Das betrifft bedauerlicherweise teils auch die AfD. Aus fast allen Landesverbänden, Ost wie West, einwohnerstark wie einwohnerschwach, hört man trotz des erheblichen Fleißaufwandes der Kernmannschaften und trotz geographischer Positivausreißer ähnliche Töne: »Die Luft ist irgendwie raus«, »Die Leute sind diesmal nicht so zu begeistern«, »Es fehlt ein Ziel«.
Das liegt natürlich bisweilen an hausgemachten Problemen – »Wofür erstreitet man denn potentielle Wählerstimmen: Für Abgänge in spe, Verräter im Wartestand?«, »Wie geht es weiter mit diesem Bundesvorstand?« etc. –, aber auch an der medial formidabel aufbereiteten Polarisierung zwischen einem vermeintlich bürgerlichen Lager um CDU/CSU und FPD einerseits und einem linksliberalen Lager um SPD und Grüne (sowie gelegentlich Linkspartei) andererseits.
Viele Blicke richten sich auf die diversen möglichen Koalitionskonstellationen; da bleibt die einzige tatsächliche Opposition im parlamentarischen Beritt wohl für so manchen einfach auf der Strecke.
Bereits jetzt kann man erste »Liberalkonservative« raunen hören, daß man diesmal – Augen zu und durch! – doch vielleicht besser Union oder FDP stärken sollte, um Rot-Grün-Rot zu verhindern, also das größere Übel. Aber ist es das?
Muß man wirklich immer wieder daran erinnern,
- daß in 52 von 72 Jahren BRD-Historie die Union die Geschicke des Landes verantwortete?
- daß es die Union war, die die vielbeschworene »Normalität« des kleinbürgerlichen Deutschlands aushebelte und eine Kampagne wie »Deutschland. Aber normal« erst sinnig werden ließ?
- daß es die Union war, die den Kampf gegen rechts entgrenzte?
- daß es die Union war, die die Grenzen nicht schloß im Sommer der Massenmigration und bis heute keine migrationspolitische Kehre folgen ließ?
- und daß es allerorten die Union ist, die der AfD die Türen verriegelt hat, um selbst noch restkonservative Stimmen absorbieren zu können, notfalls dann eben auch mit Alibi-Oppositionellen wie Hans-Georg Maaßen in Südthüringen?
Wäre hier ein rot-grün-roter Schock für die betont Bürgerlichen nicht eine heilsame Phase? Akzelerationismus auf den Parlamentsbetrieb bezogen: Wäre eine (weiterhin irreale!) Allianz aus Grünen, Sozialdemokraten und (radikalen) Linken nicht das, was diese Bundesrepublik und ihre Gesellschaft nach der Ära Merkel als logische Folge verdienten?
Wäre eine offene Linksallianz nicht jener parlamentspolitische Pendelschlag, der notwendig erscheint, um den folgenden Pendelschlag, den gesamtgesellschaftlichen Rechtsruck, hervorzurufen, der sicherlich nicht dann zu erwarten wäre, wenn »weitergewurstelt« werden darf im altbekannten CDU/CSU-Trott, sei der Koalitionspartner der schwarzen Dauerregierer nun rot, gelb – oder beides? Darüber läßt sich doch tatsächlich konstruktiv streiten.
Das Spiel der deutschsprachigen Leitmedien indes, als »Alternative« zur alternativlosen CDU-CSU-geführten Regierung die – ebenfalls in der Regierung befindliche! – SPD stark zu machen, ist offensichtlich, und selbst die erzliberale NZZ ist davor nicht gefeit.
Hansjörg Friedrich Müllers Beitrag ebendort (v. 24.8.2021) gibt einen guten Eindruck davon, daß man auch seitens »freisinniger« Politjournalisten eine tatsächliche Alternative nur im ohnehin Arrivierten zu erblicken imstande ist. »Scholz versucht mit Detailwissen zu glänzen« heißt es da im Hinblick auf eine Wahlveranstaltung in Ostwestfalen, und, beinahe pathetisch:
In Bielefeld bleibt er keine Antwort schuldig.
Doch dabei hat Müller durchaus recht, wenn er die Startbedingungen des SPD-Spitzenkandidaten in Erinnerung ruft:
Wer noch vor einigen Wochen gesagt hätte, Olaf Scholz habe realistische Chancen, nächster deutscher Kanzler zu werden, hätte allenfalls ungläubige, vielleicht auch mitleidige oder belustigte Blicke geerntet. Als die Sozialdemokraten den 63-Jährigen vor etwa einem Jahr als Kandidaten nominierten, schien es für die Partei vor allem um Schadensbegrenzung zu gehen,
wobei an die teils dilettantische Öffentlichkeitsarbeit von Saskia Esken und ihrer Entourage erinnert werden kann, die nur dadurch in Vergessenheit zu geraten scheint, da erstens die Medien nicht darauf herumreiten, zweitens die SPD eine bemerkenswerte Geschlossenheit suggeriert (und dabei medial nicht auf den Prüfstand gestellt wird), drittens die grüne Spitzenkandidatin Annalena Baerbock von Skandälchen zu Skandälchen taumelt und viertens der Merkel-Erbe Armin Laschet neue Rekorde der Unbeliebtheit einzufahren droht.
Müllers kurze Zusammenfassung ist demzufolge korrekt:
In den Umfragen lag die SPD lange Zeit auf dem dritten Platz hinter der Union und den Grünen, doch seit einigen Wochen holt sie auf: Platz zwei erscheint mittlerweile realistisch, Platz eins zumindest nicht mehr utopisch. Das ist nicht zuletzt Scholz’ Verdienst, es ist aber auch der Schwäche seiner Gegner geschuldet: Die Deutschen halten den SPD-Mann für deutlich kompetenter als Baerbock und Laschet.
Wäre es aber nicht die Aufgabe eines Reporters, auch kritisch nachzufassen und nicht nur distanzarm zu referieren? Müller berichtet:
Über die Lage in Afghanistan sei er [Scholz] traurig. Es sei zwar gelungen, die Kaida zu besiegen, doch eine wehrhafte Zivilgesellschaft sei dabei nicht entstanden. «Wir können nichts von aussen hereintragen, was in den Ländern selbst erkämpft werden müsste», erklärt er das Dilemma des Westens. Nun müsse den Flüchtlingen in den Nachbarländern geholfen werden. Um dies zu tun, habe Berlin bereits erste Mittel an das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen überwiesen,
wobei hier doch auch ein AfD-Ferner darauf verweisen könnte, daß Scholzens Statement wohlfeil ist: Seine Parteikollegen, und von denen ist Scholz abhängig, sprechen durchaus nicht davon, daß »den Flüchtlingen in den Nachbarländern [!]« unter die Arme gegriffen werden soll; dort träumt man schon von einem neuen Spätsommer der Migration nach Europa im allgemeinen und in die BRD im besonderen.
Aber kritische Verweise auf SPD-Positionen sind nicht die Sache des besagten Artikels; vielmehr wird Scholz einmal mehr geadelt:
Warum Scholz Erfolg hat, wird bei der Fragerunde klar, die sich an seine Rede anschliesst. Selbst bei abseitigen Themen offenbart der Kandidat eine geradezu beängstigende Dossiersicherheit,
was ihn dann in der Tat von Laschet unterscheidet, der selbst seinen eigentlich gut zu vermarktenden Ortstermin mit Elon Musk versemmelte.
Zumindest gegen Ende der Berichterstattung scheint es Müller zu dämmern, daß Scholzens Inszenierung eben auch dies sein könnte – eine Inszenierung:
Mit den Worten «Darüber könnte ich stundenlang reden» schliesst Scholz die Themenkomplexe häufig ab, so dass bei seinen Zuhörern der Eindruck zurückbleibt, er habe nur einen kleinen Teil seines immensen Wissens mit ihnen geteilt,
was ihn dann in der Tat von Baerbock unterscheidet, die selbst trivialste thematische Steilvorlagen versemmelte.
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So sieht übrigens, glaubt man dem Umfrageinstitut INSA, die aktuelle Situation bezüglich der Wahlkreisergebnisse aus. Man lasse sich nicht irritieren: Blau ist in diesem Fall die Union, schwarz die AfD, ansonsten ist alles beim alten.
Die AfD verteidigt, Stand jetzt, wohl nur noch die Direktmandate in Ostsachsen und gewinnt eines in Westsachsen; das stärkt die mögliche sächsische Sonderrolle in der Partei. Nur in Sachsen hat man neben dem Vorzeigeverband in Thüringen schließlich auch via Liste die realistische Chance, wenigstens in einem Bundesland die stärkste Kraft zu werden und die Altparteien hinter sich zu lassen ( – obwohl die beiden großen Zentren Leipzig und Dresden wie ihre westdeutschen Pendants ins Rot-Grüne abdriften).
2017 war ein landespolitisches Resultat dieser Besonderheit der Bundestagswahl, daß Ministerpräsident Stanislaw Tillich politisch beendet wurde; nicht wenige Sachsen würden sich vier Jahre später über eine ähnliche Verabschiedung des amtierenden Ministerpräsidenten Michael Kretschmer freuen – das ist doch eine Aussicht, für die sich der Wahlkampf bereits lohnt.
Was man jenseits des positiven Sonderfalles Sachsen im Vergleich zum Wahlergebnis von 2017 wahrnimmt, ist die sozialdemokratisierte norddeutsche und nordostdeutsche Situation. Ganz Brandenburg droht an die SPD zu fallen, selbst die Hochburgen der AfD in Südbrandenburg im Raum Cottbus sind längst rot eingefärbt.
Mecklenburg-Vorpommern bewahrt zwar insbesondere im Ostteil des Landes, Vorpommern, blaue, also Unions-geprägte Landstriche. Aber auch das kippt zunehmend: In einer brandaktuellen Umfrage zur ebenfalls 2021 stattfindenden Landtagswahl steht die SPD bereits bei landesweit 36 (!) Prozent, während AfD und CDU bei 17 bzw. 15 Prozent liegen, also extrem abgeschlagen sind. Zumindest in MV darf man davon ausgehen, daß auch Manuela Schwesig eine entscheidende Rolle für den Rot-Trend spielt.
Woher kommt aber ansonsten, über ein einwohnerschwaches Land wie Mecklenburg-Vorpommern hinaus, diese neue bundesdeutsche Lust an den Sozis? Neue Ideen sind es nicht, neue Köpfe sind es nicht, neue Strategien sind es nicht.
Ein Aspekt ist die auch Corona-spezifische Lust der Deutschen an Themenbereichen der sozialen Sicherheit; hier müßte die AfD ihren konstruktiven Programmansatz von Kalkar zwingend stärker popularisieren und propagandistisch endlich in den Fokus rücken: soziale und innere Sicherheit sind die beiden Stützthemen der Zukunft.
Die SPD-Hohenflüge dürften, davon abgesehen, vor allem aber auch an der Konzeptlosigkeit der Union liegen; ferner daran, daß das Gros jener Wähler des Establishmentblocks, die mit der Union unzufrieden sind, eben nicht nach einer grundsätzlichen Alternative Ausschau halten, sondern innerhalb des herrschenden Blocks zu wechseln beabsichtigen.
Das heißt: Wer Establishment wählt, wählt es wieder; von der Merkel-CDU zur Sozialdemokratie ist der Weg ein kurzer. Die AfD wird andere Wählerpotentiale zu bearbeiten haben, und wenn es ihr gelingen sollte, ihr eigenes 8‑Prozent-Stammwählerreservoir zu bewahren und 3–4 Prozent Wechsel- sowie bisherige Nichtwähler zu aktivieren, wird man in diesem Jahr mit der entsprechenden Ausbeute schon zufrieden sein müssen.
Niekisch
"Bereits jetzt kann man erste »Liberalkonservative« raunen hören, daß man diesmal – Augen zu und durch! – doch vielleicht besser Union oder FDP stärken sollte, um Rot-Grün-Rot zu verhindern,"
Und wie viele erst werden es ohne Vorankündigung tun? Hier ändert sich nichts außer dass es noch viel schlimmer kommt.