Dazu vermeldet Christoph Prantner in der NZZ (v. 26.7.2021):
Der Thüringer Landtag hat am Freitag den von der AfD gestellten Misstrauensantrag gegen Ministerpräsident Bodo Ramelow abgelehnt. Weil der Antrag gemäss Verfassung des Freistaates ein sogenanntes konstruktives Misstrauensvotum sein musste, hatte die AfD ihren Fraktionsvorsitzenden im Landtag, Björn Höcke, als Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten nominiert.
Erwartungsgemäss ging das Votum gegen Höcke aus. Linkspartei, SPD, Grüne und FDP lehnten den Antrag der grössten Oppositionspartei in Erfurt ab, die 22 Abgeordneten der AfD votierten dafür. Die CDU boykottierte die Wahl wie angekündigt,
was sich insofern gegenständlicher darstellen ließe, als daß man den Abstimmungssaal zwar nicht verließ, aber geschlossen sitzen blieb, um zu verhindern, daß ja kein Mandatsträger am Ende dann doch lieber eine – gleichwohl: symbolische – Stimme für den Kandidaten Höcke abgeben könnte.
Die Fraktion der Christdemokraten scheint mittlerweile kein besonderes Gottvertrauen mehr in die Linientreue aller ihrer Angehörigen zu besitzen.
Was die meisten interessieren dürfte, ist indes: Wie geht es weiter in Erfurt?
Prantner faßt zusammen:
Vorgesehen waren die Landtagswahlen zunächst für April 2021 und schliesslich für den 26. September zeitgleich mit den Bundestagswahlen. Doch auch dieser Plan scheiterte zuletzt, weil sich die Parteien nicht binnen der erforderlichen Frist auf eine Auflösung des Landtags einigen konnten. Weder Linkspartei, SPD, Grüne noch CDU wollten das Risiko eingehen, noch einmal mit der AfD abzustimmen. Das Bestreben, die Demokratie zu beschützen, ging so weit, die Wähler schon wieder nicht an die Urnen zu lassen. Wann es nun Neuwahlen in Thüringen geben soll, ist ungewiss. Wie Ramelow ohne Mehrheit und CDU-Unterstützung regieren wird, ebenso.
Einzuwenden wäre: Wieso eigentlich ohne CDU-Unterstützung? Wenn es bis dato darauf ankam, ist tatsächlicher Mut, Ramelow jedwede Unterstützung zu entziehen, sei sie direkt oder indirekt, nun wahrlich nicht in schwarzer Parteifarbe dahergekommen.
Der Fraktionschef einer linken Partei sprach derweil
von einer von der AfD orchestrierten «Farce und Schmiere». Diese Partei und Björn Höcke persönlich seien «eine Schande für Thüringen». Das Land stehe für Demokratie, Freiheit, Offenheit und eine historische Tradition zwischen «Wartburg und Weimar». Die Farbe der AfD sei nicht Blau, sondern Braun – «und dieses braune Gift brauchen wir nicht in Thüringen»,
wobei ich mich direkt korrigieren muß: Es handelt sich bei dem Urheber dieser Zitate nicht um einen linken Fraktionschef, sondern just um den christdemokratischen, namentlich Mario Voigt. Allein, was sagt das noch aus in einer Epoche, in der »breite Bündnisse gegen rechts« nicht nur politisch, sondern auch sprachlich keine Grenze mehr kennen.
Björn Höcke, Fraktionsvorsitzender der AfD, entgegnete indessen überaus gelassen und angemessen auf die Anwürfe; man kann es sich selbst ansehen.
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Geschichtspolitik prägt auf verschiedene Art und Weise das aktuelle Zeitgeschehen, und es gibt entsprechende Debatten, die nicht vergehen wollen und für emotionale Zuspitzung sorgen: Das ist keine deutsche Besonderheit. Auch daß Bauvorhaben diskutiert werden, ist es nicht, wenngleich die deutsche Farce der 600 (!) Millionen Euro für den Anbau (!!) des Bundeskanzleramtes nicht zu toppen ist.
Doch während hierzulande die Kritik am protzigen Anbau nur vereinzelt tröpfelt, wird bei unseren Nachbarn lebhaft diskutiert. »Auf Polens Pilsudski-Platz vermengen sich Tragik, Politik und Geschichte«, vermeldet die NZZ (v. 28.7.2021).
Ivo Mijnssen weiß über diesen herausragenden Ort im Herzen Warschaus zu vermelden:
Benannt ist er nach dem Begründer des modernen Polen, Marschall Jozef Pilsudski. Vor ihm inspizierte hier schon Napoleon seine Truppen, und während des nationalsozialistischen Terrorregimes erhielt der Platz den Namen des «Führers» des Deutschen Reichs, Adolf Hitler. Heute finden die wichtigsten nationalen Feierlichkeiten und Staatsempfänge auf dem Platz statt. Sein Zentrum bildet das Grab des Unbekannten Soldaten: Dort brennt die ewige Flamme, eine Ehrengarde bewacht das Andenken an die Gefallenen. An den Wänden der vier freistehenden Säulen sind die Namen der wichtigsten Schlachten im letzten Jahrtausend verewigt.
So weit, so beschreibend. Der Streit beginnt, als es um die Kolonnade geht, denn diese war Teil des sogenannten »Sächsischen Palais«.
Mijnssen:
Das Barockschloss aus dem frühen 18. Jahrhundert diente in der Zwischenkriegszeit als Hauptquartier des polnischen Generalstabs. Dort befand sich etwa das Büro jener Code-Knacker, welche die deutsche Chiffriermaschine Enigma entschlüsselten. Damals wurde auch das Grab erstmals errichtet. 1944 zerstörte die Wehrmacht das Palais bei ihrem Abzug – zusammen mit dem Grossteil der Warschauer Altstadt.
Die Regierung um die führende Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) will dieses Schloß neu errichten. Seit fast 20 Jahren bemüht man sich in PiS-Kreisen um entsprechende Anstöße; finanzielle und denkmalschützerische Aspekte verhinderten es bislang – ein neuer Anlauf wurde Anfang Juli gestartet.
Der PiS-nahe Präsident Andrzej Duda sieht darin »ein gewaltiges Werk symbolischen Charakters, das den Wiederaufbau der Hauptstadt krönen soll«, nicht zuletzt sei der Palais ein Symbol für die polnische Unabhängigkeit, die Neuerrichtung würde das heutige Land mit jenem zwischen den Weltkriegen verbinden.
Wie so oft ist die Situation bei PiS ambivalent: Respektable Familien- und Sozialpolitik einerseits, nationalpolitisches Kokettieren mit deutschen Verbindlichkeiten aus historischen Gründen andererseits:
Stemmen will die Regierung die Ausgaben im Rahmen des polnischen «New Deal», eines grossen sozialpolitischen Investitionsprogramms, in das auch erhebliche EU-Mittel fliessen. Sie hofft auch, dass Deutschland sich an der Finanzierung beteiligt, um ein Zeichen zu setzen in der hochemotionalen Debatte um Restitutionen für die Zerstörungen der Besetzer.
Diskutiert wird in Polen aber nun nicht nur der Kostenfaktor des Wiederaufbaus, sondern auch die historischen Analogien und Verbindungslinien, die gezogen werden. Am Pilsudski-Platz, weiß Mijnssen zu berichten,
steht seit 2018 eine Statue von Lech Kaczynski neben jener von Pilsudski. Nur wenige Meter weiter liess Jaroslaw Kaczynski im gleichen Jahr ein Denkmal für den Flugzeugabsturz von Smolensk errichten. Dieser hatte 2010 seinem Zwillingsbruder und fast hundert weiteren Spitzenvertretern des Staates das Leben gekostet. Beide Gedenkstätten werden als Kulisse für Aktionen sowohl oppositioneller Aktivisten als auch der Regierungspartei benutzt.
Wenn man diesen hochpolitischen, hochsymbolischen Ort bereits hat – wozu dann noch das Palais? Das ist bisher im unklaren:
So war bei der Ankündigung der Gesetzesvorlage nur die Rede davon, es solle «ein Raum für kulturelle Institutionen und Initiativen» werden. Oppositionelle Medien spekulieren nun, ob damit ein Lech-Kaczynski-Museum gemeint sein könnte. Sollte es sich tatsächlich gegen alle Widerstände durchsetzen lassen, würde der verstorbene Präsident symbolisch auf die gleiche Ebene gehoben wie die Gefallenen, deren am Grab des Unbekannten Soldaten gedacht wird.
Der Brückenschlag wäre damit von den 1930ern und 1940ern ins 21. Jahrhundert erfolgt. Wie in Deutschland emotionalisiert in Polen die Geschichte vor allem die politische Rechte; Ausgang beiderseits ungewiss.
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Bei Olympia ist die deutsche Fußballnationalmannschaft bereits ausgeschieden; der nächste peinliche Tiefpunkt nach der Europameisterschaft im Juni. Noch peinlicher war indes das Verhalten von Politik, Medien und Zivilgesellschaft in der BRD gegenüber der ungarischen Nation.
Wir erinnern uns: Familienschutzmaßnahmen und LGTBQ-kritische Gesetzgebung in Budapest sorgten nicht nur für eine moralpolitische Sturzflut des Gedruckten, sondern auch für Politikerstatements, Regenbogenfahnen allerorten und den neuerlichen Schulterschluß von Antifa bis Großkapital. Wer sich wirklich mit der ungarischen Thematik auseinandersetzen wollte, gar den ungarischen Standpunkt zu erfahren beabsichtigte – ging in der Regel leer aus. Die Budapester Zeitung beziehen zu wenige Leser, ihr Resonanzraum ist im deutschsprachigen Raum einstweilen gering.
Dem Compact-Magazin ist es daher hoch anzurechnen, daß es in der aktuellen Ausgabe (8/2021) Viktor Orbán selbst zu Wort kommen läßt, also jene Person, die spätestens mit Beginn der Europameisterschaft zur Persona non grata wurde. Alleine für diesen O‑Ton lohnt sich der Erwerb des Magazins (wo das möglich ist, erfährt man hier oder direkt bei Compact, die Schnellrodaer Versandbuchhandlung – antaios.de – führt nur noch Spezials, Sonderausgaben etc.).
Orbán ist in diesem Fall wenig diplomatisch – erfrischend greift er seine Kritiker in Westeuropa an:
Jetzt lassen sie die europäischen Alarmglocken wegen der die Pädophilen radikal bestrafenden und unsere Kinder auf radikale Weise beschützenden neuen Gesetze erschrillen. Wie auch immer, die Bewegung ist eine ewige, die neue Losung lautet nicht mehr «Proletarier aller Länder vereinigt euch», sondern «Liberale aller Länder vereinigt Euch». Das bestärkt natürlich jene mitteleuropäische Überzeugung, dass heute der Liberale im Grunde der Kommunist mit Hochschulabschluss ist,
wobei hinzuzufügen wäre, daß Orbán bei »mitteleuropäisch« primär an Ungarn, Polen, Tschechien und die Slowakei denkt; »Osteuropa« beginnt nicht nur für ihn weiter östlich.
Die offensive Kampagne gegen Ungarn ist für Orbán ein
erneuter Beweis dafür, dass heute die Linke der Feind der Freiheit ist, denn statt der Meinungsfreiheit wollen sie die durch sie definierte politische Korrektheit, und statt der Pluralität der Meinungen wollen sie für sich die Meinungshegemonie.
Jenen, die Orbán vorwerfen, er würde »die Freiheit« einschränken, in dem er LGTBQ-Propaganda einhegt, antwortet er unumwunden:
Die ungarische Freiheit umfasst nicht nur die politische Freiheit, die Möglichkeit der Wahl, Rede‑, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, sondern auch das Recht, unsere Familien nach unserem eigenen Ermessen zu schützen und unsere Kinder nach eigenem Ermessen zu erziehen. Unser Gesetz ist eine würdige Fortsetzung der europäischen Freiheitstraditionen. Gerade jetzt hat die Debatte über die Zukunft Europas begonnen, das heißt über die Zukunft unserer Kinder. Wir sind hier, zur Diskussion bereit.
Bemerkenswert ist, daß Orbán immer wieder den Begriff der »Liberalen« für die westeuropäischen Herrschenden verwendet, wohingegen er sich und die Seinen als die »nicht liberalen Demokraten« bezeichnet. Für diese sei
die sexuelle Erziehung des Kindes das Recht der Eltern, und hierbei dürfen ohne ihre Zustimmung weder der Staat noch die Parteien sowie auch die NGOs und Regenbogenaktivisten eine Rolle spielen,
was in Ungarn durchgesetzt wird, während in Deutschland ein Schulbuch nach dem anderen durch Gender-Ideologen »modifiziert« wird.* Schon allein aus diesem Grund erscheint es folgerichtig, daß Orbán auch Deutschland in die Phalanx der »Regenbogenländer« einreiht, deren Recht es ist, Familienpolitik und Kindererziehung anders als die »nicht liberalen Demokraten« zu gestalten.
Dieses ihr Recht kann ein anderer Staat nicht in Frage stellen. Besonders, da Deutschland die Rolle des Flaggschiffs auf sich genommen hat. Ob es klug ist, erneut mit Armbinde zu demonstrieren und im Münchner Fußballstadion während der ungarischen Nationalhymne mit einer Regenbogenfahne auf das Spielfeld zu rennen, darin bin ich mir nicht sicher. Doch bin ich mir darin sicher, dass über die Erziehung der deutschen Kinder die Deutschen entscheiden müssen,
womit Orbán zweifellos recht hat, was im Jahre 2021 indessen nicht zwingend angemessene Entscheidungen hervorbringen würde.
Am Ende wird Orbán noch einmal offensiv und verknüpft zwei wichtige Stränge der Liberalen:
Die Migration ist kein Menschenrecht und die Art und Weise der sexuellen Erziehung des Kindes ist auch nicht das Menschenrecht des Kindes. So ein Menschenrecht gibt es nicht. Stattdessen gibt es Artikel 14 der Charta der Grundrechte über das Recht der Eltern, ihren Kindern die entsprechende Erziehung zu sichern.
Dem Realpolitiker Orbán wäre lediglich vorzuwerfen, daß er sich – jedenfalls formell – einigen Illusionen ob der Reformierbarkeit der EU zu machen scheint. Er postuliert nämlich:
Wenn wir die Europäische Union zusammenhalten wollen, müssen die Liberalen die Rechte der nicht Liberalen respektieren. In Vielfalt geeint. Das ist die Zukunft.
Und das dürfte ein doppelter Trugschluß sein:
Erstens werden die EU-Liberalen aller Couleur die Nichtliberalen in keiner Weise respektieren, weil bereits die bloße Existenz nichtliberaler Entitäten die ideologischen Grundlagen der Herrschenden herausfordern muß.
Zweitens ist es zwar tatsächlich so, daß die originäre »Vielfalt« Europas »Zukunft« sein sollte – nur versteht die politmediale Klasse Westeuropas unter Vielfalt gerade nicht die organisch gewachsene Vielheit europäischer Nationen, sondern die Aufhebung bisheriger Identitäten und ihre Überführung in einen neuen Zustand der Diversity. »Europa« ist für EU-Eliten als Markt und Siedlungsgebiet relevant, nicht als Idee, nicht als Vergegenständlichung einer jahrtausendealten Schicksalsgemeinschaft der autochthonen Völker.
Orbán dürfte dies ahnen, aber der Diplomatie geschuldet spart er es aus, was am positiven Gesamteindruck freilich wenig ändern sollte.
(* Wer sich für den Themenkomplex Regenbogenideologie und Co. interessiert, wird im Augustheft von Compact auf eine weiteren bemerkenswerten Beitrag stoßen: Martin Müller-Mertens erläutert nämlich, wie Homosexualität in der DDR zwar früher als in der BRD legalisiert, aber eben nie propagiert wurde).
RMH
Nüchtern betrachtet bleibt damit zumindest die große AfD Fraktion in Thüringen ungeschmälert erhalten. Ein Teil des Kalküls der Etablierten beim Plan, die Landtagswahl mit der Bundestagswahl zusammenzulegen war ja, dass im Sog der BT Wahl auch der starken AfD in Thüringen ein paar Sitze im Landtag verloren gehen. Insofern danke an die CDU. Ich denke, die AfD wird bei einer reinen Landtagswahl besser abschneiden, als bei einer kombinierten.
Von daher gilt jetzt für die ganze AfD: voller Einsatz für den BT-Wahlkampf.