Die Schulung und Ausbildung ihrer Heranwachsenden ist für die menschliche Gesellschaft essentiell, weil sie – inmitten der Natur – einer künstlichen und daher aufwendig zu erhaltenden und permanent weiterzubauenden technischen Kunst-Welt bedarf, die eben ihre eigene und die ihr einzig zuzumessende Welt ist. Arnold Gehlen (1904 – 1976) begründete das eindrucksvoll.
Jede Folgegeneration hat daher von der vorhergehenden alles zu lernen, was das materielle und geistige Überleben sichert. Dies stellt eine enorme Herausforderung dar – kognitiv, sprachlich und physisch fit zu sein, um das Ererbte an Wissen, Know-how und Kultur zu bewahren, zu sichern und zu gestalten.
Menschliche Leistungen lassen die unser Leben sichernden Institutionen entstehen, die wiederum uns als Handelnde in Dienst nehmen. Gehlen meinte im Aufstand des intellektuellen Denkens und im Drang nach dem Wohlleben eine Verderbnis seiner Gegenwart zu erkennen. Er sah davon die Institutionen infrage gestellt, die er als Bastionen unserer Sicherheit verstand.
Überhaupt fürchtete er, eine zu selbstverständlich gewordene Kultur könnte zur Lässigkeit verleiten, zur gefährlichen Illusion, der Mensch dürfe sich gehenlassen und auf die Strenge von Form und Führung verzichten, die jedoch für die Weiterexistenz unerläßlich sind.
Er behielt Recht. Der Mensch, mindestens der europäische, wurde gerade wegen der durch Institutionen und Technik ermöglichten Entlastungen lässig und vergaß die enorme Wichtigkeit der Kultur, die ihm einzige Lebenssphäre ist. Der Niedergang der Schulbildung in Deutschland beweist es.
Hinzu kam: Techniken und Arbeitsvorgänge, mit denen wir wichtige Existenzmitteln einst selbst schufen, sind längst global ausgelagert, “outgesourct”, liegen nicht mehr in unserer Hand; wir setzen sie aber immer noch als vorhanden voraus. In der sogenannten Corona-Krise etwa fiel plötzlich auf, daß wichtige Medikamente nur noch in Indien hergestellt werden, geringerer Kosten wegen.
Lernen galt ganz selbstverständlich nicht zuerst als Spaß, sondern als ehrenwerte Anstrengung, weil die nächste Generation es einfach hinbekommen mußte, insofern sich nichts von allein machte, die Herausforderungen stets wuchsen, die Technik immer bessere Qualifikationen verlangte und weil der Mensch sicherer und besser leben wollte.
Ein solche Lern-Arbeit wird allerdings nur noch in aufstrebenden Nationen betrieben, beispielsweise in Fernost. Insbesondere die fernöstlichen Schulen werden indessen von unseren „Bildungsforschern“ als autoritäre Paukschulen kritisiert. Was sie praktizieren, das passe nun gar nicht zu unserem neuen Menschenbild.
Sich zusammennehmen, sich konzentrieren, Ausdauer erwerben und Kraft, um sich ausprobieren und bewähren und schließlich sagen zu können „Ich habe es jetzt drauf!“, das zeichnete das Schulerlebnis und die Lehre von Handwerk und Beruf aus. Lehrjahre sind keine Herrenjahre, sagte die Alten: Leiste anständig was, dann bist du was, erwirb dir Achtung, indem du selbst für dich sorgen kannst und für andere – gegen guten Lohn – nützlich bist. Du mußt nicht Professor werden, aber redlich sollst du arbeiten, gründlich und so, daß du Qualität lieferst. Ein guter Dachdecker hat ebensoviel Respekt verdient wie ein Ingenieur.
Dieser Ansatz scheint in der „Abstiegsgesellschaft“ (Oliver Nachtwey) verloren. Das liegt an weltökonomischen Veränderungen, aber ebenso am zunehmenden Unvermögen vieler Heranwachsender, sich selbst zur Leistung aufzuraffen. Dies mißlingt im Unterricht etwa ebenso wie im Sport. Sich gegen den inneren Schweinehund durchzubeißen, das wollen immer weniger. Stattdessen wird gechillt, sediert von der über das Netz und die sogenannten sozialen Medien zugereichte armselige Unterhaltung.
Leistung gibt es da und dort eher noch als Fitneß, als narzißtisch erfolgende Arbeit am eigenen Outfit. Man ist gewissermaßen der Schmied seines eigenen Körpers. Damit kann man Influencer werden, dessen Erfolg aber wiederum von Algorithmen bestimmt wird, nicht aber ein Leistungsträger, der substantiell seinem Land oder seinen Leuten nützt.
Vielmehr als um angestrengte Lernarbeit und fleißiges Üben geht es der Schule neuerdings um eine Art Therapie. Alles, was zu sehr fordert, was anstrengt und Unterschiede in den Talenten offenbart, galt seit den Neunzigern zunehmend als Überforderung, mittlerweile aber gilt es bereits als Diskriminierung.
War es früher der Leistungsträger, der als vorbildlich galt, immer in Verbindung mit seiner Erziehung zu Maß und Benehmen, sind es heute die Benachteiligten mit ihren „Handicaps“, denen die ganze Aufmerksamkeit der Schule gehört. Auf sie ist das System ausgerichtet; es nivelliert nach unten und findet sich auf die Schwachmaten zugeschnitten, ganz so, wie im Gesundheitswesen eher der Kranke als der Gesunde die Logik der Verfahrensweisen erfüllt. Die Stärkeren gelten hingegen als Problem, werden gebremst, vermissen Erlebnis und Bewährung, langweilen sich und lassen das eigenen Bemühen schleifen. Fehlt erst der Wille, versagen auch sie. Die als Segen beschworene Ganztagsschule ist gerade nichts für intelligente und robuste Naturen, die ihre Abenteuer nicht in inszenierten Projekten im Schulhaus suchen.
Um Mißverständnisse auszuschließen: Selbstverständlich bedürfen die Schwachen, die durch Krankheit Benachteiligten, die Verhaltensgestörten und die Unwilligen einer speziellen Förderung. Dies ist hierzulande durchweg geschehen, innerhalb eines pädagogischen Schutzraumes, der früher Hilfs- und dann Sonderschule hieß und wo universitär ausgebildete und hochprofessionelle Sonderpädagogen die Pflege und Förderung Benachteiligter übernahmen. Deutsche Sonderschulen waren weltweit anerkannt und pädagogisch besonders erfolgreich.
In der speziellen und gesonderten Ausbildung und Erziehung Lernbehinderter hätte noch in den Neunzigern und in den Nullerjahren kaum jemand eine Diskriminierung erkennen wollen, sondern, im Gegenteil, den besten Weg, das Optimum für die biographische und berufliche Entwicklung von Kindern mit Besonderheiten zu ermöglichen.
Aber mit der Umsetzung der verkürzt verstandenen UN-Behindertenkonvention begann linkspolitisch grundiert die Inklusionskampagne, die argumentierte, Sonderschüler an konzeptionell eigens auf sie zugeschnittenen und besonders qualifizierten Schulen zu betreuen, das käme einer Art Selektion gleich. Man zerschlug prompt die bewährten sonderpädagogischen Einrichtungen und verteilte deren erfahrene Pädagogen an die Regelschulen, wo Bildung und Erziehung aller miteinander nun inklusiv erfolgen sollte.
Weil man sich die schlechte Improvisation auf dem Papier „wissenschaftlich“ schönzureden wußte und die Messungen so vornahm, daß ein Erfolg erweislich schien, feierte man diese Verschlimmbesserung als Bravourstück. Im Stich gelassen finden sich jene, die man inkludieren wollte.
Die Inklusionskampagne verschlechterte die Situation der einstigen Sonderschüler, passte jedoch ins politische Programm wie überhaupt in die zunehmende Ideologisierung der Schulen: Gerechtigkeit, Antidiskriminierung, Diversität.
Die Fehlentscheidung zur „Inklusion“ verstärkt in den Regelschulen eine Tendenz, die seit den Siebzigern begann: Nicht der Erwerb von umfassendem Wissen und die Ausbildung praxisrelevanter Fähigkeiten und Fertigkeiten ist das Ziel, sondern Wohlbefinden, Wertschätzung und Spaß. Jeder Schüler soll sich angenommen und geschätzt fühlen, auf daß sich sein Selbstvertrauen stärke.
Alles wichtig. Aber eher Grundlage als Ziel. Es darf mindestens an Standardschulen nicht darum gehen, frühtherapeutisch oder primär sozialpädagogisch zu betreuen, sondern es muß aktiv herausgefordert werden und erlebbar sein, daß Aufgeschlossenheit und Fleiß, Konzentration auf die Aufgaben, tief ins Weltwissen eindringendes Lernen und ausgiebiges Üben und Erproben der Fertigkeiten das Selbstwertgefühl stabilisieren und einen tatkräftigen Absolventen heranbilden – als professionellen Facharbeiter oder Handwerker, als verantwortungsvollen Angestellten oder Beamten, als klugen Wissenschaftler.
Schüler erwerben sich Anerkennung und Lob kaum mehr im Zuge eines herausfordernden und Haltungen ausprägenden Unterrichts. Nein, sie gelten per se als toll, wertvoll und einmalig – einerseits eine Banalität, insofern jeder natürlich besonders ist, anderseits ein falsches und voreiliges Kompliment, das den ausgeprägten Individualismus und die narzißtischen Empfindlichkeiten weiter verstärkt, nicht aber auf das Leben vorbereitet, das letztlich doch jeden belehrt.
Nur halten dann viele die vorprogrammierten Krisen und Einbrüche nicht aus und scheitern daran. Obwohl die Schule angeblich so schülerfreundlich wie nie verfährt, sind die Kinder- und Jugendpsychiatrien überfüllt. Resilienz wurde zum Modewort, weil es sie nicht gibt. Die Schule vollbrachte das zweifelhafte Kunststück, einerseits Inhalte und Anforderungen zu reduzieren und die Benotung zu inflationieren, andererseits aber mit Formalien zu stressen.
Außerdem: Wenn früher nur maximal zwanzig Prozent ein Abitur ablegten, war das die Garantie für einen einträglichen Beruf. Fahren aber immer mehr zum höchsten Schulabschluß hinauf, herrschen dort oben Gedränge und Konkurrenz.
Heranwachsende sollten nicht einerseits als höchstbegabte Wunderkinder verklärt, andererseits nicht als trost- und hilfebedürftige Behinderte pathologisiert werden, sondern als junge Menschen gelten, in denen immense Möglichkeiten angelegt sind, die durch hohe Anforderungen und interessanter Unterricht entwickelt werden müssen.
Wir wachsen tatsächlich mit unseren Herausforderungen und gerade nicht im Vermeiden von Anstrengung. Es tut uns nicht gut, wenn wir uns als der Mittelpunkt und als Hauptsache der Welt wähnen, uns für einen „Volltreffer“ Gottes halten, sondern wir müssen uns Anerkennung erst selbsttätig erwerben, anstatt sie für nichts geschenkt zu bekommen, zugereicht nur dafür, daß wir auf der Welt sind und Stoffwechsel betreiben.
Jeder von uns muß über seine Befindlichkeiten hinaus, hat sich zu entwerfen und sich in Mühe und Anstrengung darüber zu belehren, ob Verstand und Mumm nun ausreichen oder nicht. Wenn nicht, dann hilft die Verbesserung der Haltung und die Steigerung des Bemühens; wenn immer noch nicht, dann kann man an Förderungen denken, allerdings nur für jene, die tragischerweise über ein fortwährendes Scheitern nicht hinauskommen. Das sind wenige. Ihnen muß geholfen werden, jenen, die nicht können, weniger denen, die nicht wollen, obwohl ihnen alle Möglichkeiten zur eigenen Entwickelung rechtlich längst garantiert sind.
Die meisten werden ihren Ort finden und eine Aufgabe, die ihnen liegt und die Anerkennung einträgt. Dafür aber müssen sie Herausforderungen annehmen lernen und dürfen nicht verzärtelt werden. Ihnen alle Hindernisse wegräumen und Förderpläne erstellen, die einen Minimalismus bei Gewährung besonderer Boni ermöglichen, das genau deformiert und verzwergt junge Menschen zu infantilen Erwachsenen, die zwar weiterhin Forderungen stellen, sich diese aber selbst nicht erfüllen können und also in ihren „Maßahmekarrieren“ weiterhin der Fürsorge bedürfen. Sie werden ihre Rechte kennen, aber von Pflichten nichts wissen wollen, weil sie nie in die Pflicht genommen wurden.
Arnold Gehlen warnte davor, die Kultur könne sich kraft der technisch möglichen Entlastungen dazu hinreißen lassen, die Institutionen zu vernachlässigen und vom wieder vernatürlichten Menschen zu träumen.
Das Gegenteil rettet, nämlich die stabilisierte „zweite Natur“, die der Mensch aus sich heraus entfaltet und der er sich selbst unterwerfen muß, wenn er nicht in eine „fürchterliche Natürlichkeit“ zurückfallen will. Die Institutionen sind mithin für Gehlen identisch mit dem Mensch-Sein überhaupt oder, anders ausgedrückt, identisch mit der menschlichen Kultur.
Gehlen warnte: „Wenn die Disziplin der gelernten Arbeiter und der beruflichen Körperschaften zerfällt, der Juristen, Gelehrten, Beamten, der Regierungen und Kirchen, wenn das Ideologische und Humanitäre sich verselbständigt und diese Formen von außen her aufweicht, dann ist die Kultur am Ende …“
Werden die lang gewachsenen und bewährten kulturellen Standards und die Institutionen abgetragen, so erscheinen als ihr Zerfallsprodukt der Subjektivismus und die „Ichbetontheit des Durchschnittsmenschen“ – und als deren Folge Ratlosigkeit, Begehrlichkeit, Triebhaftigkeit.
Gehlen argumentiert nicht politisch, sondern moralisch. Ihm geht es um die „Stabilisierbarkeit“, den dauerfähigen Bestand von Handlungen, Gesinnungen und Gedanken.
Diese Stabilität ist gefährdet, wenn der Mensch zur Beliebigkeit ermutigt wird. Genau dies geschieht hierzulande. Deswegen geraten wir nicht nur im Wettbewerb mit den hart arbeitenden Asiaten ins Hintertreffen, sondern lösen unsere Nation und Kultur überhaupt im Amorphen des „Alles ist möglich!“ und „Jeder ist willkommen!“ auf.
Längst scheinen Geschlechterbefindlichkeiten und irre Gerechtigkeits‑, Integrations- und Gleichheitsphantasien im politischen Diskurs wichtiger als die Rettung eines kulturellen Minimums. Unsere Kultur droht zu sterben; übrig bleiben die leeren Phrasen von Buntheit, Diversität und vermeintlicher Weltoffenheit.
Gelddrucker
Der Bunt-Unsinn tangiert die meisten Deutschen nicht im geringsten.
Man sollte endlich mal aufhören, es so darzustellen, als seien diese Spinnereien einer medialen Elite das, was das deutsche Volk und andere europäische Völker wirklich bewegt.
Ich kenne Wähler aller Parteien, aber keinen einzigen, der aktiv Buntheit und Diversität oder ähnlichen Quatsch unterstützt.