Besser gesagt: das Elend bundesdeutscher Migrationspolitik.
Denn auf der Titelseite heißt es »London will Asylgesetz verschärfen«, während es auf der Rückseite, besagter Seite 2, in der Überschrift lautet: »Droht Deutschland eine weitere Migrationswelle aus Afghanistan?«
Die Zusammenstellung mag dem tagespolitischen Zufall geschuldet sein; sie zeigt aber, was die Brexit-eigene Formel Take back control in kleinster Bedeutungsdosis ausrichten mag, während Deutschland weiter im Modus der geöffneten Gesellschaft vor sich hin deliriert.
Über die britische Situation schreiben die Auslandskorrespondenten Nina Belz und Niklaus Nuspliger:
Der vergangene Mittwoch hat alle Rekorde geschlagen: Mindestens 482 Migranten haben in kleinen Schlauchbooten den Ärmelkanal überquert. Noch nie hat das britische Innenministerium so viele Ankünfte auf dem Seeweg an einem Tag gezählt. Möglicherweise waren es noch einige mehr, die von den Behörden nicht erfasst wurden. Gleichentags sollen französische Grenzbeamte acht Boote mit insgesamt 246 Personen an der Überfahrt gehindert haben.
Im Schatten der »Corona-Pandemie« geht der Ansturm auf Europas Nationen weiter, sie kommen
aus Iran, Afghanistan und dem Irak, aber auch aus Afrika, die unbedingt auf die Insel wollen, oft weil sie da bereits jemanden kennen.
Die Reise von Frankreich nach England erfolgt für die Migranten auf dem Wasserweg, aber nun zeigt die Macronsche Politik in Frankreich wohl Härte:
Die zuständige nordfranzösische Präfektur Pas-de-Calais versicherte, sie tue alles, um die Überfahrten zu verhindern.
Alles? Das klingt nach einiger Anstrengung, und dann liest man, daß die Behörden
kürzlich in den am meisten betroffenen Gemeinden der Verkauf von Benzin in Kanistern eingeschränkt
haben, um es den Schlepperbooten so richtig schwer zu machen, auszufahren. Da wird es fortan keiner mehr wagen, die Insel Her Majesty heimzusuchen. Oder?
Hatten es 2019 noch 1844 Migranten irregulär über den Ärmelkanal geschafft, kamen 2020 über 8400 an. Bis in der ersten Augustwoche des laufenden Jahres verzeichnete das britische Innenministerium bereits fast 11 000 Ankömmlinge in mehr als 4040 Booten,
was ja andeuten könnte, daß Benzinverknappung in Pas-de-Calais oder Boulogne-sur-Mer das Migrationsproblem des Globalen Südens eher wenig beeinträchtigen dürfte und daß Großbritannien andere Wege wird finden müssen, als sich auf Frankreichs Küstenschutz zu verlassen, zumal die NZZ-Autoren festhalten:
Bis anhin zeigen Paris und die anderen EU-Hauptstädte nur wenig Interesse daran, mit Brexit-Britannien bilaterale Rückübernahmeabkommen auszuhandeln.
Ein kleiner Revanchehaken für den EU-Austritt oder nur die Mühen der institutionellen Ebenen? Vielleicht auch beides.
Sicher dürfte zumindest sein: Wenn die Tories in London keine dauerhafte Lösung zur Eindämmung des Migrationsansturms finden, wird die rechte parlamentarische Ecke in England nach der Pulverisierung von Farage und Co. nicht länger im 0,x‑Segment isolierbar sein – der Druck kommt dann nicht länger von links bzw. Labour, sondern von rechts bzw. jenen konservativen Brexiteers, für die eine verfehlte EU-Migrationspolitik immerhin einer der Hauptbeweggründe für das entsprechende Votum gewesen ist.
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In Deutschland kommt auf die parlamentarische Rechte einige Arbeit zu. Denn im bereits erwähnten Beitrag »Droht Deutschland eine weitere Migrationswelle aus Afghanistan?« von Oliver Maksan und Jonas Hermann wird einigermaßen klar, was uns im Laufe der kommenden Monate erwarten dürfte, wenn die beiden Autoren fragend an die Leser herantreten:
Droht insbesondere Deutschland gar eine neue Flüchtlingskrise wie 2015?
In der Fraktion der Union heißt es, sei man »alarmiert«:
«Wir beobachten die Lage genau. Dabei kommt es entscheidend auf die Entwicklung der Sicherheitslage an», sagt der CDU-Abgeordnete Thorsten Frei. Er geht davon aus, dass zurzeit wöchentlich etwa 30 000 Afghanen aus ihrem Land fliehen. «Die EU erreichen bis jetzt aber nur wenige», so der stellvertretende Fraktionschef der Union.
Und wenn schon, so kann der Merkel-Loyalist alle deutschen Leser beruhigen, denn
ein erhöhtes Flüchtlingsaufkommen würde Deutschland heute gut meistern können, so Frei. Anders als 2015 seien Bund, Länder und Kommunen bei Registrierung und Unterbringung diesmal auf alles vorbereitet. «Und anders als 2015 haben wir inzwischen eine Reihe von Gesetzesänderungen im Sinne des ‹Ordnen, Steuern und Begrenzen› verabschiedet.»
Das heißt was in Praxis, in Zahlen? Es gibt allein 25 000 ausreisepflichtige Afghanen in Deutschland, und wie viele wurden abgeschoben? Knapp über 1000. Allein diese absurden Relationen muß man sich in Erinnerung rufen, wenn Grüne, Rote, Schwarze, Gelbe oder die obligatorischen Dunkelroten wieder über die vermeintlich inhumane »Abschiebepolitik« klagen oder wenn Horst Seehofer allen Ernstes Abschiebungen nach Afghanistan aussetzt, egal ob die Illegalen straffällig geworden sind oder nicht.
Die AfD kann hier im Wahlsommer ihr ureigenes Primärthema wieder stark machen, denn alle anderen Parteien würden die Probleme nur verschärfen. CDU/CSU und SPD haben »2015« überhaupt erst ermöglicht, sind also verantwortlich für den Sommer der Massenmigration. Und die Grünen sind einfach mal gänzlich
dagegen, Europas Aussengrenzen härter gegen illegal Einreisende zu sichern und fordern neben dem Familien- auch den Geschwisternachzug. Sie wollen mehr Migranten aufnehmen, die humanitäre Fluchtgründe vorbringen können,
wobei für letzteres sicherlich willfährige NGOs bereitstehen, die den Afghanen erklären, was sie bei welchem Amt auszusagen haben, um einen entsprechenden »Fluchtgrund« geltend machen zu können.
Auch die NZZ muß implizit einräumen, daß lediglich eine Partei eine alternative Migrationspolitik fahren würde:
Nur die AfD will die Migration im grossen Massstab grundsätzlich beenden,
was spätestens dann zu einem polarisierenden Thema wird, wenn es Zehntausenden Afghanen gelingt, auf EU-Territorium im allgemeinen und nach Deutschland im besonderen vorzudringen.
Ihre konkrete Zahl bleibt auch Experten einstweilen noch ein Rätsel:
Niemand weiss, wie viele von ihnen den weiten Weg nach Deutschland antreten werden. Klar ist aber, dass sich die Situation von 2015 diesen Sommer allein schon deshalb nicht wiederholen dürfte,
weil sie schlecht für die ihre Heimat verlassenden Afghanen wäre, die zum einen katastrophal entwurzelt und in eine fremde Welt geworfen wären und deren Land andererseits dann endgültig in die Fänge radikalsunnitischer »Gotteskrieger« gelangte, wenn man seine noch gut 30.000 Mann starke Armee aus Spezialkräften alleine gegen Hunderttausende Fanatiker kämpfen läßt?
Oder weil es schlecht wäre für die längst an ihre Kapazitätsgrenzen angelangten Deutschen, denen noch jede materielle Zuspitzung ihrer Lebensverhältnisse damit begründet wird, daß »kein Geld da sei« und deren Sicherheitsgefüge seit 2015 ein anderes ist als vor dieser Zäsur?
Nein,
weil sie für den Wahlkampf der Regierungsparteien Gift wäre – und der AfD Wähler zutreiben würde.
Achso.
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Eines der am häufigsten genannten Argumente für Massenmigration ist die demographische Katastrophe des deutschen Volkes. Und tatsächlich ist die BRD-Bevölkerung zahlenmäßig die drittälteste der Welt nach Monaco und Japan.
Dieses Negativranking darf freilich nicht den Blick darauf verstellen, daß politisch »besser« regierte Länder ähnliche demographische Probleme aufweisen, darunter Tschechien, Rußland oder eben auch Polen und Ungarn.
Der Unterschied: In letztgenannten Nationen fährt die etablierte Politik, was immer man im einzelnen an ihr auszusetzen haben möge, eine natalistische Kampagne, das heißt sie strebt im Rahmen einer aktivierenden Familienpolitik vor allem danach, Einheimische dazu zu bewegen, eine Familie zu gründen oder eine bestehende zu vergrößern:
Gegen das »Europa der leeren Babybetten«
ist demzufolge auch ein Report Ivo Mijnssens in der NZZ (v. 11.8.2021) überschrieben.
Die Regierung Viktor Orbán
will mit ihrer Familienförderung, die inzwischen für Europa rekordhohe 4,6 Prozent des Bruttoinlandprodukts verschlingt, explizit keine Armutsbekämpfung betreiben. Sie will die Ungarn dazu animieren, Kinder zu zeugen,
was beim Leser zu keinem Schockmoment, sondern eher zu verstärktem Interesse führen sollte, insbesondere dann, wenn für deutsche Leseraugen etwas völlig Fernes thematisiert wird: eine Lust auf das Gedeihen des eigenen Volkes, die ökonomische Kennziffern und anderes überstrahlt:
Ministerpräsident Viktor Orban positioniert sich dabei als Kämpfer gegen den angeblichen europäischen Mainstream. Der Rest des Kontinents setze auf Migration, um Alterung und Entvölkerung zu begegnen, Ungarn auf eigene Kinder. «Wir wollen nicht nur Zahlen, wir wollen ungarische Babys», verkündet Orban,
und
«Europa ist zum Kontinent der leeren Babybetten geworden, während Asien und Afrika vor den gegenteiligen demografischen Herausforderungen stehen»,
sekundiert ihm Familienministerin Katalin Novak. Eine Erklärung parat hat Mijnssen für diese Argumentation:
Die Angst vor dem Niedergang ist im ehemaligen Ostblock besonders ausgeprägt. Manche Politiker sehen ihre Völker gar als vom Aussterben bedroht,
was man freilich nur dann als realexistierendes Problem wahrnehmen kann, wenn man das eigene Volk wertschätzt, verteidigen und erhalten möchte.
In Ungarn und Polen entspricht dies explizit dem Regierungsauftrag.
In Ungarn kamen 1991 pro Frau noch 1,9 Kinder auf die Welt, zehn Jahre später lag die Zahl bei 1,3. Dass sie seither auf 1,6 angestiegen ist, sieht die Regierung als Folge ihrer Förderpolitik. Ähnlich präsentiert sich die Entwicklung in Polen, das wie Ungarn auf eine natalistische Familienpolitik setzt: Hier war der Absturz der Geburtenrate im Jahr 2001 sogar noch dramatischer: Sie fiel von 2,1 auf 1,3. Seither hat sie sich leicht erhöht, auf 1,4,
wobei das noch keine Zahlen für Jubelstürme sein dürften, da die rechnerisch notwendige Reproduktionsrate von 2,1 Kindern pro Frau in Ferne ist und selbst die BRD auf 1,57 Geburten pro Frau kommt. Aber, und das ist eben das Entscheidende: In Warschau und Budapest kämpft man auf diesem Terrain und weiß um die Bedeutung eigener Kinder und versucht, wo es nur geht, realpolitische Akzente zu setzen.
2017 beispielsweise
führte Polens rechtsnationale Regierung das Programm «500+» ein, das jeder Familie ab dem zweiten Kind umgerechnet 120 Franken [ca. 110 Euro, B.K.] pro Monat garantierte. Es wurde seither auf Erstgeborene ausgeweitet. 6,7 Millionen Eltern haben vom ebenso populären wie teuren Zustupf profitiert: Die Kosten allein für das Kindergeld werden auf bis zu 1,7 Prozent des BIP geschätzt. In Ungarn gibt es ebenfalls eine noch aus der Zeit vor Orban stammende Prämie für jedes Kind.
Interessant ist die unterschiedliche Detailauslegung: Während in Polen neben der klassischen Familienkonstellation auch Alleinerziehende und Unverheiratete vom Kindergeld profitieren, bleiben die unter Orbán fortgeführten und modifizierten Programme standesamtlich Verheirateten vorbehalten:
Die Zahl der Eheschliessungen hat in den letzten Jahren denn auch stark zu‑, jene der Scheidungen abgenommen,
was Kritiker wohl eher als taktische Maßnahme mancher Eheleute denn als neuerliche Liebesbeweise relativieren dürften.
Ein weiterer Unterschied ist die Klientelorientierung in Ungarn und Polen. Während Polens Regierungspartei PiS traditionell sozialrechte Elemente stark macht und das ganze Volk im Blick hat, ist Ungarns Fidesz – ihrer marktwirtschaftlich-christdemokratischen EVP-Wurzeln gemäß – lange Zeit stärker »klassenbewußt« gewesen, wobei ihre Gegner diesen Aspekt größer machen als er in der Praxis wohl ausfällt.
Ivo Mijnssen erklärt es jedenfalls so:
Während Warschau das Kindergeld unabhängig vom Einkommen ausbezahlt und beansprucht, eine Sozialpolitik für alle Polen zu betreiben, hat Budapest Programme für Arme gekürzt und die Sozialhilfe auf sehr tiefem Niveau belassen. Die Gründe sind weltanschaulich: Ungarn solle eine «auf Arbeit basierende Gesellschaft» sein, so Orban. Entsprechend richtet er die Familienförderung auf die Mittel- und die Oberschicht aus,
was auch damit zusammenhängen dürfte, daß man so die mehrheitlich den Unterschichten angehörenden, ohnehin kinderreichen Roma nicht noch weiter durch staatliche Alimentierung begünstigen möchte (bereits jetzt leben über 700 000 im Land, bei einer Einwohnerzahl von unter zehn Millionen) – ein taktischer Schachzug, der bedauerlicherweise im selben Zuge zu Lasten der Arbeiter, kleinen Angestellten und Soloselbständigen des Landes geht.
Diese Ambivalenz der Orbánschen Realpolitik ist aber kaum präsent in den Vorwürfen, die aus dem Westen gen Budapest geschleudert werden, weil es eben unpopuläre soziale Fragen sind, keine immateriellen, ideologischen.
Dementsprechend wird Ungarns Familienministerin vielmehr vorgeworfen, eine »antifeministische Rhetorik« zu verwenden:
So erklärte sie in einem poppig aufgemachten Video, Frauen sollten als Mütter glücklich sein und nicht versuchen, mit Männern mitzuhalten und gleich viel zu verdienen. «Geben wir doch unsere Privilegien nicht für einen falsch verstandenen Kampf um Emanzipation auf!», rief Novak den Ungarinnen zu. An gesellschaftsliberale, urbane Frauen waren diese Worte nicht gerichtet. Sie stimmen aber auch nicht für den Fidesz,
und auch nicht für die AfD, für das Rassemblement National oder die FPÖ – ein Signum der Zeit.
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Als – zugegebenermaßen – relativer Laie im ökologischen Feld bin ich besonders erfreut über Jonas Schicks Erfolgsstart mit der Zeitschrift Die Kehre. Jede der bisherigen fünf Ausgaben (alle lieferbar bei antaios.de) konnte Wissen vermitteln, unerwartete Themenfelder beackern und zum Nachdenken anregen.
Das neue Heft (Nr. 6/Sommer 2021), das ab morgen bundesweit auch an allen relevanten Bahnhofskiosken verfügbar sein wird (ein Debüt, ein weiterer Schritt des Ausgreifens in neue Leserschichten), enthält aufs neue unkonventionelle Perspektiven und ökologisch-rechte Standpunkte, die ansonsten im politischen Tagesgeschäft völlig ausgeblendet werden.
Ob Björn Höckes sehr persönliches, sehr kluges Interview, Jörg Dittus’ Aufsatz über den Fachwerkbau in Geschichte und Gegenwart oder Carlo Clemens’ profunder Aufriß einer konservativen »Wohnraumoffensive« – bei jedem Beitrag »nimmt man etwas mit«, lernt, und wird nicht zuletzt angespornt, über die behandelten Themen weiter nachzudenken.
Besonders hervorzuheben ist dabei ein durchaus unkonventioneller Beitrag aus der Feder Jörg Seidels, den viele Sezession-Leser auch als Blogger »Seidwalk« kennen dürften. Es geht um das gar nicht mal so »grüne« Thema Vegetarismus.
Rein instinktiv: Abneigung, Assoziation mit moralpolitischen Eiferern, Lob des Fleischgenusses? Ja, auch. Aber das sollte nicht daran hindern, den Text unvoreingenommen und aufgeschlossen zu lesen.
Seidels Einstieg sind zwei Bücher: Einmal Peter Singers Werk Animal Liberation, zum anderen Upton Sinclairs The Jungle. Beide behandeln den menschlichen Umgang mit Tieren:
Was für Singer schon Prämisse, war für Sinclair 70 Jahre zuvor noch Konklusion. Er läßt am Ende seines rasanten Romans, in dem er die Massentierhaltung und Fleischverarbeitung im Chicago-Kapitalismus darstellt, einen Mediziner sagen:
»Und dann betrachten Sie neben dieser Tatsache einer unbegrenzten Nahrungsmittelversorgung die jüngste Entdeckung der Physiologen, daß die meisten Erkrankungen des menschlichen Körpers aufs Überfressen zurückgehen! Und auf der anderen Seite wurde nachgewiesen, daß Fleisch kein notwendiges Nahrungsmittel ist; außerdem ist Fleisch offensichtlich schwieriger zu produzieren als pflanzliche Nahrungsmittel, weniger angenehm zuzubereiten und zu handhaben sowie mit höherer Wahrscheinlichkeit verunreinigt. Aber was soll’s, solange es der stärkere Gaumenkitzler ist?«
(Upton Sinclair (2004): The Jungle (Erstveröffentlichung 1906). New York/London (Simon & Schuster), S. 417f.; Übersetzung durch »Die Kehre«)
In diesem zitierten Erfolgsroman sind bereits vor 115 Jahren Hauptargumente für eine vegetarische Lebensweise enthalten, die heute potenziert auftreten und längst breite Gesellschaftsschichten erreicht haben.
Seidel gelingt es auf eine bemerkenswerte Weise, das »menschliche Mitgefühl« ohne moralpolitische Zuspitzung als das zu beschreiben, was es ist: die Empfindung, das Leid eines anderen lebendigen Leibes mit mehr oder weniger Verstand wahrzunehmen und zu reflektieren:
Ein empfindender Mensch kann nicht emotionslos zusehen, wenn tausenden Haien im Akkord die Flossen abgeschnitten werden, wenn Millionen Fische in einem einzigen Treibnetz an Bord riesiger Tanker gespült und industriell in Windeseile verarbeitet werden, wenn ganze Schwärme an Singvögeln sich in Netzen verfangen oder auf Leimruten verenden, wenn Rinder, Schweine oder Schafe mit aller Gewalt in Schlachthäuser getrieben, wenn männliche Küken nach der Geburt vergast werden, wenn hunderttausende Hühner eng an eng unter einem einzigen Dach dahinvegetieren, und vielleicht noch nicht mal, wenn ein einzelner Fisch »verzweifelt« am Haken zappelt …
Seidel stößt dann zum Tötungsproblem vor. Man kennt das aus dem Alltagsgebrauch: »Ich esse nur, was ich auch selbst töten und verarbeiten könnte«, sagte mir mal ein junger rechter Vegetarier (mittlerweile: Veganer).
Der Autor dazu:
Der Schlacht- und Verarbeitungsprozeß wird nur von wenigen Menschen aktiv begleitet, er findet zwar im großen Stil, aber dennoch fast geheim statt. Kein Wunder, daß viele Menschen Ekel und Abscheu empfinden, wenn sie ihm dennoch einmal beiwohnen. Auch Kinder scheinen eine natürliche Abneigung zu spüren. Kurz: Wir fühlen bereits, daß etwas nicht stimmen kann,
was ohne Zweifel in besonderem Maße die zeitgenössische Form der Massentierhaltung, der industriellen Tötung und Verarbeitung anbelangt. Seidel gelingt es, Roger Scrutons Affirmation des Jagens und Schlachtens kritisch einzuordnen, wobei seine Schlußfolgerung, daß ethisches Handeln von tierischer Nahrung, sofern sie nicht tatsächlich zur unmittelbaren Lebenserhaltung notwendig sei, Abstand zu nehmen habe, sicherlich zur Diskussion reizt.
Aber auch wenn man die ethische Komponente beiseite wischt, verbleiben, stellt Seidel dar, ausreichend Argumente für eine fleischlose Ernährung. Das Argument, wonach Fleischkonsum zwingend für den menschlichen Körper sei, verwirft er:
Allein die Tatsache, daß hunderte Millionen Menschen im hinduistischen und buddhistischen Kulturraum seit vielen Jahrhunderten fleischlos leben, sollte genügen, dieses Argument zu widerlegen. Die moderne Wissenschaft komplementiert die Empirie auf überzeugende Art und Weise. Es ist dem Menschen nicht nur möglich, sondern in fast allen Fällen auch bekömmlich, auf tierische Nahrungsquellen zu verzichten. Das im Westen besonders beliebte rote Fleisch von Schwein und Rind gilt sogar als gesundheitlich bedenklich, wenn es regelmäßig genossen wird. Da Fleisch in der Regel erhitzt werden muß, unterliegt es zudem chemischen Veränderungen, die zunehmend als gesundheitsabträglich erkannt werden.
Auch die Wissenschaft empfiehlt mittlerweile eine vornehmlich vegetabilische, gemüseorientierte und oft rohe Kost, um etwa Zivilisationskrankheiten wie Diabetes, viele Krebsarten, Adipositas, Hypertonie etc. zu verhindern,
wenngleich ich intuitiv zurückschrecke vor Aussagen wie »die Wissenschaft empfiehlt«, da sie auch im ernährungsspezifischen Bereich ganz und gar kein Monolith darzustellen pflegt.
Zweifellos richtig liegt Seidel aber mit dem Hinweis auf diverse
Antibiotika, Hormone, Medikamente, Umweltgifte, die sich im Gewebe der Tiere in geringen Mengen ansammeln,
und
sich bei langjährigem Verzehr auch im Menschen summieren –
mit entsprechenden gesundheitlichen Folgeproblemen.
Seidel untersucht hernach ergiebig biologische, ökonomische, psychologische und umweltrelevante Aspekte des Vegetarismus; sein Zwischenfazit ist schonungslos:
Die Menschheit muß, will sie überleben, wohl weitflächig auf Pflanzennahrung umstellen.
Eine linke, eine grüne, eine linksgrüne Haltung? Nein, meint Seidel:
Die gesamte Ökologiebewegung steht aus ihrem Urimpuls heraus rechts, ist per definitionem konservativ, sie ist ein natürlicher Verbündeter des Vegetarismus.
Wie Jörg Seidel diese These begründet, ob er selbst Vegetarier (oder gar Veganer) ist, und welche Schlüsse er aus seinen vielschichtig angelegten Darlegungen zieht – das sollte jeder Leser selbst in Erfahrung bringen qua vergnüglicher und lehrreicher Lektüre der sechsten Ausgabe der Kehre.
(Einzelheft bestellen bei antaios.de oder abonnieren, vier Hefte pro Jahr, bei der Zeitschrift.)
Mitleser2
Die Rechte sollte Migration, Familienpolitik und Energieversorgung thematisieren.
Ob ausgerechnet die These, Vegetarismus sei eigentlich rechts, neue Wählerschichten erschließt, scheint mir sehr zweifelhaft. Hört sich eher nach Eigentor an. Man sollte nicht auf die Abschaffung der Currywurst in der VW-Kantine aufspringen.