Blick nach links: Vereinzelt brauchbar

PDF der Druckfassung aus Sezession 96/ Juni 2020

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

Die erfolg­reichs­te meta­po­li­ti­sche Set­zung der jüngs­ten Zeit ist die lin­ke Umdeu­tung des Cha­rak­ters des bun­des­deut­schen Grund­ge­set­zes (GG).
Der frü­he anti­to­ta­li­tä­re Grund­kon­sens, der in der eta­blier­ten Poli­tik­wis­sen­schaft der letz­ten Jahr­zehn­te extre­mis­mus­theo­re­tisch gesetzt war, ist ver­bli­chen. Ver­kürzt dar­ge­stellt umfaß­te die­ser, daß die Ver­fas­sung durch eine »wehr­haf­te Demo­kra­tie« gegen all jene zu ver­tei­di­gen sei, die beab­sich­ti­gen, die ele­men­ta­ren Grund­rech­te und eher­nen Regeln des GG aggres­siv-kämp­fe­risch zu unterminieren.
Radi­ka­le Mei­nungs­äu­ße­run­gen von links bis rechts blie­ben inner­halb des Ver­fas­sungs­bo­gens ver­or­tet, extre­mis­ti­sche Auf­fas­sun­gen und gewalt­a­ffi­ne Ideo­lo­ge­me, die in die Pra­xis­hin­ein­wir­ken, nicht. Die­se Vor­stel­lung, pro­mi­nent ver­tre­ten durch Poli­tik­wis­sen­schaft­ler um den Chem­nit­zer For­scher Eck­hard Jes­se und sei­nen Dresd­ner Kol­le­gen Uwe Backes, wur­de gekippt.
Das lag an Unzu­läng­lich­kei­ten der eige­nen Extre­mis­mus­theo­rie eben­so wie an nach­hal­ti­gen Dekon­struk­ti­ons­ar­bei­ten lin­ker Pres­su­re groups bei fort­wäh­ren­der Wühl­ar­beit durch polit­me­dia­le Akteure.
Besag­ten Inter­es­sen­grup­pen von Anti­fa-Netz­wer­ken über die Links­par­tei und die ihr nahe­ste­hen­de Rosa-Luxem­burg-Stif­tung bis ins sozi­al­de­mo­kra­ti­sche und libe­ra­le Feld hin­ein gelang es, die Bestän­de der Extre­mis­mus­theo­rie abzu­tra­gen und an ihrer Stel­le neue Schich­ten auf­zu­tra­gen: Anti­fa­schis­mus, nicht Anti­to­ta­li­ta­ris­mus, Kampf gegen Rechts, nicht Äqui­di­stanz gegen­über den Extre­men – so wird die »wehr­haf­te Demo­kra­tie« als Gesin­nungs­kom­plex neu ent­wor­fen, in der selbst für mode­rat patrio­ti­sche Abwei­chun­gen gesell­schaft­li­che Äch­tung aus­ge­schrie­ben ist.
Eini­ge der Archi­tek­ten die­ser erfolg­rei­chen Ent­stel­lung der frei­heit­li­chen demo­kra­ti­schen Grund­ord­nung stam­men aus dem Leip­zi­ger Anti­fa-Milieu (»Initia­ti­ve gegen jeden Extre­mis­mus­be­griff« um 2008 ff.), man­che aus Links­par­tei und Umfeld, ande­re aus bür­ger­li­chen Anti-Rechts-För­der­struk­tu­ren und ein­schlä­gi­gen Bildungseinrichtungen.
Ein Sam­mel­su­ri­um die­ser Kräf­te hat nun einen Sam­mel­band vor­ge­legt, der ihre Welt­sicht ver­ständ­li­cher macht. Extrem unbrauch­bar. Über Gleich­set­zun­gen von links und rechts (Ver­bre­cher Ver­lag: Ber­lin 2020) erscheint als Pro­jekt der Bil­dungs­stät­te Anne Frank just in einem Ver­lag, wel­cher der »anti­deut­schen« Sze­ne­rie nahesteht.
Man will auf­zei­gen, daß »rech­te Ideo­lo­gie« auto­ma­tisch »auf ihre logi­sche Kon­se­quenz hin­aus­läuft« – und die­se sei mör­de­risch. Wer irra­tio­na­le, mit abso­lu­tem Wahr­heits­an­spruch daher­kom­men­de Denk­scha­blo­nen ratio­nal ver­ste­hen will, soll­te die­sen Band als Selbst­of­fen­ba­rung der ver­sam­mel­ten Autoren­schaft lesen.
Milieu­in­ter­ne Refle­xio­nen über lin­ke Gewalt­pra­xis und anti­fa­schis­ti­sche Rase­rei fin­den sich in kei­ner Zei­le, und die ideo­lo­gisch ver­bräm­te Selbst­zu­frie­den­heit erstaunt zumin­dest dann, wenn man in Zusam­men­hän­gen aktiv ist, in denen zur Kri­tik auch Selbst­kri­tik zählt. Dabei ist es nicht so, daß eine skep­ti­sche Ana­ly­se der (bis vor kur­zem) gän­gi­gen Extre­mis­mus­theo­rie nicht not­wen­dig wäre. Ingolf Sei­del führt in die­sem Band immer­hin eini­ge beden­kens­wer­te Kri­tik­punk­te am »Kampf­be­griff Extre­mis­mus« ein, die auch von rechts for­mu­liert wer­den (bei­spiels­wei­se von Josef Schüßlb­ur­ner für das Insti­tut für Staats­po­li­tik), da »Extre­mis­mus« ein nor­ma­ti­ves Kon­zept des hege­mo­nia­len Betrie­bes und kein juris­tisch ein­wand­frei­er Ter­mi­nus ist. Sei­dels Text steht indes allei­ne. Ansons­ten domi­nie­ren binä­re Denk­an­sät­ze wie jene der Her­aus­ge­ber um Eva Ber­end­sen, Katha­ri­na Rhein und Tom Uhl­ig, deren ide­al­ty­pi­sche Schei­dung in »radi­ka­le Lin­ke« (demo­kra­tie­im­ma­nent) und »völ­ki­sche Rech­te« (gefähr­lich) kei­nem Pra­xis­test stand­hal­ten könn­te. Genann­te Autoren, aber auch wei­te­re, dar­un­ter Kira Ayya­di von der Ama­deu Anto­nio Stif­tung (AAS), stre­ben nicht danach, ein man­gel­haf­tes Extre­mis­mus­ver­ständ­nis zu kor­ri­gie­ren; ihr – erfolgreiches–Vorhaben ist die Erset­zung des anti­to­ta­li­tä­ren Grund­kon­sen­ses durch ein anti­fa­schis­ti­sches Poli­tik­ver­ständ­nis der Mar­ke AAS. Daß von Jes­se et al. kein Wider­stand erfolgt, liegt – neben gene­ra­tio­nel­len Abfol­gen – an der Zahn­lo­sig­keit libe­ra­ler Ansät­ze gegen­über lin­ken Seil­schaf­ten. Trotz des frag­lo­sen Erfolgs­laufs wird dabei in Extrem unbrauch­bar frap­pie­rend viel gejam­mert. Die­se osten­ta­ti­ve Lar­moy­anz der ali­men­tier­ten Links­krei­se wird spä­tes­tens dann uner­träg­lich, wenn sie rau­nen, daß jeder Lin­ke »ver­däch­tig« sei. Sie dia­gnos­ti­zie­ren eine »Kon­takt- bzw. Anste­ckungs­hy­po­the­se«, wonach »jede Per­son, die mit links­extrem mar­kier­ten Per­so­nen in Berüh­rung kommt, einer Sze­ne zuge­rech­net wird und fort­an [der Gesell­schaft] als ver­däch­tig gilt«. Die­se gesell­schaft­li­che Iso­la­ti­on bzw. Kon­takt­schuld, die rechts der Mit­te tat­säch­lich wir­kungs­voll besteht, aus­ge­rech­net links zu anno­tie­ren, wo Anti­fa-Akteu­re als ver­meint­li­che Exper­ten in staats­na­hen Medi­en reüs­sie­ren, wo Links­ak­ti­vis­ten finan­zi­ell poten­te »For­schungs­ein­rich­tun­gen« über­tra­gen erhal­ten, wo bür­ger­li­che Zei­tun­gen gan­ze Cli­quen links­ra­di­ka­ler Autoren beher­ber­gen usw., ist ein Indiz dafür, daß ideo­lo­gi­scher Wahn nicht immer greif­bar, sehr wohl aber zwi­schen zwei Buch­de­ckel zu brin­gen ist.
Aus dem­sel­ben Ver­lag, indes mit ande­rer Qua­li­tät, stammt eine Streit­schrift des Links­po­li­ti­kers Jan Kor­te (MdB). Die Ver­ant­wor­tung der Lin­ken (Ber­lin 2020) liest sich kurz­wei­lig. Bei aller welt­an­schau­li­chen Dif­fe­renz nimmt man Kor­te ab, daß er auf­rich­tig an den The­men, die er – teils selbst­kri­tisch – beackert, lei­det. Er legt den Fin­ger in eini­ge inner­lin­ke Wun­den, beleuch­tet Wider­sprü­che zwi­schen sozia­len Fra­gen der »alten« Lin­ken und Iden­ti­täts­po­li­ti­ken ihrer post­mo­der­nen Nach­kom­men, for­mu­liert kon­kre­te Vor­schlä­ge zu einer »popu­la­ren« Renais­sance der Lin­ken als Küm­me­rer­par­tei, und rät zur Stand­fes­tig­keit anstel­le einer (frei­lich bereits gelau­fe­nen) Koop­tie­rung durch den Main­stream: Wer grund­sätz­li­che Ände­run­gen will, müs­se begrei­fen, »dass es kein Schul­ter­klop­fen der Rei­chen und der Bos­se mehr geben wird«. Kor­te hat recht, aber sei­ne Gesin­nungs­freun­de pro­fi­tie­ren nun mal recht ein­träg­lich von der Ein­bin­dung lin­ker Sze­nen bei­spiels­wei­se in die staat­li­chen und halb­staat­li­chen Ver­sor­gungs­struk­tu­ren bil­dungs­po­li­ti­scher Ein­rich­tun­gen. Wenn Kor­te zudem über neue Wege zu einer »soli­da­ri­schen Sicher­heit« der Gesell­schaft sin­niert, soll­te ihm bewußt wer­den, daß die­se Form der ein­ge­bet­te­ten Sicher­heit des Zusam­men­spiels sta­bi­ler Insti­tu­tio­nen und intak­ter Gemein­schaf­ten bedarf – also just jenes Duos, das sozia­le und inne­re Sicher­heit gewäh­ren kann, aber durch anti­fa­schis­ti­sche Kräf­te in Kol­la­bo­ra­ti­on mit dem polit­me­dia­len Kar­tell dekon­stru­iert wird. Gewiß: Das ist kei­ne klan­des­ti­ne Alli­anz ohne objek­ti­ve Gemein­sam­kei­ten. Das Stre­ben nach Tot­alem­an­zi­pa­ti­on des Indi­vi­du­ums in einer gemein­schafts­frei­en, offe­nen Gesell­schaft führt zu die­ser sta­bi­len Part­ner­schaft. Der ver­bin­den­de Kitt: links­li­be­ra­le Iden­ti­täts­po­li­tik. Es war daher mit Span­nung zu regis­trie­ren, daß in der Rei­he Basis­wis­sen des Papy­Ros­sa Verlags–gewissermaßen das lin­ke kapla­ken-Pen­dant –ein Autor wie Georg Auern­hei­mer das Gelän­de von Iden­ti­tät und Iden­ti­täts­po­li­tik (Köln 2020. 126 S., 9.90€) ver­mißt. Klas­sisch mar­xis­tisch begreift er »Iden­ti­tät als Sub­jekt­form« als Ant­wort auf die Zer­stö­rung der von Marx und Engels beschrie­be­nen »feu­da­len, patri­ar­cha­li­schen, idyl­li­schen Ver­hält­nis­se«– als Ant­wort also dar­auf, daß tra­di­tio­na­le Gemein­schaf­ten die Stel­lung des ein­zel­nen nicht mehr län­ger deter­mi­nier­ten. Iden­ti­tät sei somit »eine Erfin­dung der Moder­ne«, wie Zyg­munt Bau­man for­mu­lier­te, der die post­mo­der­ne Belie­big­keit und »Ver­mei­dung von Fest­le­gun­gen« aller Art monier­te. Auern­hei­mer, Alt­päd­ago­ge der Mar­bur­ger Schu­le, gelingt es, trotz inhä­ren­ter ideo­lo­gi­scher Ein­fär­bun­gen, einen kur­so­ri­schen Über­blick über Iden­ti­täts­dis­kur­se und die poli­ti­sche Bedeu­tung iden­ti­tä­rer Ver­or­tun­gen zu bie­ten. Daß er die ton­an­ge­ben­de iden­ti­täts­po­li­ti­sche Lin­ke nur mit gezo­ge­ner Hand­brem­se kri­ti­siert und in sei­nem Schluß­ka­pi­tel über »Iden­ti­tät in der Ideo­lo­gie in der Neu­en Rech­ten« stu­pen­de Wis­sens­lü­cken auf­weist, war erwart­bar: Auch klu­ge Lin­ke sind 2020 im Kampf gegen Rechts gefan­gen, wäh­rend Kämp­fe gegen tat­säch­li­che Unge­rech­tig­kei­ten und für die Bevöl­ke­rungs­mehr­heit der Geschich­te ange­hö­ren. Apro­pos His­to­ri­sie­rung: Éric Vuil­lard hat mit Der Krieg der Armen (Matthes & Seitz Ber­lin: Ber­lin 2020. 64 S., 16 €) einen his­to­ri­schen Moment sozia­ler Kämp­fe jen­seits der moder­nen poli­ti­schen Gesäß­geo­gra­phie von links bis rechts neu­auf­ge­grif­fen und so kon­zi­se wie dicht nach­er­zählt. Mit dem Refor­ma­tor und Bau­ernagi­ta­tor Tho­mas Münt­zer zieht man von Zwi­ckau ins Böh­mi­sche, durch die Bau­ern­krie­ge dem bit­te­ren Ende ent­ge­gen. Münt­zer – ein Mann, der alles besaß, was die volks­fer­ne Lin­ke von heu­te ver­mis­sen läßt: »Er emp­fin­det kei­ne Ver­ach­tung für den gemei­nen Mann, kei­ne Ver­ach­tung für das Gewöhn­li­che. Münt­zer ist Nar­zis­se und Dis­tel, Brenn­nes­sel und Pflan­zen­saft. Er zitiert Dani­el: ›Alle Macht dem Volk.‹« Ein ful­mi­nan­tes Büch­lein, elek­tri­sie­ren­der Lese­genuß, extrem brauchbar.
Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

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