Viel zu viel Abitur

PDF der Druckfassung aus Sezession 96/ Juni 2020

Heino Bosselmann

Heino Bosselmann studierte in Leipzig Deutsch, Geschichte und Philosophie für das Lehramt an Gymnasien.

Das Bil­dungs­de­sas­ter kennt jeder, der mit der deut­schen Schu­le zu tun hat. Das Dilem­ma liegt seit Jahr­zehn­ten offen zuta­ge. Es müß­te zu Furor füh­ren, nur wirft sich bis­her kei­ne kri­ti­sche Mehr­heit dage­gen auf, weil alle gut mit dem fau­len Sta­tus quo fah­ren – Bil­dungs­mi­nis­ter, Kul­tus­bü­ro­kra­ten, Leh­rer, Schul­buch­ver­la­ge, sogar die Schü­ler und deren Eltern. Dies aller­dings mit dem Ergeb­nis eines kaum mehr repa­ra­blen Scha­dens: Das deut­sche Bil­dungs­sys­tem stellt sei­nen Absol­ven­ten nomi­nell groß­zü­gi­ge, aber an sich unge­deck­te Schecks aus.
Mathi­as Brod­korb ist als eins­ti­ger und bis­her ein­zig cha­ris­ma­ti­scher Bil­dungs­mi­nis­ter Meck­len­burg-Vor­pom­merns ein Insi­der, den es ehrt, daß er am Sys­tem des ver­wal­te­ten Miß­stands litt, obwohl er eine Zeit­lang des­sen höchs­ter Ver­wal­ter war. Er hat nun gemein­sam mit Kat­ja Koch – Pro­fes­so­rin für Son­der­päd­ago­gi­sche Ent­wick­lungs­för­de­rung an der Uni­ver­si­tät Ros­tock – eine Streit­schrift gegen den »Aka­de­mi­sie­rungs­wahn« ver­faßt. Bei­de fokus­sie­ren ihren Blick in die Bil­dungs­land­schaft auf das Abitur, das an zwei grund­le­gen­den Pro­ble­men krankt: Zum einen lei­det es an Niveau­ver­lust, weil aus poli­tisch moti­vier­ten Grün­den – Stich­wort »Bil­dungs­ge­rech­tig­keit« – immer mehr Schü­ler das Rei­fe­zeug­nis erhal­ten sol­len. Das führt zur Ent­wer­tung der nicht­gym­na­sia­len Schul­ab­schlüs­se, mit­hin dazu, daß dem Hand­werk und der Indus­trie gute Lehr­lin­ge und der Gesell­schaft über­haupt die tech­ni­schen und dienst­leis­ten­den Fach­leu­te fehlen.
Um das Mas­sen­ab­itur für etwa die Hälf­te aller Schü­ler zu ermög­li­chen, wur­den über Refor­men und Reförm­chen die Anfor­de­run­gen ste­tig gesenkt, die Leis­tun­gen daher schwä­cher, die Noten jedoch immer bes­ser, so daß die Län­der mit der höchs­ten Abitu­ri­en­ten­quo­te zu jenen mit den schlech­tes­ten Schü­ler­leis­tun­gen gehö­ren. An eine Kor­rek­tur die­ses Eti­ket­ten­schwin­dels ist nicht zu den­ken, weil die not­wen­di­ge Rekon­struk­ti­on eines Abiturs, das wirk­lich als Rei­fe­prü­fung gel­ten kann, viel zu schmerz­lich erschie­ne. Nach­dem Jahr­gän­ge durch­ge­wun­ken wur­den, indem man ihnen ein Abi-Light aus­druck­te, wür­den alle Ver­än­de­run­gen in Rich­tung höhe­rer Ansprü­che als Ope­ra­ti­on ohne Nar­ko­se erlebt. Selbst­ver­ständ­lich streßt das »Abi« die Her­an­wach­sen­den, dies aber weni­ger aus Qua­li­fi­zie­rungs­druck, son­dern weil all die Quan­ti­fi­zie­run­gen belas­ten, von der Wahl und Abwahl der Fächer bis zur zah­len­mys­ti­schen Abrech­nung der Kur­se und Noten. Das aber lohnt sich: »Deutsch­land bas­telt sich den Super-Abidurch­schnitt. (…) Ob sie nun aus tak­ti­schen Grün­den bes­ser ›nur‹ Bio­lo­gie wäh­len, nicht aber Phy­sik, weil sie in ihrem Land nur eines von bei­den ›bele­gen‹ müs­sen, oder ob sie die mise­ra­blen zwei Punk­te des Erd­kun­de­kur­ses bes­ser gar nicht ›ins Abi ein­brin­gen‹ – mit sol­chen Über­le­gun­gen zer­bre­chen sich unse­re Abitu­ri­en­ten die Köp­fe, und zwar des­to mehr, je mehr Frei­hei­ten ihnen die Rege­lun­gen dafür las­sen.« Aber für 99 Cent kann sich jeder eine App her­un­ter­la­den, die einem die opti­ma­le Kom­bi­na­ti­on zeigt.
Zum ande­ren baut sich ein skan­da­lö­ses Gerech­tig­keits­pro­blem auf, inso­fern die Abschlüs­se zwi­schen den Bun­des­län­dern über­haupt nicht ver­gleich­bar sind. Die Autoren rufen dafür Gün­ter Ger­mann aus Hal­le auf, einen Mathe­ma­tik­leh­rer, der einen rea­lis­ti­schen Bei­spiel­fall kon­stru­ier­te und über die mög­li­chen Fächer­be­le­gun­gen und Noten­ver­tei­lun­gen zu dem Ergeb­nis fand, »daß der von ihm erson­ne­ne Mus­ter­schü­ler sein Abitur in Ham­burg und Ber­lin mit einer Abitur­no­te von 2,2 bestan­den hät­te, in Sach­sen mit einem Noten­durch­schnitt von 2,7 und in Bay­ern oder Sach­sen-Anhalt mit haar­ge­nau den­sel­ben Noten nicht ein­mal zur Prü­fung zuge­las­sen wor­den wäre.« So unter­schied­li­che Ergeb­nis­se ver­ur­sacht die von Land zu Land ver­schie­de­ne Hand­ha­bung der Berech­nung – mit frus­trie­ren­den Fol­gen für die oft aus­schließ­lich vom Noten­schnitt abhän­gen­de Stu­di­en­zu­las­sung. Weni­ger als ein Drit­tel der Zen­su­ren unter­lie­gen bun­des­weit ein­heit­li­chen Beno­tungs­re­geln. Schlech­te Noten wer­den weit­ge­hend neu­tra­li­siert: »Wenn Sie Ihre Fächer geschickt gewählt haben und die Noten rich­tig kom­bi­nie­ren, kön­nen Sie in den ›basa­len Fächern‹ Mathe­ma­tik und Deutsch in den letz­ten vier Schul­jah­ren lau­ter Fün­fen und in der Abitur­prü­fung sogar glat­te Sech­sen schrei­ben und bestehen trotz­dem das Abitur.«
Den von der Kul­tus­mi­nis­ter­kon­fe­renz selbst fest­ge­leg­ten sehr mode­ra­ten Regel-Stan­dard, der von einer Mehr­heit erfüllt wer­den müß­te, errei­chen in Mathe­ma­tik nur 25 Pro­zent, in den Natur­wis­sen­schaf­ten 20 Pro­zent und in Eng­lisch 20 bis 30 Pro­zent. Da das Fach Deutsch in sich immer belie­bi­ger bzw. degra­diert wur­de und zum Abitur auch kei­ne Feh­ler­quo­ten mehr kennt, fällt es nicht wei­ter posi­tiv oder nega­tiv ins Gewicht; es ver­lor ein­fach sei­ne Bedeu­tung. Inhal­te, geschwei­ge denn ein Kanon gel­ten als anti­quiert, es zäh­len neu­er­dings nur »Kom­pe­tenz­be­schrei­bun­gen«: »In einer Wis­sen­schaft­ler­grup­pe für das Fach Deutsch wur­den nicht etwa Wer­ke aus­ge­wähl­ter Autoren mit dar­auf je bezo­ge­nen Ziel­vor­ga­ben benannt, son­dern ledig­lich die abs­trak­ten Lern­be­rei­che ›Spre­chen‹, ›Schrei­ben‹, ›Umgang mit Tex­ten und ande­ren Medi­en‹ sowie ›Refle­xi­on über Spra­che‹. Das war’s. Nein, das ist kein Scherz. Das steht da so. Mehr nicht.«
Die Bil­dungs­mi­nis­te­ri­en und eine aus­ufern­de Kul­tus­bü­ro­kra­tie ver­wal­ten die­sen kata­stro­pha­len Zustand mit euphe­mis­ti­schem Polit­sprech. So wird etwa mit Hin­weis auf das »Zen­tral­ab­itur« der Ein­druck erweckt, es han­de­le sich dabei um anspruchs­vol­le Prü­fun­gen, aber statt eines Kanons erfand man sich ein »Kern­cur­ri­cu­lum«, das die Fest­le­gung kon­kre­ter Inhal­te gera­de ver­mei­den soll. Fer­ner erfolgt die Bil­dungs­re­gie nicht mehr im Sin­ne einer »Input-Steue­rung« durch Lehr­plä­ne, son­dern soll als »Out­put-Steue­rung« nur­mehr auf die Lern­ergeb­nis­se aus­ge­rich­tet sein. Die­sen »Out­put« beur­tei­len die von der KMK her­bei­ge­zo­ge­nen Wis­sen­schaft­ler anhand von »Bil­dungs­stan­dards«, die angeb­lich der Siche­rung inhalts­über­grei­fen­der »Kom­pe­ten­zen« die­nen. Wie­der­um ist das beson­ders deut­lich in den »Bil­dungs­stan­dards« des Faches Deutsch zu erken­nen: »Statt einer Eini­gung auf bestimm­te Wer­ke oder Werk­aus­zü­ge (…) wird rein for­mal das Ziel aus­ge­ge­ben, sich mit lite­ra­ri­schen Tex­ten aus­ein­an­der­set­zen zu kön­nen. Das Dum­me ist nur, daß es mit dem Kön­nen nicht immer so leicht ist. Denn ohne ver­füg­ba­res Wis­sen ent­steht auch kein prak­ti­sches Können.«
Für die kom­pe­tenz­ori­en­tier­te Bil­dungs­for­schung wur­de eigens das »Insti­tut zur Qua­li­täts­ent­wick­lung im Bil­dungs­we­sen« geschaf­fen. Gemes­sen dar­an, was es brin­gen kann und über­haupt brin­gen darf, ein Mil­lio­nen­grab für Steu­er­gel­der. Das Insti­tut befaßt sich unter ande­rem auf­wen­dig mit einem bun­des­wei­ten Auf­ga­ben­pool für Abitur­prü­fun­gen, das von den Län­dern aller­dings nur mit gerin­gem Zugriff und dabei stark modi­fi­ziert genutzt wird, um wei­ter­hin bei der »Mogel­pa­ckung Zen­tral­ab­itur« nie­man­den zu über­for­dern und mög­lichst alle durch die Prü­fun­gen zu win­ken. »Ein Abitur­be­trug, erson­nen, um der Bevöl­ke­rung Akti­vi­tä­ten vor­zu­täu­schen, die deren bil­dungs­po­li­ti­schen Erwar­tun­gen ent­spre­chen. Aller­dings geschieht das nur zu einem Zweck: um die hei­li­ge Kuh des Bil­dungs­fö­de­ra­lis­mus gegen den Wil­len der Bevöl­ke­rung vor ihrer Schlach­tung zu bewahren.«
Der Skan­dal besteht gera­de dar­in, daß die soge­nann­te offe­ne Gesell­schaft, die Demo­kra­tie in Gegen­wart und Zukunft nicht zu regu­lie­ren ver­mag, was im Sin­ne einer ganz prin­zi­pi­el­len Ver­än­de­rung dring­lichst regu­liert wer­den müß­te, damit Deutsch­land nicht voll­ends ver­liert, was es einst gera­de­zu als Kul­tur­na­ti­on kenn­zeich­ne­te – umfas­sen­de Bil­dung näm­lich, die durch Leis­tung, Fleiß und gründ­li­ches Üben errun­gen wird. Als Grund für den Sys­tem­scha­den machen die Autoren völ­lig rich­tig das Sys­tem selbst aus – in Gestalt des »als eine Art Lebens­ver­si­che­rung der Demo­kra­tie insze­nier­ten« Bil­dungs­fö­de­ra­lis­mus, der angeb­lich, als Leh­re aus den Ver­bre­chen des Natio­nal­so­zia­lis­mus, einer zen­tral­staat­li­chen Dik­ta­tur vor­beu­ge, zudem Viel­falt und sogar Wett­be­werb garan­tie­re. Die Autoren wei­sen nach, wie absurd die­se Argu­men­te sind, und zei­gen, wel­che Steu­er­geld­ver­schwen­dung und vor allem wel­chen Ver­lust kul­tu­rel­ler Bestän­de die­ser hoch­ge­hal­te­ne Föde­ra­lis­mus verursacht.

Was ist zu ändern? Zunächst: Zwan­zig Pro­zent Abitu­ri­en­ten wären genug. Den beson­ders Talen­tier­ten blie­be das Gym­na­si­um vor­be­hal­ten, das dann ohne bis­he­ri­ge­Ver­ren­kun­gen aus­kä­me; die ande­ren Schul­ar­ten erfreu­ten sich klü­ge­rer Schü­ler, die schwä­che­re mit­zö­gen und denen die Grund­la­gen für tech­ni­sche und Indus­trie­be­ru­fe ver­mit­telt wür­den. Damit erschie­nen die nicht­gym­na­sia­len Schu­len auf­ge­wer­tet und kämen aus dem Stig­ma der Res­te­schu­len her­aus. Fer­ner bräuch­te es einen Bil­dungs­ka­non, der kla­re Ver­bind­lich­kei­ten fest­schrie­be. Mit ein­heit­li­chen Plä­nen und Stun­den­ta­feln wäre für ein genau ver­ein­bar­tes Anfor­de­rungs­ni­veau und für nach­voll­zieh­ba­re Bewer­tungs­maß­stä­be gesorgt, die Abschlüs­se end­lich ver­gleich­bar gestal­te­ten. Zen­tra­le Abschluß­prü­fun­gen, ein leis­tungs­ab­hän­gi­ger Über­gang in den gym­na­sia­len Bil­dungs­gang und letzt­lich die ein­heit­li­che Leh­rer­bil­dung stell­ten genau die Gerech­tig­kei­ten her, die der Bil­dungs­fö­de­ra­lis­mus stän­dig ver­spricht, aber nicht zu gewähr­leis­ten ver­steht. Gut – all die Insti­tu­te, Stu­di­en, die ver­meint­li­chen Qua­li­täts­si­che­rer und Dau­er­re­for­men bräuch­te es dann nicht mehr, was inso­fern pro­ble­ma­tisch ist, als daß in die­sen Berei­chen eben jene Kräf­te agie­ren, deren frag­wür­di­ge Beschäf­ti­gung teu­er bezahlt wird und die daher ein star­kes Behar­rungs­ver­mö­gen ent­wi­ckeln und sich mit den genann­ten Tot­schlag­ar­gu­men­ten gegen das gro­ße Auf­räu­men und die not­wen­di­gen Klä­run­gen sperren.

Heino Bosselmann

Heino Bosselmann studierte in Leipzig Deutsch, Geschichte und Philosophie für das Lehramt an Gymnasien.

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