Zivilisten, die aus der nahegelegenen Kreisstadt Oppeln und umliegenden Orten stammten und in Gottesdorf Zuflucht gesucht hatten.
Schauen wir uns dieses polierte, einigermaßen modern daherkommende (also nüchterne, unpathetische) Grabmal der Familie Gielnik genau an: Hier ist der Tod von drei männlichen und fünf weiblichen Familienangehörigen verzeichnet. Zuerst, nämlich am 28. Januar, kam der Vater, Ignatz, um. Wahrscheinlich ist, daß er einen ähnlichen Rachetod starb wie mein Großvater. Am Tag drauf wurden seine Frau Maria ums Leben gebracht sowie fünf seiner sechs Kinder. Maria, die dreizehnjährige und damit jüngste Tochter, mußte noch einen Tag länger herhalten.
Was wäre hier Pietät? Schwamm drüber – denn an deren Leid zu erinnern hieße, das Leid der NS-Opfer zu schmälern? Ist es vermessen zu mutmaßen, daß die Gielniks letzten Endes ebenfalls NS-Opfer waren? Daß man für seine Abstammung nichts könne, daß es eigentlich einerlei sei, woher eine/r stamme, ist mit Blick auf heutige Flüchtlingsströme das offiziöse Gebot der Stunde. Ich habe in den vergangenen Monaten und Jahren im gebührenfinanzierten Öffentlichen Rundfunk zahlreiche Beiträge zum Völkermord an den Herero und Nama gehört. Auch den türkischen Völkermord an den Armeniern hält man wacker im Gedächtnis. Ich habe recherchiert, daß seit 2015 am 20. Juni zeitgleich zum »Weltflüchtlingstag« (übrigens ein unfreiwillig und unpassend lustiger Begriff) in Deutschland »insbesondere der deutschen Vertriebenen gedacht« werde. Achso? Schlägt sich das irgendwo (öffentlichrechtlicher Rundfunk, Regierungsansprachen, Schulunterricht) nieder? Nein. Die »zwölf bis 14 Millionen« deutscher Vertreibungsopfer (in meiner Schulzeit hieß es noch: 20 Millionen) seien, so lese ich auf den gängigsten Netzseiten, im Todesfall vor allem an »mangelnder Hygiene«, »Nahrungsmittelknappheit« »Erschöpfung« und »fehlendem Heizmaterial« zugrunde gegangen.
Widrige Umstände also bloß, kein dreilagiges Klopapier mehr? Bitte: Habt acht – die Toten mahnen uns. Es gibt schlimme Zeiten. Es gab schlimmere.