Staatsferne und Ordnungsstaat-Denken rücken vermehrt in den Fokus und werden offen diskutiert. Die vorgestellten zehn Thesen sollen eine alternative Perspektive auf den Sozialstaat bieten.
1. Der Sozialstaat ist kein Wohlfahrtsstaat
Über den Sozialstaat zu diskutieren und nachzudenken, bedeutet auch, einen Blick auf Deutschland 2021 zu richten. Vor allem Kritiker des Sozialstaates weisen immer wieder auf die aktuellen Verhältnisse hin und kritisieren sie völlig zu Recht.
Fakt ist, daß wir in einem Wohlfahrtsstaat leben und dieser vom Sozialstaat zu unterscheiden ist. Was wir erleben, ist ein hypertrophierter Umverteilungsstaat, ein falscher Sozialstaat, der Maß und Mitte verloren hat – falls er diese überhaupt jemals kannte.
In diesem Wohlfahrtsstaat sind Sinn und Zweck verkehrt worden: Nicht die Selbstkultivierung des Menschen steht im Fokus, sondern die pauschale Wohlfahrt der gesamten Bevölkerung oder im Falle Deutschlands der ganzen Welt, welche zudem aus völlig materialistischen Gründen betrieben werden soll.
Sämtliche Risiken werden vom Nannystaat übernommen, jede Entscheidung soll abgesichert, der Mensch als Zootier gehalten und von sämtlichen Gefahren geschützt werden – während er zugleich überall dort geschröpft wird, wo er Leistung und Eigenverantwortung an den Tag legt. Diese Umverteilung ist alles andere als nachhaltig, gerecht oder sozial; der Wohlfahrtsstaat somit das gerade Gegenteil eines Sozialstaates.
Diese allgemeine Wohlfahrt im Sinne einer Verhausschweinung kann nicht Sinn und Zweck eines Sozialstaates sein, denn dieser existiert zu dem Zweck, dem Menschen die Möglichkeiten zu seiner eigenen Befreiung aus der ersten Natur an die Hand zu geben. In einem Sozialstaat wird der Mensch befähigt, für sich zu sorgen und somit letztendlich auch seine Freiheit zu leben – er ist eine Stütze, die das Mängelwesen Mensch zur produktiven gesellschaftlichen Teilhabe befähigen soll.
Dabei handelt er nicht nur auf der Ebene der Sozialpolitik: Er lehrt durch Bildung und Erziehung die nachwachsende Generation, Verantwortung zu übernehmen und kalkulierte Risiken einzugehen; er bestraft unsittliches Verhalten in der Wirtschaft und gibt klare ökonomische Rahmenbedingungen vor. Im Sinne der Sozialen Marktwirtschaft wird der Bürger zum Unternehmer, denn nichts ist sozialer als ein erfolgreicher Unternehmer, der Arbeitsplätze erschafft und andere Mitbürger in Lohn und Brot bringt.
Dies sorgt für einen weiteren Effekt: Der Bürger kann für sich selbst sorgen, so daß die Staatsquote gering bleiben kann. Ein Sozialstaat züchtet sich keine Armee von Hilfstruppen an. Er agiert dabei proaktiv – anstatt eine Mietbremse anzuschnallen, engagiert er sich im sozialen Wohnungsbau. Die soziale Hängematte wird verunmöglicht, Arbeitsunwillige zum gemeinnützigen Dienst verpflichtet.
Ein Sozialstaat ist somit keine Nanny und kein Wohlfahrtsamt. Er ist, im Gegenteil, das zur modernen Verwaltungstechnik herangereifte Prinzip der Solidarität, die über die Kleinfamilie hinausreichende familiäre Bindung im Volk. Damit reiht er sich neben Recht, Identität, Autorität und Freiheit in die ethischen Grundpfeiler unserer Zivilisation ein:
2. Der Sozialstaat ist Hochkultur und Zivilisation
Das Staatswesen an sich ist die Blüte einer Hochkultur und Zivilisation. Ein Volk bzw. eine Kultur benötigt viele entwickelte Charaktereigenschaften und Tugenden, um eine Gemeinschaft denken zu können, die über die engen Blutsbande der eigenen Sippe hinausgeht. Abstraktion und Selbstkultivierung reichen sich die Hand, um zusammen ein Gebilde zu errichten, das nicht ohne Grund vor allem in europäischen Gefilden beheimatet ist.
Diese Organisationsform namens Staat darf man nicht mit seinen Cousins verwechseln: In der orientalischen Despotie dient der Staat lediglich als Vehikel zur Verwirklichung ihrer zentralen Figur – sei diese nun der Prophet, der Gottkaiser, der Khan oder der Sultan; dem ostasiatischen Ameisenstaat hingegen gilt der Einzelne wenig, und das Ganze existiert nur um den Selbsterhalt seiner abstrakten Einheit willen.
Nur in Europa wurde die Mitte gefunden: Ohne den Sinn für das Individuum und die Fähigkeit zur Abstraktion hätte Hobbes den Leviathan nicht denken können. Und Hegel sah in Napoleon den Weltgeist zu Pferde reiten, bevor er sich als preußischer Staat selbst begreifen konnte.
3. Der Sozialstaat ist typisch deutsch
Deutschland ist nicht nur das Land der Dichter und Denker, sondern auch ein Land der Staatsdenker, die die Extreme zusammen denken. Citoyen und Bourgeois, den Staats- und Privatbürger in eine Synthese zu führen, war eine der Aufgaben vieler Deutscher Philosophen seit Pufendorf. Die beiden wichtigsten deutschen Philosophen des 19. Jahrhunderts, Hegel und Marx, widmeten ihr gesamtes Denken dieser Synthese, die für den Einen den perfekten Höhepunkt der Geschichte und für den anderen den instabilen Ausgangspunkt der Revolution darstellte.
Benedikt Kaiser betonte in seinem Buch Solidarischer Patriotismus die deutschen Traditionen des sozialen und sozialstaatlichen Denkens. Maß und Mitte zu finden, die Gegensätze zu vereinen und eine solidarische Gemeinschaft zu bilden, ist der Wunsch des deutschen Volksgeistes. Der Sozialstaat steht in dieser Tradition. Er ist typisch deutsch.
4. Der Sozialstaat ist rechts
Manche kritisieren den Sozialstaat und verunglimpfen ihn als links. Wie schon angesprochen, verwechseln sie den Wohlfahrtsstaat mit einem Sozialstaat und begehen dabei noch den Fehler, auf liberalen Wegen zu wandeln: Im zerstörerischen globalen Finanzkapitalismus kehrt Hegels Furie des Verschwindens zurück – die absolute Freiheit mündet in der Auflösung sämtlicher gewachsener Strukturen.
Der konkrete, geschichtliche Mensch wird zum abstrakten, geschichtslosen Erdbewohner. Doch ein Sozialstaat verankert den Menschen wieder in einer Gemeinschaft, er läßt ihm einen Sinn für Verantwortung und Gemeinsinn wachsen, er gibt ihm ein Verständnis für Kultur und Volk. Der Mensch kann in einem Sozialstaat wieder Wurzeln schlagen.
5. Der Sozialstaat ist das Gegenteil von »sozialistisch«
Der verwurzelte Mensch ist weniger anfällig für Zufall und Kontingenz. Er ist im sozialen Staat eingebettet und weiß um seien Rechte und Pflichten. Der Sozialstaat verhindert effektiv eine Pauperisierung und Proletarisierung des Volkes, sodass sozialistische Agitatoren weniger fruchtbares Feld finden. Ein Mensch, der erfolgreich im Leben steht, wird keine Umverteilung oder soziale Revolutionen anstreben. Der »sozialistische« Wohlfahrtsstaat wird durch freie und erfolgreiche Menschen verhindert.
6 Der Sozialstaat ist gerecht
Die Freiheit zu gewähren ist ein Ziel des Sozialstaats. Jedoch kennt der freiheitliche Sozialstaat auch den Zwang und die Grenze. Absolute Freiheit ist einem Sozialstaat also fremd, denn Freiheit ist nur unter dem Gesetz möglich, sofern man nicht somalische Verhältnisse als erstrebenswert ansieht.
Durch die Einhegung der Freiheit und die Verwurzelung des Menschen agiert der Sozialstaat gerecht: Ein Bürger des Sozialstaats weiß, daß er aufgefangen wird, falls er der Kontingenz des Lebens ausgeliefert und arbeitsunfähig wurde. Da der Sozialstaat Wirtschaft nicht nur als eine rationale Veranstaltung versteht, sondern erkennt, daß Wirtschaft von der Kultur zehrt, unterstützt er dezent diese Kultur und greift – wenn nötig – ein. +
Ein Mensch, der trotz einer Vollzeitstelle nicht seinen Lebensunterhalt bestreiten kann, wird auch nur schwer an der Kultur partizipieren können. Der Sozialstaat sichert nicht nur im Extremfall die Existenz, sondern greift auch durch, wenn Regeln verletzt werden. Too big to fail ist dem Sozialstaat unbekannt. Eine Verletzung der Freiheit ist dabei präventiv – der Zwang des Staates wird bei einem Eingriff in Wirtschaft und Gesellschaft nur deshalb eingesetzt, um einen möglichen privaten Zwang zuvorzukommen.
7. Der Sozialstaat vereint Citoyen und Bourgeois
Die Freiheit des Privatbürgers kann nur unter dem Gesetz stattfinden: Sie ist begrenzt, sofern sie nicht in Anarchie enden soll. Der Privatbürger, der aus der Natur des Menschen seine eigene Interessen verfolgt und dieses auch soll, wird vom Sozialstaat eingefangen und in eine Gemeinschaft verwurzelt. In einem Sozialstaat besitzt der Bourgeois gleichzeitig auch einen Sinn für den Staat, er versteht sich als Citoyen; er kennt seine Rechte, aber auch seine Pflichten.
8. Der Sozialstaat ist Erfolgsmodell
Ohne Stabilität kann eine Gesellschaft nicht fruchtbar agieren und walten. Der Sozialstaat sichert Stabilität und läßt somit die Kräfte des freien Bürgers sich entfalten. Er verhindert enorme soziale Ungleichheiten und dämmt die Polarisation zwischen Arm und Reich. Er sorgt für Chancengerechtigkeit, aber nicht für Gleichheit: Ein talentierter junger Mensch aus den classes populaires wird gefördert, wenn er von Hause aus nicht die Möglichkeiten besitzt; ein Unternehmer mit einer innovativen Idee bekommt Kredite.
Im Gegensatz zum Wohlfahrtsstaat, der den Menschen nur als Bezieher zukünftiger Leistungen ansieht und wie Webers »Stählernes Gehäuse« mechanistisch die Menschenmasse hin- und herverschiebt, will der Sozialstaat jedem Bürger die Chance geben, sich selbst im Dienste der Allgemeinheit zu verwirklichen. Damit übersetzt er in die Gegenwart, was die christliche Religion schon vor zweitausend Jahren erfolgreich machte: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« setzt Selbstliebe voraus, um Nächstenliebe zu verwirklichen.
Allgemeine Solidarität, die auf persönlicher Eigenverantwortung baut, ist der ethische Kern des Gemeinwesens.
9. Der Sozialstaat ist die Zukunft
Im postliberalen Zeitalter werden diejenigen Gemeinschaften bestehen bleiben, die Zusammenhalt und eine Identität gebildet haben, die über Generationen stabil bleiben. Der Sozialstaat verfolgt nicht nur das Ziel der Selbstkultivierung seiner Bürger, sondern er besitzt auch den Auftrag, ihre Tradition und Überlieferungen zu bewahren: Er ist konservativ.
Durch die Stabilität und Mitarbeit seiner Bürger kann der Sozialstaat auch Zeiten überstehen, indem der Mensch auf Zahlen irgendwelcher Transaktionen herabgewürdigt wird. Indem er dem einzelnen Bürger eine Zukunft trotz aller Ungewißheit bietet, überwintern in ihm Volk und Kultur. Identität, Ethnie und Gemeinwesen sind notwendig mit ihm verzahnt, selbst wenn sie gegenwärtig verleugnet werden.
Dennoch ist ein Sozialstaat kein Ethnostaat: Er honoriert Leistung ohne Ansehen der Herkunft. Zugleich muß er jedoch die Einwanderung strikt regeln, um Stabilität zu gewährleisten. Das Primat des Sozialstaates ist die Wage für den schmalen Grat zwischen Exklusivität und Offenheit.
10. Der Sozialstaat bedeutet größtmögliche Freiheit
Der hier vorgestellte Sozialstaat ist eine Alternative zum kisoudischen Ordnungsstaat. Der Ordnungsstaat zieht sich zurück, um Stabilität erreichen zu können. Der Sozialstaat tut dies auch, aber er beteiligt sich diskret an Kultur und Gesellschaft. Er weiß, daß die Freiheit des Menschen schützenswert ist, diese Freiheit aber auch eingegrenzt werden muss. Was nicht explizit verboten ist, ist erlaubt.
Aber was bringt einem diese garantierte Freiheit, wenn man sie nur schwer leben kann, da das menschliche Leben eben auch kontingent und zufällig sein kann? Der Sozialstaat soll nicht jedem ein gutes Leben durch direktes Eingreifen ermöglichen, er gibt kein Versprechen für ein Paradies ab – aber er bemüht sich, seinen Bürgern die Chance und die Grundlage zu geben, sich aus schlechten in bessere Zustände zu arbeiten.
Gute Bildung, leichter Zugang zu Gründungskrediten, sichere Renten und Versicherungen für Notlagen, stabile Rechtsprechung und Gesetzgebung, eine effiziente Strafverfolgung, strikte Regeln für die Wirtschaftspolitik: Ein Sozialstaat kennt seine Aufgaben, aber auch Grenzen. Alles andere darüber hinaus, überläßt er den Menschen. Ein Sozialstaat ist der Dünger, nicht die Saat selbst. Der Staat ist kein Selbstzweck, sondern der Mensch als Bürger, denn Politik ist immer nur das vorletzte Ziel. Es wird niemals den perfekten Staat geben können; der Faktor Mensch ist nicht vollends berechenbar.
Ist dieses Verständnis realistisch, gibt es Anknüpfungspunkte? Ja, sei es das Sittengesetz im Grundgesetz oder die menschliche Natur. In einer aus den Fugen geratenen Welt wird Normalität radikal. Klassische Tugenden, Pflichtbewußtsein und das Verständnis, auch geben zu müssen und nicht nur haben zu wollen, könnten bald wieder gefragt werden.
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Erik Ahrens und Bruno Wolters haben in der neuen kaplaken-Staffel einen selbstbewußten Essay vorgelegt. Der Ausgangspunkt von Postliberal lautet: Die liberale Epoche endet, die postliberale zieht auf. Das bedeutet: Es gibt keinen Punkt, auf den man die Entwicklung zurückdrehen sollte. Die Rechte muß neu ansetzen … Doch wie? Hier bestellen.
Sandstein
I
Habe jetzt leider nicht die Zeit auf alle 10 Thesen einzugehen.
Vorweg: sehe mich als erzkonservativ und als Reaktionär. Alles was mit „sozial-„ beginnt lehne ich instinktiv ab.
„Das Staatswesen an sich ist die Blüte einer Hochkultur und Zivilisation.“