Christoph Stedings Kampf gegen die Neutralisierung des Reiches

von Armin Mohler

PDF der Druckfassung aus Sezession 98/ Oktober 2020

Es gibt eine bestimm­te Art von eigen­wil­li­gen Autoren, an denen sich die Geis­ter schroff schei­den: Sie wer­den von den einen gleich als Spin­ner abge­tan – für die andern sind sie ver­dienst­vol­le Bahn­bre­cher; ver­mit­teln­de Urtei­le zwi­schen die­sen bei­den Extre­men sind auf­fal­lend sel­ten. Unser von Kri­sen geschüt­tel­tes Jahr­hun­dert hat eine gan­ze Rei­he sol­cher irri­tie­ren­der Den­ker, Red­ner und Schrei­ber her­vor­ge­bracht. Ein beson­ders kras­ser Fall ist der früh ver­stor­be­ne nie­der­säch­si­sche Bau­ern­sohn Chris­toph Ste­ding (1903 – 1938).

Von dem auf Maß und Form bedach­ten Fried­rich Georg Jün­ger ist ihm der Spitz­na­me »nor­di­scher Rie­sen­platt­fuß« ver­paßt wor­den. Für den mit unge­dul­di­ger Wit­te­rung geseg­ne­ten Carl Schmitt war Ste­dings Wäl­zer Das Reich und die Krank­heit der euro­päi­schen Kul­tur von gro­ßer Bedeu­tung – ein im Novem­ber 1938, zehn Mona­te nach des Autors Tod, in der Han­sea­ti­schen Ver­lags­an­stalt Ham­burg erschie­ne­ner Band. Schmitt bezeich­ne­te ihn in sei­nem Freun­des­kreis als »das intel­li­gen­tes­te Buch aus dem Umkreis des Natio­nal­so­zia­lis­mus« (ande­re woll­ten sogar gehört haben, daß es für Schmitt das »ein­zi­ge intel­li­gen­te Buch« jener Her­kunft gewe­sen sei).

Der bereits mit 35 Jah­ren einem Nie­ren­lei­den erle­ge­ne Ste­ding ist ein typi­scher Ein-Buch-Autor. Sei­ne 1932 bei Korn in Bres­lau erschie­ne­ne Mar­bur­ger Dis­ser­ta­ti­on vom Som­mer 1931, Poli­tik und Wis­sen­schaft bei Max Weber, ist noch das Pro­dukt eines Ori­en­tie­rung Suchen­den – sie zählt kaum neben dem Haupt­werk. Und die­ses Haupt­werk selbst nennt der Ste­ding-Bewun­de­rer Carl Schmitt einen »genia­len Tor­so … das Gan­ze wirkt mehr wie der ers­te Wurf zu einem zyklo­pi­schen Bau als wie eine gut durch­kon­stru­ier­te Archi­tek­tur.« Die­se Struk­tur ent­spricht dem Zustand der Druck­vor­la­ge. Bei Ste­dings jähem Tod in der Nacht vom 8. zum 9. Janu­ar 1938 lag nur die 48 Druck­sei­ten star­ke Ein­lei­tung druck­fer­tig vor, in wel­cher der Autor sei­ne The­sen zusam­men­faßt. Der Rest des Manu­skrip­tes bestand aus einem unge­ord­ne­ten Berg von Blät­tern mit ers­ten Nie­der­schrif­ten, ohne Zusam­men­hang unter­ein­an­der und noch kaum bear­bei­tet. Dar­aus mach­te ein zwei Jah­re jün­ge­rer His­to­ri­ker das Buch, das uns vorliegt.

Die­ser Ko-Autor war Wal­ter Frank (1905 – 1945), von 1935 bis Ende 1941 Lei­ter des von ihm geschaf­fe­nen »Reichs­in­sti­tut für Geschich­te des neu­en Deutsch­lands« in Ber­lin, als Ver­fas­ser früh erfolg­reich durch so kühn wie fun­diert geschrie­be­ne zeit­ge­schicht­li­che Bücher (1928 über die Stoe­cker-Bewe­gung, 1933 über das Frank­reich der Drey­fus-Affä­re), ohne Mit­glied­schaft in der NSDAP (poli­tisch eher Anhän­ger Luden­dorffs), seit 1941 in Ungna­de, Jah­re vol­ler Posi­ti­ons­kämp­fe und Intri­gen, nach dem Ein­marsch der Ame­ri­ka­ner in Bay­ern am 9. Mai 1945 Selbstmord.

Chris­toph Ste­ding und Wal­ter Frank lern­ten sich Ende 1935 ken­nen und ent­deck­ten ihre Geis­tes­ver­wandt­schaft; im Früh­jahr 1936 zog ­Ste­ding mit sei­ner Fami­lie von Nie­der­sach­sen nach Ber­lin um. In dem damals Kon­tu­ren anneh­men­den Rin­gen der Mäch­te um die Hege­mo­nie war für Frank das Buch, an dem sein Freund arbei­te­te, min­des­tens eben­so wich­tig wie Pan­zer­re­gi­men­ter; für ihn soll­te Ste­ding die Gal­li­ons­fi­gur in dem vom Reichs­in­sti­tut geführ­ten Kampf gegen die an den Uni­ver­si­tä­ten immer noch den Ton ange­ben­de libe­ra­le Geschichts­schrei­bung wer­den. Franks Ant­wort auf den Tod sei­nes Freun­des, sei­nes Idols, ent­sprach dem vol­un­t­a­ris­ti­schen Grund­zug und Stil von Situa­ti­on und Epo­che: Er schloß sich vom Juni bis Sep­tem­ber 1938 ein, um jenen wir­ren Berg von losen Blät­tern mit Hil­fe von Sche­re, Kleis­ter, glie­dern­den Ober- und Unter­ti­teln zu einem Buch zurecht­zu­stut­zen, das noch im Ster­be­jahr Ste­dings erschei­nen konn­te – mit einem lan­gen Frank­schen Text »Chris­toph Ste­ding. Ein Denk­mal«, der den Leser in die Lek­tü­re ein­stim­men sollte.

Das Pro­dukt beur­teilt Carl Schmitt so: »Infol­ge­des­sen ist vie­les frag­men­ta­risch, unsys­te­ma­tisch und sub­jek­ti­vis­tisch, ja sogar impres­sio­nis­tisch (für Schmitt eines der schlimms­ten Schimpf­wor­te! A. M.); Abschwei­fun­gen und Wie­der­ho­lun­gen, blo­ße Ein­fäl­le und Aus­fäl­le, Wich­ti­ges und weni­ger Wich­ti­ges ste­hen neben­ein­an­der …« Und doch ist Ste­dings »nach­ge­las­se­nes Buch« für Schmitt ein Werk, »des­sen Hori­zont und Dimen­sio­nen, des­sen Ent­schei­dungs­kraft und Gedan­ken­fül­le Stau­nen erre­gen muß«.

Eben­so nach­denk­lich wie die­se Mah­nung des gro­ßen Rechts­leh­rers, es sich mit Ste­ding nicht zu leicht zu machen, stimmt das Fak­tum, daß Ste­dings Wäl­zer, der doch von sei­nen Lesern eini­ge Anstren­gun­gen erfor­der­te, ein aus­ge­spro­che­ner Publi­kums­er­folg war: Er brach­te es auf fünf Auf­la­gen. 1942 erschien die drit­te Auf­la­ge mit 3000 Stück, 1943 die vier­te mit 5000 Stück, 1944 eine fünf­te Auf­la­ge; par­al­lel dazu lief in der für Feld­post-Sen­dun­gen geschaf­fe­nen Han­sea­ten-Büche­rei noch ein Aus­zug aus dem Buch unter dem Titel Das Reich und die Neu­tra­len.

Dabei konn­ten sich die bei­den Ver­öf­fent­li­chun­gen kei­nes­wegs einer unein­ge­schränk­ten För­de­rung durch den offi­zi­el­len Pro­pa­gan­da-Appa­rat erfreu­en. Ste­dings Zuord­nung zum Natio­nal­so­zia­lis­mus durch Carl Schmitt muß von des letz­te­ren Stand­ort her ver­stan­den wer­den. Wer zwi­schen Natio­nal­so­zia­lis­mus und Kon­ser­va­ti­ver Revo­lu­ti­on unter­schei­det, muß Ste­ding dem zwei­ten Bereich zurech­nen. Die Han­sea­ti­sche Ver­lags­an­stalt war eine rei­ne kon­ser­va­tiv­re­vo­lu­tio­nä­re Domä­ne, und Ste­dings Buch geriet denn auch bald, zusam­men mit Wal­ter Frank und des­sen Reichs­in­sti­tut, in den Stru­del der auch im Drit­ten Reich übli­chen Ausgrenzungen.

Was mach­te – ent­ge­gen den erwähn­ten Behin­de­run­gen – die beson­de­re Viru­lenz des Ste­dingschen Wäl­zers aus? Wer die­ses Buch über Das Reich und die Krank­heit der euro­päi­schen Kul­tur heu­te in die Hand nimmt, spürt die­sen Antrieb noch immer – als ob der Fall der Mau­er ihn reak­ti­viert habe. In einer Situa­ti­on, in der Fuku­ya­ma die Welt­herr­schaft des Libe­ra­lis­mus pro­kla­miert, liest man mit gespitz­ten Ohren, was ein Ein­zel­gän­ger wie Ste­ding vor einem Halb­jahr­hun­dert über die ent­po­li­ti­sie­ren­de und damit exis­tenz­be­dro­hen­de Wir­kung eben die­ses Libe­ra­lis­mus gesagt hat.

Zugleich merkt man, daß es sich um eine Kri­tik des Libe­ra­lis­mus von innen her han­delt: Ste­ding kann nicht ver­heim­li­chen, daß er den Libe­ra­lis­mus mit allen Poren auf­ge­so­gen hat­te, dem Bau­ern­bur­schen in der Groß­stadt gleich, und ihn nun in einer Gewalt­kur wie­der aus­schwit­zen möch­te. Das ver­schafft sei­nem Buch, bis in den Schreib­stil hin­ein, sei­ne Dyna­mik, ja sogar eine mani­sche Intensität.

Offen­sicht­lich geht Ste­dings Buch auf ein Erwe­ckungs­er­leb­nis zurück. Von 1922 an stu­dier­te er an ver­schie­de­nen Uni­ver­si­tä­ten; sei­ne Fächer waren Phi­lo­so­phie, Geschich­te, Ger­ma­nis­tik und Geo­gra­phie, spä­ter kamen noch Volks­kun­de und sogar Indo­lo­gie hin­zu. Mit­te der 1920er Jah­re kris­tal­li­sier­te sich als For­schungs­schwer­punkt der Ver­such einer ver­glei­chen­den Kul­tur­ge­schich­te Javas her­aus. Gegen Ende der 1920er Jah­re kam es dann zu einem Schock. Eines Tages muß Ste­ding jäh die Ein­sicht befal­len haben, wie gro­tesk es doch sei, wenn in einer Zeit, in der sich, für jeden erkenn­bar, exis­tenz­be­dro­hen­de Gewit­ter um Deutsch­land zusam­men­ge­zo­gen, ein jun­ger Deut­scher sich aus­ge­rech­net mit – Java beschäf­tig­te. Aus heu­ti­ger Sicht ist das Erstaun­li­che dar­an, daß die­ser Schock Ste­ding nicht, wie so vie­le ande­re, in der Arme Hit­lers trieb.

Aus Gesprä­chen mit Ste­ding, aus des­sen hin­ter­las­se­nen Papie­ren, kann Frank das Geschichts­bild des Freun­des genau umrei­ßen. Für Ste­ding war sei­ne Hei­mat , »das nie­der­säch­si­sche Bau­ern­land«, seit dem Sturz der Han­se » ohne Stun­de und ohne Zeit«, also »geschichts­los«, »unpo­li­tisch«, »neu­tral«: »Die gro­ße Geschich­te und die gro­ße Poli­tik schien an dem ›ver­in­ner­lich­ten‹ und ›ein­ge­haus­ten‹ Raum Nie­der­sach­sens vor­über­ge­gan­gen sein. Erst mit dem Jah­re 1866 drang sie wie­der ein.« Das ist nicht bloß mili­tä­risch gemeint. Für Frank zeugt Ste­ding für Preu­ßens »alte Macht, gera­de aus dem außer­preu­ßi­schen Raum stärks­te Geis­ter und See­len an sich zu zie­hen und zu Herol­den sei­nes Ruh­mes zu machen«.

In die­sen Rah­men paßt sich Ste­dings Per­sön­lich­keits­bild vor­züg­lich. Für ihn gab es kein »frucht­ba­res Cha­os«; jeder Bezug auf das Cht­ho­ni­sche lag ihm fern. Bau­ern sind oft viel nüch­ter­ner als sie im Roman oder im Film dar­ge­stellt wer­den. Ins­be­son­de­re ein Bau­ern­sohn wie Ste­ding, dem als Ältes­ter der alte Hof zuge­dacht war, der aber als ers­ter in lan­ger Gene­ra­ti­ons­li­nie aus­brach und sich zu einer Intel­lek­tu­el­len­exis­tenz ent­schied (und dabei sei­ne Fami­lie offen­sicht­lich hin­ter sich hatte).

Hegel und Bis­marck sind für Ste­ding »die bedeu­tends­ten Deut­schen des 19. Jahr­hun­derts.« Mit die­sen bei­den Namen will er sagen, »wel­che Mög­lich­kei­ten die­ses wun­der­ba­re Volk in sich birgt, wenn sich schwei­fend, aus­schwei­fen­der Geist, der Geist Höl­der­lins, durch die eiser­nen Klam­mern eines Staa­tes zusam­men­ge­hal­ten wird.« Die­se Visi­on ist der­je­ni­gen des Natio­nal­so­zia­lis­mus recht fern, des­sen Dyna­mik ja der Dicho­to­mie von Volk und Staat (respek­ti­ve Bewe­gung und Staat) ent­springt. Die Hit­ler-Bewe­gung ent­stand im Volks­tums-Kampf von Süd­ost-Euro­pa; die Front­stel­lung gegen den Viel­völ­ker­staat der Habs­bur­ger ließ in ihr kein unbe­fan­ge­nes Ver­hält­nis zum Staat auf­kom­men (auch wenn Hit­ler sich dann der Res­te des preu­ßi­schen Staats­ap­pa­ra­tes durch­aus zu bedie­nen wuß­te). Dem Nie­der­sach­sen Ste­ding hin­ge­gen muß­ten völ­ki­sche Über­le­gun­gen fremd sein.

Wal­ter Frank ver­tei­dig­te die­se Abs­ti­nenz sei­nes Schütz­lings im Kon­text von 1938 aus­führ­lich: »In jenem bäu­er­li­chen Raum Nie­der­sach­sens dage­gen, der in ganz Deutsch­land den stärks­ten Pro­zent­satz ger­ma­nisch-nor­di­schen Blu­tes besitzt«, sei die völ­ki­sche Sub­stanz nicht unmit­tel­bar bedroht. Die eigent­li­che Gefahr für die­sen Stamm sei nicht die Über­frem­dung, son­dern die Neu­tra­li­tät, die defi­niert wird als »die Flucht aus der Welt­ge­schich­te in die all­zu enge Sippengebundenheit«.

Damit sind wir bei der Fra­ge, die der eigent­li­che Antrieb zu Ste­dings Buch war: Wie konn­te es zur Ablö­sung der »ger­ma­ni­schen Rand­staa­ten« vom Reich kom­men, und wes­halb ent­wi­ckel­ten sie sich zu aus­ge­spro­che­nen »Reichs­fein­den«? Chris­toph Ste­ding woll­te es genau wis­sen. Mit­ten in der Welt­wirt­schafts­kri­se mach­te er sich – mit Bei­hil­fe eines glück­lich ergat­ter­ten Sti­pen­di­ums der Rocke­fel­ler-Stif­tung – auf zu einer Stu­di­en­rei­se, die sich, mit klei­ne­ren Unter­bre­chun­gen, über zwei­ein­halb Jah­re hin­zog. Objek­te die­ser »Feld­for­schung« waren die um das Reich gela­ger­ten neu­tra­len Staa­ten ger­ma­ni­scher Prä­gung, und zwar auch die skan­di­na­vi­schen, die dem Reich nie zuge­hört hatten.

Die Rei­se begann in Basel, das in Ste­dings Buch zu einer Art von gehei­mer Gegen-Reichs­haupt­stadt sti­li­siert wird. Ste­ding hielt sich dort vom Okto­ber 1932 bis zum März 1933 auf. Die nächs­ten Sta­tio­nen waren: von März bis Mai 1933 in Zürich, Bern, Genf; von Juni bis Okto­ber 1933 in Lei­den und Den Haag. Im Win­ter 1933 / 34 setz­te er sich zuhau­se an den Schreib­tisch und schrieb wei­ter an sei­nem 1931 begon­nen Kampf­buch gegen den Libe­ra­lis­mus und des­sen neu­tra­li­sie­ren­den Wir­kun­gen. Im Mai 1934 bricht Ste­ding erneut auf, dies­mal nach Skan­di­na­vi­en; die wich­tigs­ten Auf­ent­hal­te sind Kopen­ha­gen, Oslo, Upp­sa­la, Stock­holm, Hel­sin­ki. Im April 1935 end­gül­ti­ge Rück­kehr nach Deutsch­land. Ste­ding arbei­tet von nun an bis zu sei­nem Tod im Janu­ar 1938 an sei­nem Opus magnum.

Durch Zufall habe ich Ein­blick in die Arbeits­me­tho­de Ste­dings bekom­men. Als ich in den ers­ten Nach­kriegs­jah­ren vor einem um eine Gene­ra­ti­on älte­ren Bas­ler His­to­ri­ker den Namen Ste­ding fal­len ließ, guck­te der Herr ver­wun­dert und zog mich dann in eine Ecke. Es stell­te sich her­aus, daß er sich als Stu­dent mit Ste­ding wäh­rend des­sen Bas­ler Auf­ent­halts ange­freun­det hat­te und ihn dann jah­re­lang mit Zei­tungs­au­schnit­ten aus der Bas­ler Lokal­pres­se belie­fer­te. Der His­to­ri­ker prä­zi­sier­te: »Ver­wun­der­lich war, daß sich Ste­ding nicht bloß für die loka­le Poli­tik und die poli­ti­schen Stim­mun­gen im Lan­de inter­es­sier­te – er bat auch aus­drück­lich um Aus­schnit­te über kul­tu­rel­le Ereig­nis­se und die wirt­schaft­li­che Entwicklung.«

Man sieht: Chris­toph Ste­ding, der für sei­ne Per­son der Kul­tur­ge­schich­te abge­schwo­ren hat und die Wie­der­her­stel­lung des Pri­mats der Gro­ßen (der poli­ti­schen) Geschich­te for­dert, ver­zich­tet nicht auf das Instru­ment der Kul­tur­ge­schich­te – viel­mehr setzt er es mit Lust ein bei sei­ner Unter­su­chung, wes­halb die neu­tra­len Län­der rund um Deutsch­land her­um so aus­ge­spro­che­ne »Reichs­fein­de« gewor­den sind. Schon der Buch­ti­tel Das Reich und die Krank­heit der euro­päi­schen Kul­tur ist eine Her­aus­for­de­rung für jeden Libe­ra­len. Die Krank­heit besteht ja für Ste­ding gera­de im Feh­len des »Rei­ches«. Krank ist für ihn die euro­päi­sche Kul­tur im Zeit­al­ter des Libe­ra­lis­mus inso­fern, als sie in die­ser Reichs­ver­ges­sen­heit zu einer Nur-Kul­tur gewor­den ist – zu einer »blo­ßen Kul­tur«, die auf Abruf lebt bis auf höhe­rer Ebe­ne von ande­ren Instan­zen ent­schie­den wor­den ist, ob die­ses Euro­pa über­haupt wei­ter­be­stehen wird.

Ste­ding ver­fügt über ein rei­ches Arse­nal an Invek­ti­ven, mit denen er die­se »Kor­rup­ti­on der Instink­te« denun­ziert, die »Läh­mung der Mit­te Euro­pas«, die seit dem Drei­ßig­jäh­ri­gen Krieg mehr und mehr der Deka­denz den Weg bahnt. Die­se Deka­denz nimmt Ste­ding vor allem die Form der Neu­tra­li­sie­rung an: Die Tätig­keit des Men­schen wird auf Belang­lo­sig­kei­ten abge­lenkt, um ihn am Anpa­cken der wirk­lich dring­li­chen Auf­ga­ben zu hin­dern; die sofor­ti­ge Befrie­di­gung der pri­va­ten Wün­sche, der Kon­sum flüch­ti­ger Genüs­se und lee­rer All­ge­mein­hei­ten erhal­ten den Vor­rang vor dem Bau dau­er­haf­ter, auch Geist und See­le befrie­di­gen­der Strukturen.

Kenn­zeich­nend ist die von Ste­ding vor­ge­nom­me­ne Stig­ma­ti­sie­rung jenes Nord­deut­schen, der in unse­rem Jahr­hun­dert das Irra­tio­na­le am über­zeu­gends­ten in sein Denk­sys­tem ein­be­zo­gen hat: Lud­wig Kla­ges. Daß Kla­ges schon gleich nach dem Ers­ten Welt­krieg in die Schweiz über­sie­del­te, ist für Ste­ding eine sozu­sa­gen geo­gra­phi­sche Bestä­ti­gung der geis­ti­gen Ein­stu­fung: Für ihn ist Kla­ges genau­so ein »Reichs­feind« wie der Schwei­zer Karl Barth mit sei­ner doch recht blut­fer­nen dia­lek­ti­schen Theologie.

Übri­gens hät­te der Hann­no­ve­ra­ner Kla­ges auch dann in Ste­dings Sys­tem gepaßt, wenn er, statt an den Zürich­see bloß an den Titi­see ver­zo­gen wäre. Ste­dings Buch erhält näm­lich sei­ne beson­de­re Dyna­mik durch eine geo­gra­phi­sche Poin­te. Es gibt für ihn nicht nur die Ket­te der neu­tra­len Staa­ten von der Schweiz über Hol­land bis nach Skan­di­na­vi­en, die mit ihrer Reichs­feind­lich­keit das Deut­sche Reich umla­gern. Das ist für Ste­ding nur »der äuße­re Neu­tra­li­sie­rungs­ring«. Der »inne­re Neu­tra­li­sie­rungs­ring« zieht sich spie­gel­bild­lich dazu inner­halb der Reichs­gren­zen von 1937 ent­lang. Die­ser inne­re Ring ist, im Gegen­satz zu den offe­nen Reichs­fein­den von Basel bis Kopen­ha­gen, die Zone, in der eher ver­deck­te Reichs­fein­de agie­ren. Die eigent­li­che Viru­lenz­stre­cke ist die der Uni­ver­si­täts­städ­te Frei­burg im Breis­gau – Hei­del­berg – Frank­furt am Main – Bonn – Köln. Was der für Städ­te die­ser Art beson­ders emp­find­li­che Ste­ding über sie an signi­fi­kan­ten Details zusam­men­trägt, läßt fast hin­ter jeder bereits ein Basel in Potenz (oder allen­falls ein Zürich) aufleuchten.

Wer ein­mal von Ste­dings Buch berührt war und es nun nach etli­chen Jahr­zehn­ten wie­der zur Hand nimmt, ist nicht gegen die Ver­su­chung gefeit, beim Refe­rie­ren in einen iro­ni­schen Ton zu ver­fal­len. Aus Distanz wird deut­li­cher spür­bar, was Ste­ding ver­zerrt, was er gewalt­sam zurecht­biegt. Schon in der im Drit­ten Reich geführ­ten Dis­kus­si­on um Ste­dings Buch wur­de dar­auf hin­ge­wie­sen, daß es ja nicht bei den bei­den Neu­tra­li­sie­rungs­rin­gen, dem äuße­ren und dem inne­ren, blei­be. Ange­sichts der lan­gen Rei­he der zum natio­na­len Erbe gerech­ne­ten Män­ner, die nun plötz­lich von Ste­ding der Reichs­feind­schaft bezich­tigt wür­den, ange­fan­gen bei Nietz­sche, Lang­behn, Ste­fan Geor­ge – ange­sichts die­ser Rei­he fra­ge es sich, ob es über­haupt eine deut­sche Land­schaft gebe, die nicht der Reichs­feind­lich­keit bezich­tigt wer­den kön­ne. Ein Witz­bold brach­te das damals auf die For­mel: Für Ste­ding fin­det sich auf der Kar­te des Rei­ches bloß ein ein­zi­ger klei­ner Fleck, der weiß und sau­ber ist. Dort kann man lesen: Pots­dam – Hegel …

Läßt sich Ste­ding eher an sei­nen Fein­den fest­ma­chen? Auch das hilft nicht wei­ter. Denn wie steht es mit den bei­den Per­so­nen­grup­pen, aus denen die offi­zi­el­len Autoren des Drit­ten Rei­ches übli­cher­wei­se ihre Fein­de bezo­gen? Die Frei­mau­rer kom­men bei Ste­ding, wenn mich die Erin­ne­rung nicht täuscht, über­haupt nicht vor. Die Juden tre­ten bei ihm, nega­tiv belegt, auf, aber sie schei­nen ihm nicht wich­tig zu sein; sie sto­ßen eben in ein Vaku­um, das ande­re geschaf­fen haben. Die­se Stel­len bei Ste­ding wir­ken so auf­ge­setzt, daß man sich fragt, ob da Bear­bei­ter Frank nicht nach­ge­hol­fen haben könn­te. So abwe­gig ist das nicht, da Frank aus dem Text sei­nes Freun­des eine Rei­he von Stel­len ent­fern­te, die für die Natio­nal­so­zia­lis­ten beson­ders schmerz­haft gewe­sen wären. Wie­so soll­te er da nicht auch Ali­bi-Stel­len ein­ge­fügt haben zum Aus­gleich für so viel nicht in General­linie Pas­sen­des, was in dem Buch immer noch zu fin­den ist? Wo in Ste­dings Text Voka­beln wie »Aus­mer­zung« und »Liqui­die­rung des Wider­stan­des« zu fin­den sind, bei wel­chen wir heu­te wie Paw­low­sche Hun­de zusam­men­zucken, rich­tet sich das ein­deu­tig gegen ger­ma­ni­sche Rassengenossen.

Der Ste­dingsche Teil des Buches beginnt mit dem Satz: »Die Geschich­te Euro­pas stand seit der fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on im Zei­chen eines Rück­zu­ges der Ger­ma­nen aus der Welt­ge­schich­te.« Die Nicht­ger­ma­nen kom­men jedoch im Grun­de bei Ste­ding gar nicht vor, sie inter­es­sie­ren ihn nicht mehr, Javas Zau­ber hat sich ver­flüch­tigt. Jener Rück­zug ist für ihn nur eine inter­ne Ange­le­gen­heit der ger­ma­ni­schen Völ­ker­fa­mi­lie. Damit sind wir bei einem Kern­punkt von Ste­dings Sys­tem ange­langt. Des­sen Koor­di­na­ten sind nicht leicht nach­zu­zie­hen, weil er ein Autor ist, der nach dem Leit­satz vor­geht: »Kei­ne Erschei­nung eines Zeit­al­ters steht für sich, son­dern eine bedingt die ande­re und umge­kehrt.« Läßt in der Mit­te Euro­pas die reichs­bil­den­de Kraft der Deut­schen nach, so wen­den sich ande­re ger­ma­ni­sche Völ­ker oder Volks­tei­le nach außen oder nach innen ab: »ent­we­der sich ein­hau­send wie z. B. die Schweiz, oder nach frem­den Län­dern und Mee­ren grei­fend wie die Nie­der­lan­de oder England.«

Ste­ding bewun­dert den »Blick, der Erd­tei­le umfaßt«, aber erkennt auch die Gefahr des Ver­si­ckerns in der Fer­ne. Ein puri­ta­ni­scher Ton läßt sich bei die­sem Nord­deut­schen nicht über­hö­ren. Er ver­ach­tet das »den sieg­rei­chen Ideen West­eu­ro­pas zuge­ord­ne­te Euro­pa, das äußer­lich im mate­ri­el­len Wohl­stand leb­te und dem­ge­mäß an der Hei­lig­keit der Ver­trä­ge beson­ders inter­es­siert war«, jedoch in Wahr­heit »im aller­größ­ten Unbe­ha­gen« lebe. Die­sen nie­de­ren Lei­den­schaf­ten stellt Ste­ding die Reichs­lei­den­schaf­ten der Deut­schen gegen­über, die der Mei­nung sei­en, über »das eigent­li­che Grund­ge­setz, die eigent­li­che Ver­fas­sung Euro­pas am bes­ten Bescheid zu wis­sen«. Die­sen »Anspruch der deut­schen Welt« führt Ste­ding dar­auf zurück, »daß sie von Gott in einer ganz beson­de­ren Wei­se durch unend­li­ches Lei­den prä­pa­riert und reif gemacht wor­den ist, um die tiefs­ten Bli­cke in das Gefü­ge unse­rer Welt tun zu können«.

Die­ser wahr­haft mes­sia­ni­sche Anspruch hat Ste­ding wohl, trotz sei­ner Prä­dis­po­si­ti­on, vor puri­ta­ni­scher Erstar­rung bewahrt. Ein schö­nes Bei­spiel dafür ist, wie locker er, trotz sei­ner Bewun­de­rung für Bis­marck, mit dem Zwei­ten Reich umgeht. Es konn­te »nur Stu­fe, nicht Ziel« sein: Wider­stand gegen die »wil­hel­mi­ni­sche Ver­här­tung Deutsch­lands« sei nötig gewe­sen, um es nicht »den Hän­den des tra­di­ti­ons­lo­sen kapi­ta­lis­ti­schen Bour­geois oder des sich ver­här­ten­den oder erwei­chen­den, am Ende sei­ner Zeit ste­hen­den Adels« zu über­las­sen. Und was Ste­ding anschlie­ßend in vor­sich­ti­gen Wor­ten über das natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Deutsch­land sagt, läßt erken­nen, daß er auch im Drit­ten Reich »nur Stu­fe, kein Ziel« sehen kann.

Am nächs­ten kommt man Ste­ding wohl, wenn man sei­ne Auf­fas­sung der Krank­heit als einer oft not­wen­di­gen Gei­ßel ernst nimmt. Beim Nie­der­schrei­ben sei­nes Buches sieht er aller­dings einen Punkt erreicht, wo sie nur noch Las­ter ist: »Wenn die Krank­heit Euro­pas, ins­be­son­de­re die Krank­heit der ger­ma­ni­schen Welt, bis­her Schick­sal, Ver­häng­nis, von Gott gesand­te Not war, der man nicht ent­rin­nen konn­te, wenn Krank­heit über­haupt gele­gent­lich ein Segen für ein Volk wie für den Ein­zel­nen ist, weil sie bewah­rend wir­ken kann und ver­hin­dert, daß Volk oder Ein­zel­ne sich vor­ei­lig in ›Geschäf­te‹ hin­ein­stür­zen, die die See­le rau­ben kön­nen – so ist doch heu­te eine Stu­fe erreicht, wo die Lösung, Kathar­sis, Wen­dung, Stro­phe oder Kata­stro­phe kom­men muß. Die Krank­heit Euro­pas wird jetzt Krank­heit zum Tode oder Krank­heit zum Leben.« So Ste­ding spä­tes­tens 1937.

Der Schrei­ben­de hat ein kom­ple­xes Ver­hält­nis zu Ste­dings Buch. Einer­seits war das Buch für ihn als Bas­ler schmei­chel­haft, weil es, immer­hin, die Vater­stadt zu einer Art Kon­tra­punkt zum Reich sti­li­siert. Ande­rer­seits trug das­sel­be Buch vor vier Jahr­zehn­ten zu mei­nem Ent­schluß bei, aus mei­ner Schwei­zer Hei­mat aus­zu­wan­dern. Inzwi­schen hat mich das, wovor ich floh, in der Bun­des­re­pu­blik wie­der ein­ge­holt. Die von Ste­ding so scharf her­aus­ge­hol­te schwei­ze­ri­sche Form der Neu­tra­li­sie­rung, Selbst­ge­rech­tig­keit und Kult der Mit­tel­mä­ßig­keit, ist inzwi­schen auch zum domi­nan­ten Lebens­ziel der Gesell­schaft gewor­den, in der ich heu­te lebe. Und es ist bis­her nicht abzu­se­hen, ob die Ereig­nis­se seit dem Novem­ber 1989 dar­an etwas zu ändern vermögen.

Sol­che gegen­läu­fi­gen Erfah­run­gen machen Mut, das geo­gra­phi­sche Ske­lett des hier bespro­che­nen Buches nicht zu ernst zu neh­men. Viel­leicht war es für sei­nen Ver­fas­ser nur ein Werk­zeug, um in einen das Herz bedrän­gen­den und über­flu­ten­den Stoff etwas Ord­nung zu brin­gen. Ver­mut­lich ist das Stück, das Ste­ding in sei­nem Buch auf die Chö­re ver­schie­de­ner Lands­mann­schaf­ten ver­teil­te, ein Dra­ma, das sich in Wirk­lich­keit seit über hun­dert Jah­ren in Geist und See­le des ein­zel­nen Deut­schen abspielt.

Ste­dings ein­fühl­sa­mer Freund Wal­ter Frank weist in sei­ner Ein­füh­rung dar­auf hin, daß Ste­ding selbst für den »berü­cken­den Zau­ber« des ster­ben­den Libe­ra­lis­mus, für des­sen »tau­send­fa­ches Sprü­hen der Lich­ter wie in der moder­nen Groß­stadt, sei­nem urei­gens­ten Kin­de« durch­aus emp­fäng­lich war. Das war aber auch der Grund, wes­halb Chris­toph Ste­dings Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Libe­ra­lis­mus nicht bloß ein simu­lier­ter Schau­kampf war, nach dem man sich zum Abschmin­ken in die Gar­de­ro­be begibt. Man spürt das sei­nem Buch noch heu­te an – es ist, trotz aller Ein­sei­tig­kei­ten und Erhit­zun­gen, eine auf­re­gen­de Lek­tü­re geblieben.

 

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