Unter den deutschen Philosophen der Gegenwart ist Peter Sloterdijk zweifellos die produktivste Begriffsmaschine.
Sein Wortschwall erreicht stets dann Höhepunkte der Ausschüttung, wenn er eigentlich um eine Antwort verlegen sein müßte. Weil Sloterdijk sich Ratlosigkeit aus einem unerfindlichen Grund aber nicht leisten will, lädt er seine Nicht-Antworten mit Originalität auf – oder wie wäre sonst seine akrobatische Annahme zu erklären, mittelalterliche Feste seien vor allem »Proteinverteilungsrituale« gewesen (um nur eines von vielen Beispielen aus seiner Interview-Sammlung zu nennen, die jüngst unter dem Titel Der Staat streift seine Samthandschuhe ab erschienen ist)?
»Götter sind Trainer, mit denen eine Gruppe von Followern arbeitet, um ihr Leben rituell in Form zu bringen« – das ist frech, wirkt abschließend aufgeklärt, nicht plump blasphemisch, sondern analytisch-funktional, sogar über Gott verfügend. Es ist philosophischer Smalltalk:
Den Smalltalk an sich kennzeichnet nämlich ein Zuviel an luziden Brocken und ein Zuwenig an Pause und Grübelei – die rasche und verblüffende Wendigkeit nach ernsthafter Frage ist zugleich Höflichkeit und Gesprächsausstieg, sozusagen eine kaschierte Verflachung, ein hingeworfener Brocken, dessen oberflächliche Qualität es seinem Spender ermöglicht, sich dem nächsten Tisch zuzuwenden.
Sloterdijk: ein Vielschreiber auf höchstem Niveau, aber eben doch ein Vielschreiber, einer, der viel zu oft Antworten gibt, der Pferde im Galopp wechselt, weil er davon überzeugt ist, in jedem Sattel reiten zu können. Daher ist er doch schon wieder ehrlich und (ungewollt?) uneitel, wenn er im erwähnten Band Gespräche aneinanderreiht, deren Antworten einander widersprechen. Es liegen nämlich immer ein paar Monate dazwischen, und der Wind, das haben wir alle durchlebt, wehte im vergangenen Jahr böig und unberechenbar.
Sloterdijk will stets zu denen gehören, die früher ahnten und wußten und sagten, aber nie zu denen, die danebenlagen. Das macht die Lektüre seines Gesprächsbuchs zu einem Ärgernis, zu einem anregenden Ärgernis, zu einem erweiternden, anstachelnden, fruchtbaren, ärgerlichen Lese- und Denkereignis.
Eine der Früchte: Auf die Frage, wie wir in ratloser Zeit zurechtkommen könnten (unter der Knute des Maßnahmenstaats und vielleicht sogar bedroht von einer tatsächlich gefährlichen Seuche), antwortet Sloterdijk zunächst, man solle es halten wie jene zehn jungen Leute, die im 14. Jahrhundert vor dem Schwarzen Tod aufs Land flohen und sich Abend für Abend nach einfachen Regeln Geschichten erzählten: das Decamerone.
Dann die typische Wendung: »Eine andere Fährte: eine nicht existierende Wissenschaft studieren, die Labyrinthologie. […] In einem Labyrinth muß man damit rechnen, daß man den Weg zum Ausgang nicht beim ersten Versuch findet. Was zählt, ist ein gutes Gedächtnis für Weggabelungen.« Sloterdijk besitzt es natürlich und wendet es auf die Reaktionsmuster zur Eindämmung der Corona-Pandemie an: »Indem man die Verbreitung des unbekannten Angreifers um jeden Preis aufhalten will, wählt man eine Abzweigung, die zu einer verschlossenen Tür führt.«
Die Alternative wäre »Nichtstun« gewesen, und, das sei ergänzt, sie wäre es noch immer: den Dingen ihren Lauf lassen, jetzt, wo wir wissen, daß die Sterblichkeit »im Zusammenhang mit dem Coronavirus« undramatisch ist. Das also wäre die Weggabelung im Labyrinth gewesen, aber wir wissen ebenso, daß der Weg zurück aus der Sackgasse fast unmöglich wird, wenn man so voller Überzeugung in sie hineingestürzt ist, wie wir es ungläubig erlebten.
Vor allem Politiker, diese Gesichtsverlustvermeidungsexperten, können im Grunde nicht umkehren.
Sloterdijk, der große Smalltalker, zieht an dieser Stelle wiederum keine Schlüsse, sondern kaschiert, wie befürchtet, mit einem Aufriß auf dem Bierdeckel seinen Abgang: »Bald werden wir sehen, daß die Politikwissenschaft, die Immunologie, die Ökologie und die Labyrinthologie vor einer Reihe gemeinsamer Herausforderungen stehen.«
Schwall. Dabei wäre es so einfach gewesen: Ein gutes Gedächtnis für Weggabelungen besitzt, wer sich a) Alternativen überhaupt vorstellen kann und b) unter einem selbstauferlegten Nachahmungsverbot lebt. Handle nie so wie diejenigen, die das Alternativlose predigen und das Labyrinthische unserer Verhaltensversuche leugnen.
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Peter Sloterdijks Der Staat streift seine Samthandschuhe ab kann man hier bestellen.
Ein gebuertiger Hesse
Großartige, ins Mark gehende Kritik. Ob der Passage über den Smalltalk darf jeder Intellektuelle, gerade auch Offbeat-Leute wie wir, kurz oder länger in den Spiegel schauen.