Man hat den 1904 in Leipzig geborenen und 1976 in Hamburg gestorbenen Arnold Gehlen mit unterschiedlichen Etiketten einzusortieren versucht. Er sei ein »Anti-Rousseau«, ein »Denkmeister der Konservativen«, der »Vordenker eines neuen Realismus« – so lauten einige Einschätzungen, an die es anzuknüpfen gilt. Denn Gehlen, der sich selbst als einen »Kommentator des Ruins« betrachtete, gehört zu den immer noch unabgegoltenen Denkern, zu jenen, deren Denkresultate und Denkhaltungen immer wieder neu gesichtet und aktualisiert werden sollten.
Gehlen kam von der Philosophie her: zunächst von der Lebensphilosophie, dann aus den Gefilden des deutschen Idealismus. Früh geprägt durch die Auseinandersetzung mit Nietzsche und Scheler, Fichte und Schopenhauer, bewegte er sich rasch in die Richtung einer Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft, wie sie in der zeitgenössischen Soziologie etwa bei Hans Freyer konkret wurde. Während aber Freyer vor allem geschichtlich dachte, war Gehlens Ansatz anthropologisch. Es kam dadurch zu einer bemerkenswerten Verschiebung, die zugleich den Abschied von der Praxis der klassischen deutschen Philosophie bedeutete, wenn auch unter Bewahrung einiger ihrer Intentionen und Denkmotive.
Gehlen habe sich von der unergiebigen abstrakten Philosophie abgewandt, um Philosoph zu bleiben – so Ernst Forsthoff und Reinhard Hörstel – und dies geschah bezeichnenderweise durch die Rezeption des amerikanischen Pragmatismus in seinem Hauptwerk Der Mensch von 1940, das den Menschen als Handlungswesen begriff: »Da der Pragmatismus die bisher einzige erschienene Philosophie ist, welche grundsätzlich den Menschen als handelndes Wesen sieht, so ist seine Auffassung zunächst einmal jeder anderen vorzuziehen.«
Dieser Einstellung entspricht es, wenn Gehlen 1952 an den Kommunisten Wolfgang Harich, der ihm damals allen Ernstes ein Ordinariat an der Berliner Humboldt-Universität anzubieten versuchte, schreibt, er wisse nicht sehr viel Metaphysisches, er habe keine Theorie und sei in dieser Hinsicht völlig unbefangen. Dieses Pathos der unbefangenen Sachlichkeit liegt seinem Versuch zugrunde, eine »empirische Philosophie« zu konstituieren, die allerdings, wie Gehlen nur zu gut wußte, »in Deutschland stets abgelehnt worden« war. Auch wenn diese Zurückführung von Philosophie auf Empirie durch Ausklammerung alles Metaphysischen ein höchst problematisches Konstrukt darstellt, ist damit auch Substantielles verbunden: Das Pathos des Realitätssinnes, das sich gegen den Erfahrungsverlust in der modernen Industriegesellschaft richtet, zwingt dazu, sich keiner Erkenntnis zu verschließen, die es über den Menschen gibt. Genau das aber macht eine Philosophische Anthropologie aus, die sich mit den Konstitutionsbedingungen gesellschaftlicher Ordnung, ausgestaltet und stabilisiert durch Institutionen, befaßt.
Alle Anthropologien stellen Definitionsversuche zu einer »Beschreibung des Menschen« (Hans Blumenberg) dar, die sich aufgrund ihrer unterschiedlichen Akzentsetzungen oft zu widersprechen scheinen. Doch ist dies keineswegs gewiß, und Gehlens zunächst einmal schematische Antwort wird in jedem Falle zu bedenken sein. Er bestimmt den Menschen deswegen als handelndes Wesen, weil er mit Nietzsche gesprochen das »nicht festgestellte Tier« ist, also gerade nicht a priori in allen Eigenschaften bestimmbar. In diesem Punkt trifft sich Gehlen ein Stück weit mit der Anthropologie-Skepsis bei Karl Jaspers, die sich aus der grundsätzlichen Nicht-Feststellbarkeit des Menschen speiste. Aber aus diesem Umstand folgte nun für Gehlen gerade die Bestimmung des Menschen als Wesen der Zucht – nicht im Sinne einer biologischen Züchtung, sondern als Wesen, das sich selbst »noch Aufgabe ist« und zu sich selbst Stellung bezieht. Die Erziehung des Menschen muß daher ergänzt werden durch die »Selbstzucht«, verstanden als »In-Form-Kommen und In-Form-Bleiben«. Weil aber dieses In-Form-kommen und In-Form-Bleiben mißlingen kann, ist der Mensch – das ist die Kehrseite der Medaille – auch das »gefährdete oder ›riskierte‹ Wesen«. Von dieser elementaren Einsicht zehrt noch die Kulturkritik von Ethologen wie Konrad Lorenz oder Irenäus Eibl-Eibesfeldt, denen man heute ebenso ungern Gehör schenkt wie Gehlen.
Alles, was man vom Menschen weiß, macht gegenüber marxistischen Utopien skeptisch, auch wenn man mit Gehlen »oft dem Phantastischen und Utopischen eine moralische Würde nicht absprechen kann«. Die anthropologische Einsicht Gehlens läßt ihn zurückschrecken sowohl davor, vom einzelnen Menschen zu groß, als auch zu klein zu denken. Gerade das »Ernstnehmen menschlicher hoher Möglichkeiten« könne nämlich höchst destruktiv wirken: »Wer das Gefühl der Freiheit und der großen Bestimmung des Menschen enthusiastisch realisieren, wer diese ungeheure Entlastung dahinströmend darlegen will, wer in diesem Gedanken sein Herz höher schlagen fühlt, der ist nach einem rätselhaften Verhängnis der Schrittmacher der Guillotine.« Gehlens Urteil ist hier von beklemmender Schärfe, denn er sieht in jener Form des Idealismus das Bild der Blauen Blume der Romantik, die in dieser Spielart geradezu in die »Teufelsbotanik« gehöre, da ihr Standort »in der Nähe von Richtstätten und Gaskammern« liege.
Die Vorstellung einer unkontrollierten »Produktivität« von Menschen, die sich als nicht entfremdet verstehen, beunruhigte ihn zutiefst. Denn wenn auch Institutionen wie Ehe, Eigentum, Kirche und Staat die Menschen von ihrer »eigenen unmittelbaren Subjektivität«, wie immer diese sich darstellen würde, entfremdeten, schützten diese Institutionen die Menschen auch vor sich selbst. Und Gehlen fügt in charakteristischer Weise hinzu: »für einen hohen und vergleichslosen seelischen Einsatz doch Platz lassend, ohne ihn zu fordern.«
Gehlens Philosophische Anthropologie stellte in ihrer Anwendung als Lageanalyse den prononciertesten Versuch dar, im 20. Jahrhundert »Standorte im Zeitstrom« – so der Titel der Gehlen-Festschrift von 1974– zu markieren. Insofern ist sein Denkansatz immer mehr als nur ein wissenschaftlich neutraler, denn Soziologie in Gehlens Sinne ist nicht nur anthropologisch geerdet, sondern fühlt sich herausgefordert, Zeitdiagnose zu bieten. Auf solche Standorte – geistig und institutionell – kommt es heute vielleicht mehr denn je oder doch mindestens so sehr an wie eh und je. Ein Staat, der wie in Deutschland seine Legitimitätsressourcen so leichtfertig und mit atemberaubender Geschwindigkeit verspielt wie spätestens und weithin erkennbar seit 2015, untergräbt sich selbst viel effizienter, als irgendwelche angeblichen »Verfassungsfeinde« es könnten, die er zur Stabilisierung seiner hypermoralisch umgedeuteten Staatsräson öffentlichkeitswirksam an den Pranger stellt. Auch in diesem Bereich hat sich die von Gehlen schon vor 50 Jahren konstatierte »Transformation ins Moralisieren als Erkenntnisersatz« vollzogen.
Gehlens Vermächtnis des kalten Blicks bedeutet auch, sich nicht in den Sog der Moralisierungen hineinziehen zu lassen. Dieser Blick entfaltet nicht zuletzt dann seine Kraft, wenn man mit und im Anschluß an Gehlen erkennt, wie sich die Verquickung anthropologischer Grundlagen mit modernen Medienapparaturen vollzieht. Die anthropologisch gegebene Weltoffenheit setzt sich unter diesen Bedingungen um in eine spezifische Form der Weltfremdheit, denn obwohl oder vielmehr weil mit Unterstützung der Medien ständig zahllose »Informationen« auf die Menschen einprasseln (gleichsam eine Massage durch TausendeHammerschläge am Tag), wähnt sich über die Welt informiert, wer zugleich einen akuten Erfahrungsverlust erleidet. Dieser Erfahrungsverlust verschärft sich noch dadurch, daß eine »wache Presse- und Rundfunkpolizei« daran arbeitet, »außer Kurs oder wenigstens unter Druck« zu setzen, was nicht in das erwünschte Einheitsdenken der Zusammenhaltsideologie unter dem Vorzeichen einer humanitaristisch überdehnten Moralisierung fällt. Kein Wunder, daß auch hier wie damals gilt, was Gehlen klar erkannte: »Da scharfe Profilierungen, vor allem geistige, eo ipso Distanz schaffen, und da man das nicht will, so wird das Aussprechbare randunscharf und man muß sich in vagen Ideen aufhalten (…)«.
Die Paradoxie unserer Zeit besteht darin, daß die Moralhypertrophie, die sich nach Gehlen eigentlich »gegenüber den noch funktionierenden Autoritäten kritisch verhält«, inzwischen von den Autoritäten des linksideologisch-humanitaristisch unterwanderten Staates selbst übernommen wurde: Die Hypermoral der »Weltoffenheit« und eines Humanitarismus ohne Obergrenze ist das zivilreligiöse Dogma, mittels dessen die Artikulation legitimer eigener Interessen des Staatsvolkes denkunmöglich gemacht und damit unterbunden werden soll. Die damit verbundene hypermoralisch bewehrte Diskursverschattung ist elementar für den Erhalt bzw. die Schaffung einer Ideologie des »Zusammenhalts«, die sich noch zur Zerstörung einer nationalen Identität auf deren Ressourcen stützt. Denn entgegen einem früher zwar nicht selbstverständlichen, aber doch weithin akzeptierten Prinzip der politischen Bildung, das in der Gesellschaft Kontroverse müsse auch kontrovers diskutiert werden, ist heute jegliche Kontroverse an sich unerwünscht und wird im Zweifelsfall als Diskussionsorgie stigmatisiert, unter willfähriger Beteiligung solcher Institutionen, die Gehlen und Schelsky noch für die Träger einer institutionalisierten Herrschaftskritik in Form einer »Gegen-Aristokratie«hielten. Der von den Massenmedien sich selbst erteilte »Auftrag zur Kritik« richtet sich heute nicht mehr gegen die Autoritäten selbst, sondern gegen jene, die von diesen Autoritäten eine echte Staatsgesinnung einfordern.
Gehlens Diktum: »Wer von uns verlangt, uns vom eigenen Zustand zu trennen, will uns den seinigen aufhalsen«, bleibt als grundlegende Mahnung gültig und bekommt unter Bedingungen einer gewollten Masseneinwanderung mit ihren unumkehrbaren Effekten besondere Brisanz. Denn politische Bildung fungiert heute mit wenigen Ausnahmen als Einübung in die Distanzierung vom Eigenen. Kultur besteht aber darin, der Wirklichkeit Dauer abzuringen. Sie kann deshalb nicht in einer Dauerdistanzierung vom Eigenen bestehen und auch nicht in einem Zerarbeiten und Verdampfen aller außerrationalen Bindungen. Aufklärung in diesem Sinne einer »Emanzipation des Geistes von den Institutionen« hat damit einen eminent gefährlichen Effekt.
Im Sinne Gehlens ist diese Akzentsetzung gleichbedeutend mit der Zerstörung der Produktivität des Entlastungseffekts, den Institutionen wie Ehe, Familie, Arbeit, Recht, Wissenschaft und Staat bewirken. Denn dieser Entlastungseffekt hängt wesentlich mit einem »automatischen Schonverständigtsein« zusammen. Dieses Schonverständigtsein ist aber das Resultat davon, »daß junge Menschen in vernünftige Einrichtungen hineinwachsen, die von langen Erfolgen legitimiert sind«. Geschieht dies nicht, so Gehlen, würden »unersetzbare Erbschaften verschlissen: die Disziplin, die Geduld, die Selbstverständlichkeit und die Hemmungen, die man nie logisch begründen, nur zerstören und dann nur gewaltsam wieder aufrichten kann.« Vor diesem Hintergrund – man beachte Gehlens Apostrophierung vernünftiger Einrichtungen! – wird deutlich, wie grob fahrlässig die Vorstellung ist, man könne und solle die Grundlagen unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens täglich neu und natürlich im multikulturellen Sinne aushandeln. Denn ein solches Aushandeln ist bereits identisch mit dem Verschleiß der Legitimitätsressourcen. Die aber darf ein Staat nicht verspielen, der seine zentralen Funktionen glaubwürdig ausfüllen soll, etwa in Fragen der Sicherheit, die deshalb so wichtig ist, weil sie ein vorpolitisches Bedürfnis darstellt. Gehlen räumte diesem Gesichtspunkt der Sicherheit daher aus anthropologischen Gründen eine wichtige Rolle ein, was er von Aristoteles gelernt haben will, aber sicher auch ein Resultat der intensiven Auseinandersetzung mit Hobbes war.
Es gehört zu den nachhaltig bedeutsamen Resultaten der Philosophischen Anthropologie Gehlens, daß er Institutionen für die »tragenden Gebilde der menschlichen Kultur« hält, die eben deshalb auch Subjektivismen (nicht: Subjektivität) eindämmen helfen. Denn es gehört zu dem in Institutionen verkörperten Ethos, daß die Zufälligkeit des Affekts abgetrennt wird, der sich die Menschen sonst unentfremdet hingeben würden, wenn sie sich nicht mehr selbst in die Zucht nehmen. Institutionen sind für Gehlen Bändigungen der stets gegebenen Verfallsbereitschaft des Menschen – und Politik hätte dies in Rechnung zu stellen.
In einem Sammelband der Walter-Raymond-Stiftung zum 65. Geburtstag Gehlens mit dem Titel Führung in einer freiheitlichen Gesellschaft bestimmte Herbert Wehner Politik als »das ›In-Ordnung-bringen‹ und ›In-Ordnung-halten‹ der Angelegenheiten, auf deren Ordnung alle angewiesen sind.« Und er fügte hinzu: »Das dafür Notwendige möglich zu machen suchen und um die Prioritäten zu ringen und auch zu kämpfen, das gehört zur Politik.«
Wenn heute an Arnold Gehlen erinnert wird, geschieht dies nicht zuletzt deshalb, weil die Angelegenheiten, auf deren Ordnung alle angewiesen sind, nicht mehr in adäquater Form in Ordnung gehalten werden. Man kann und muß dies nüchtern ohne »die heute so penetranten Appelle, Schwungradvorstellungen, Pädagogismen und Utopien« – so Gehlen schon 1963 – konstatieren. Für die Konservativen ist diese Lage aber ein Dilemma, weil der von ihnen an sich bejahte Staat sie selbst in eine Entfremdung treibt, die sie nicht wollen. Dennoch wird sich nur durch Stärkung der »Gegenhalte« im Staat selbst bei gleichzeitiger Austrocknung einer staatlich geförderten »Zivilgesellschaft« verhindern lassen, daß sich »die volle Aggressivität der guten Sache« auf Dauer stellt.
Gehlens Kritiker haben zwar seinem letzten Buch Moral und Hypermoral vorgeworfen, es sei ein »Machwerk aus dem Geist finsterer Ressentiments« (Harich). Aber damit verkennt man eklatant das außerordentliche Potential der »Spuren und Fährten« gerade in diesem Werk Gehlens, die es erlauben, »daß man sich in höchst unsicherem Gelände besser zurecht findet« (Karl Korn). Gehlen-Lektüre ist daher höchst »hilfreich«. Wir brauchen Gehlen-Leser, um die massenmedienhafte Bewußtseinsstruktur aufzubrechen, die das Fortbestehen des gegenwärtigen »Reiches der Verrücktheit« garantiert.