hätte das den Bildungshorizont wohl erheblich mehr erweitert als so manches digitale Rumpfprogramm“, schrieb Uwe Ebbinghaus kürzlich in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung.“
Das dürfte so stimmen. Aber es liest eben nur, wer lesen will und wer überhaupt lesen kann, also über eine „Grundkompetenz“ verfügt, die die Schule schon seit längerem kaum mehr zu vermitteln vermag.
Über 23 Prozent der Neuntkläßler verstehen in Deutschland nicht mal einfachste Texte, und dies nicht trotz, sondern eben wegen der Schule, der es längst um ganz andere Zielstellungen zu tun ist, als Kindern das Lesen und Schreiben zu lehren.
Hauptsache sind längst wieder politische Zielstellungen: Schule gegen Rassismus – Schule mit Courage, Europaschule, Demokratiebildung, Umweltschule in Europa-Internationale Nachhaltigkeitsschule und anderes mehr.
Hinsichtlich echter inhaltlicher Angebote oder gar Forderungen mit hohen fachlichen Ansprüchen verödete die deutsche Schule seit Jahrzehnten und vermag schon aus strukturellen Gründen keine Breitenbildung sicherzustellen, deren Absolventen zu guten Facharbeitern, verantwortungsvollen Angestellten und Spitzenwissenschaftlern werden. Das Fach Deutsch ist degradiert, Mathematik wurde reduziert, gilt aber dennoch als Überforderung, so daß Klausurnoten und Prüfungsergebnisse im nachhinein hochgesetzt werden; den Naturwissenschaften, insbesondere Physik und Chemie, werden nur wenige Wochenstunden zugewiesen.
Kommen Schüler dennoch zu einem Qualifikationserfolg, ist dies ihrem Engagement oder Fachschaften und Einzelkollegen zu danken, die verantwortungsvoll und eigenständig dem verordneten Niveauverlust entgegenzuarbeiten bereit sind. Gewissermaßen antizyklisch, aus eigenem Berufsethos. Noch.
Es drängen nämlich immer mehr Lehrer an die Schulen, die in den letzten Jahren selbst das System durchliefen und darin nur unzureichend ausgebildet wurden. Daß junge Deutschlehrer zwangsläufig u. a. orthographisch und grammatisch nicht sicher sind, thematisierte die Presse jüngst. Studien weisen die Defizite von Studenten in textlichen Befähigungen seit längerem nach.
„Zehn Prozent meiner Germanistikstudenten fallen mit ihren Hausarbeiten nur deshalb durch, weil sie zu viele Rechtschreib‑, Komma- und Grammatikfehler machen. Es dürfen nicht mehr als 15 Fehler auf den ersten drei Seiten sein.“ So Ulrike Behrens, Dozentin für germanistische Fachdidaktik an der Universität Duisburg-Essen.
Dabei muß man wissen, daß die von der Dozentin angesetzte Fehlerquote vergleichsweise elitären Ansprüchen genügt. Abituraufsätzen kennen längst keine Fehlerzahlen oder gar Quoten und Noten fürs Elementarsprachliche mehr.
„Corona“ verschlechterte die Situation an Schulen und Hochschulen weiter. Man könne nur darüber staunen, so Uwe Ebbinghaus, „wie groß die Bereitschaft war, grundlegende Ansprüche herunterzuschrauben.“
Diese Bereitschaft bestand jedoch schon lange; sie galt sogar als höchst innovativ. Es konnte gar nicht genug auf Inhalte und Anforderungen verzichtet werden, wenn dies nur mit einer modernen Methodik geschah.
Daher gab es während der sogenannten „Corona-Krise“ nirgendwo Diskussionen um das Was, sondern ausschließlich um das Wie. Es ging immer um die Medien, aber nie um die Inhalte.
Man hätte beispielsweise Leseaufträge vergeben, Herbarien anlegen, Wetterprotokolle führen, in stummen Karten zeichnen, Bilder malen, Corona-Tagebücher führen, sogar selbständig an Lehrbuchaufgabenstellungen üben können, ganz außerhalb des Internets, nämlich in der beinahe schon unbekannten analogen Welt, die nach wie vor die spannendsten Abenteuer bereithält.
“Wie erlebe ich die Corona-Krise und wie positioniere ich mich dazu?” Wäre dies nicht eine anspruchsvolle Thematik für eine problembezogenen Erörterung in der Abiturstufe? Und textbezogenen oder textanalytisch wäre sie unter Nutzung einer der vielen streitbaren Beiträge in der Presse gleichfalls mit Gewinn zu schreiben gewesen. Als freier Essay sowieso. Das Internet hätte es dazu nicht gebraucht, Block und Federhalter genügten. Die Lehrer hätten solche Arbeiten wohlwollend gründlich korrigieren und ihre Benotung mit eigenem Worturteil begründen können. Für Muße und freie Gedanken war genügend Zeit.
Aber nein, man rang stattdessen um die Gewährleistung von Online-Konferenzen, Clouds, Übertragungsraten. Erwies sich die Netzverbindungen als instabil, lief eben nichts. Ein milliardenschwerer „Digitalpakt“ mußte her, mehr Breitband, also – ganz sozialdemokratisch – „mehr Mittel“, „Lehrer-Laptops“, Laptops für Bedürftige sowieso, Online-Weiterbildungen, dicke „Schulclouds“, „Open Campus“, unter anderem zu gewährleisten über das Hasso-Plattner-Institut.
Wie bloß wäre man „Pandemien“ vorm Bestehen der Verflochtenheit des World-Wide-Web begegnet? Nun, vermutlich hätte es sie dann so gar nicht gegeben.
Technik und Medien sind alles, Inhalte hingegen, kluge, gar spannende Aufgabenstellungen, herausfordernde Aufträge, allesamt analog möglich und digital nur bei dringlichem Bedarf technisch zu unterstützen, waren nirgendwo in der Kultuspolitik oder „Bildungsforschung“ Thema.
Beinahe scheint es, als grassiere jetzt mitten in den Ferien eine Angst, die Schule könnte im Spätsommer tatsächlich ganz einfach so öffnen – als Institution, rein physisch, nicht als hohler virtueller Raum.
Generell mag gelten: Der Ausnahmezustand stellte sich für viele, vermutlich allzu viele als ganz bequeme Sache heraus; man verlebte Corona-Ferien und genoß „pandemiebedingt“ sozialistische Zuwendungen. Neuerdings werden, inspiriert von der Karlsruher Ökonomin Nora Szech, sogar Impfprämien in der Höhe von 500 Euro erwogen.
Und jetzt: Plötzlich tatsächlich wieder Schule? Der Streß? Trotz Delta? An den Gedanken wollen sich Lehrer- und Schülerverbänden kaum gewöhnen, die Gewerkschaft GEW sowieso nicht. Überall Risiken! Abgesehen von sozialer Vereinsamung und daraus erwachsenden psychischen und psychosomatischen Problemen, fuhren alle gut damit, daß die Ansprüche mit Verweis auf „Corona“ herunter‑, die Benotungen aber kulant heraufgeschraubt wurden.
In Bayern jedenfalls fiel der Abiturdurchschnitt nach Zwischenrechnung des Kultusministeriums weit besser aus als in den Vorjahren. Und da Qualifizierungen längst durch Quantifizierungen ersetzt sind, werden die Kultusbürokraten daraus den Schluß ziehen: Es läuft nicht nur im digitalen Unterricht, nein, es läuft sogar viel besser damit. Meßbar! Mehr davon!
Zwar waren Schulen nirgendwo Pandemietreiber und hatten, wenn sie mal öffneten, im Winter und Frühling sowieso eher mit dem Exerzieren von Tests und dem Erstellen von Belehrungslisten als mit Unterricht zu tun, aber dennoch sieht man weiterhin vor allem technische Schwierigkeiten und das Heil also in neuen Finessen: Jetzt müssen unbedingt Luftfilter her!
Ohne die geht offenbar nichts. CO2-Ampeln, letztes Jahr noch der Hit, reichen nicht mehr. Nur mit Luftfiltern scheint Rettung in Sicht, zumal die verordneten Fensteröffnungen im Winterhalbjahr die Zöglinge allzu sehr frösteln ließen. Googelt man „Luftfilter für Schulen“, erkennt man an den ersten gelisteten Anzeigen, daß die Industrie dafür schon bereitsteht und einen Wachstumsmarkt wittert. Das Bundesprogramm für raumlufttechnische Anlage umfaßt zunächst fünfhundert Millionen Euro. Luftfilter! Wir tun was!
Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident Wilfried Kretschmann, selbst ja Lehrer, gilt vielen als unverantwortlich, wenn er, ganz gesunder Menschenverstand, davor warnt, zu glauben, von Filteranlagen hinge die Entscheidung ab, ob die Schulen nach den Sommerferien wieder schließen müssen, weil ja die Delta-Variante drohe, jenes Schreckgespenst, mit dem all die Besorgten argumentieren, die nur allzu gern behaglich im „Home-Office“ und im „Distanz-Unterricht“ ausharrten.
In Mecklenburg-Vorpommern sind mit immensem finanziellen Aufwand und beständiger Bedrohungsinszenierung durch die Landesregierung 2,6 Millionen Antigen-Schnelltests durchgeführt worden. Davon endeten lediglich 0,12 Prozent positiv. Der Aufwand, erkennt man, war also überhaupt nicht gerechtfertigt, abgesehen davon, daß diese Zahlen zeigen: Eine entzündliche Gefahr, gegen die beständig alarmiert wurde, bestand offenbar nie.
Inhaltlich wie stets minimalistisch, will man den „Herausforderungen der Pandemie“ aber technisch maximalistisch begegnen. Darin liegt der gern geglaubte Trugschluß:
Haben wir nur genügend Platz in der Cloud, dann wächst das Wissen von selbst dort hinein; surren erst die Luftfilter, dann hat „Delta“ keine Chance, zumal der Maskenzwang ja verordnet bleiben kann. Was so absurd erscheint, setzt nur eine Tendenz fort, die ohnehin seit etwa drei Jahrzehnten bestand: Inhalte und Anforderungen abrüsten, Methoden, Medien und Technik aufrüsten.
Und dann neue Studien in Auftrag geben, um herauszufinden, weshalb die Zahl der Analphabeten hierzulande signifikant wächst.
Franz Bettinger
@Lesen
Bei Hannah Arendt durchzieht der Gesunde Menschenverstand als roter Faden ihr ganzes Werk. Modernen verdorbenen Gemütern mag das anstößig erscheinen. Einst als Synonym für Erkenntnisfähigkeit gewertet, widerfuhr aber auch diesem schönen Begriff eine teuflische Drehung ins Negative. Die Links-Grünen diffamierten den Gesunden Menschenverstand als Nazi-Vokabular. Wieso wohl? fragt Eva Rex in ihrem Büchlein 'Rettet den gesunden Menschenverstand' aus der Exil-Reihe des Buchhauses Loschwitz. Wie kommt's, dass prima treffende Begriffe verschwinden und verrückte Ideen (wie Gender, Pandemien bei ganz und gar Gesunden, Klimawandel...) massenhaft für plausibel gehalten werden? Voraussetzung ist die Isolation des Individuums, die Atomisierung der Gesellschaft. Deep state wollte ein bindungsloses gesellschaftliches Vakuum herstellen und hat diesen Zustand heute so gut wie erreicht. Sogar die Rechten werden ! in sich zersplittert. Ein ungeheuerlicher Mangel an Urteilskraft ist die Folge. Ich habe selten ein dichteres Buch gelesen als dieses kleine von Eva Rex. Vielleicht nimmt sich SiN mal dieses Themas an. Es trifft den Kern der Sache, unter der die ganze Welt heute leidet.