Staat und Recht und Isländersaga

von Günter Scholdt

PDF der Druckfassung aus Sezession 98/ Oktober 2020

Die geis­ti­ge Stick­luft im gegen­wär­ti­gen Deutsch­land för­dert zuwei­len die Nei­gung, sich per Lek­tü­re in ande­re Zei­ten zu ver­sen­ken. In die­sem Sin­ne mus­ter­te ich kürz­lich aus mei­ner län­ger unbe­ach­te­ten Thu­le-Samm­lung mit wach­sen­dem Inter­es­se eini­ge Bän­de Islän­der­sa­gas. Der ers­te Zugang zu den Geschich­ten von Gis­li, Egil, Gret­tir, dem wei­sen Njál oder den Leu­ten aus dem Lachs­tal erfolg­te im Rah­men mei­nes Stu­di­ums. Sei­ner­zeit lagen nor­dis­ti­sche Aus­flü­ge ja nahe, was der Mas­se heu­ti­ger »Stu­die­ren­der« eines zuneh­mend ver­kom­men­den Fachs, das merk­wür­di­ger­wei­se immer noch »Ger­ma­nis­tik« heißt, eher als Wis­sens­bal­last gel­ten dürfte.

Wer beim Lesen nicht nur Gewohn­tes zur Bestä­ti­gung sucht, kommt bei die­sen Schil­de­run­gen vom Exis­tenz­kampf auf einer kar­gen Insel, von trot­zi­gen Wikin­gern, Tot­schlä­gern, Rächern und ihren selbst­be­wuß­ten, kaum weni­ger streit­süch­ti­gen Frau­en voll auf sei­ne Kos­ten. Die Hand­lun­gen spie­len meist zwi­schen 900 und 1050 und wur­den nach 1200 zu glaub­haf­ten his­to­ri­schen Erzäh­lun­gen ver­schrift­licht. Man begeg­net dabei einer frem­den, teils befrem­den­den Welt, die mich aktu­ell beson­ders anzog. Denn die erneu­te Lek­tü­re kon­fron­tier­te mich mit unse­rer heu­ti­gen Staats- und Gesell­schafts­ord­nung respek­ti­ve jenem Bereich, der ihr Zen­trum aus­macht: dem Recht.

Die Hal­tung dama­li­ger Islän­der seit der Land­nah­me im spä­ten 9. Jahr­hun­dert zur staat­li­chen Gerech­tig­keit erweist sich als selt­sa­me Mix­tur aus Des­in­ter­es­se, Prag­ma­tis­mus und For­ma­lis­mus, was sich mit unse­rer tota­len Jus­ti­fi­zie­rung des sozia­len Lebens kaum ver­ein­ba­ren läßt. Es fehl­te nicht an Geset­zen, und sie wid­me­ten der Rechts­ma­te­rie durch­aus Auf­merk­sam­keit. Geset­zes­kun­di­ge Goden oder Gerichts­spre­cher besa­ßen sogar hohes Anse­hen und erheb­li­chen Nut­zen für die jewei­li­gen Streit­par­tei­en. Aller­dings gestan­den die frei­heits­be­wuß­ten Her­ren­bau­ern, die weder Köni­ge noch Fürs­ten dul­de­ten, kei­ner Instanz das Gewalt­mo­no­pol zu. Schließ­lich hat­ten sie Nor­we­gen ver­las­sen und hier gesie­delt, weil der dor­ti­ge Mon­arch sie ihrer Sou­ve­rä­ni­tät berau­ben wollte.

Inso­fern regel­ten sie ihre Rechts­hän­del zunächst allein durch Feh­de oder Ver­gleich inner­halb riva­li­sie­ren­der Sip­pen­ver­bän­de. Ihr 930 eta­blier­tes Allt­hing, das man spä­ter zum ers­ten Par­la­ment Euro­pas sti­li­sier­te, insti­tu­tio­na­li­sier­te die Streit­schlich­tung und beschloß im Jahr 1000 sogar die Ein­füh­rung des Chris­ten­tums. Aber es besaß über Gesetz­ge­bung und Recht­spre­chung hin­aus kei­ne admi­nis­tra­ti­ve oder gar exe­ku­ti­ve Kom­pe­tenz. Der Gerichts­hof bestimm­te den Ver­lauf der Ver­hand­lung nicht im ein­zel­nen oder küm­mer­te sich ein­ge­hend um die Ver­neh­mung der Ange­klag­ten und Zeu­gen. Auch unter­lag die Gerichts­pra­xis viel­fach ande­ren Ein­flüs­sen. Bestechung kam vor; Schüt­zen­hil­fe durch ein­fluß­rei­che Goden basier­te häu­fig auf mate­ri­el­len Zuwen­dun­gen. Zuwei­len hin­der­te eine Streit­par­tei die geg­ne­ri­sche sogar mit Waf­fen­ge­walt am Betre­ten der Thing­stät­te. Es gab kei­ne Gleich­heit vor dem Gesetz oder ernst­haf­tes Bemü­hen des Gerichts um objek­ti­ve Aufklärung.

Die Fra­ge nach Schuld und Ver­ur­sa­chern spiel­te eine Neben­rol­le. Auch ent­spra­chen die Stra­fen nach unse­rem Emp­fin­den nur sel­ten der Schwe­re der Tat. Bei iden­ti­schen Tötungs­de­lik­ten wur­de bald stren­ge, bald mil­de Acht ver­hängt. Eine Abschlach­tung in Über­zahl wur­de nicht zwin­gend höher bestraft als wenn ein Tod im ehr­li­chen Kampf Mann gegen Mann erfolg­te. »In Island«, schrieb Paul Herr­mann, konn­te »ein und die­sel­be Mis­se­tat Rache her­vor­ru­fen oder Ver­gleich oder gericht­li­che Ver­fol­gung. Es gab kei­ne Taten, die ein für alle­mal ›Wald­gangs­fäl­le‹ oder ›Ver­ban­nungs­fäl­le‹ oder ›Buß­fäl­le‹ waren; das hing von der Macht der bei­den Par­tei­en ab, von dem Wil­len des Ver­letz­ten … Das Recht war nur für den da, der es zu erobern wuß­te; auch ein Unschul­di­ger konn­te ver­ur­teilt wer­den, wenn kei­ner zur Ant­wort da war. Der alt­is­län­di­sche Pro­zeß war eben eine Feh­de.« Kon­se­quen­ter­wei­se oblag die Durch­set­zung des Urteils der obsie­gen­den Partei.

Es herrsch­te eine den Star­ken begüns­ti­gen­de Men­ta­li­tät, cha­rak­te­ri­siert durch peri­odi­sche Wikin­ger­raub­zü­ge oder den erst spät begrenz­ten »Holm­gang«, in dem man sich etwa Land­be­sitz im Zwei­kampf erstritt. Das hät­te in Gewalt­or­gi­en regio­na­ler Poten­ta­ten mün­den kön­nen, wie es ohne­hin nicht weni­ge unge­sühn­te Tot­schlä­ge erlaub­te. Doch ver­hin­der­ten star­ke Sip­pen­bin­dun­gen, Ehr­vor­stel­lun­gen oder Bünd­nis­se, daß der ein­zel­ne der Will­kür von Stär­ke­ren gänz­lich aus­ge­lie­fert war. Selbst bei gro­ßer Über­le­gen­heit muß­te ein Täter damit rech­nen, daß sein bru­ta­les Han­deln ihn selbst gefähr­de­te, also etwa in end­lo­se Blut­ra­che-Feh­den mün­de­te, zu denen die geg­ne­ri­sche Fami­lie mora­lisch ver­pflich­tet war. Das hat man­ches ver­hin­dert oder Dees­ka­la­tio­nen durch Aus­gleich ermög­licht. Zudem konn­ten Bau­ern, die sich von ihrem Goden nicht ange­mes­sen behan­delt und geschützt fühl­ten, den Rechts­spren­gel wechseln.

Als gesell­schaft­li­che Idyl­le darf man sich das dama­li­ge Island jedoch gewiß nicht vor­stel­len, auch wo die klas­si­schen Sagas den Ein­druck ver­mit­teln, daß erst die Stur­lun­gen-Epo­che mit per­ma­nen­ten sit­ten­ver­ro­hen­den Rechts­frie­dens­brü­chen eine »gol­de­ne Ära« been­de­te. Schon frü­her zog eine durch über­stei­ger­te Ehr­be­grif­fe, Hab­gier oder Macht­lust geför­der­te Streit­sucht per Sip­pen­krieg, Raub und Brand zuwei­len gan­ze Land­stri­che in Mit­lei­den­schaft und berei­te­te den poli­ti­schen Boden vor für den 1262 erfolg­ten Unter­gang des Frei­staats. Schließ­lich hat­ten die Ein­füh­rung des Chris­ten­tums und die Über­nah­me der Herr­schaft durch die nor­we­gi­sche Kro­ne für die klei­nen Leu­te, die zuvor all­zu oft Spiel­ball groß­bäu­er­li­cher Rän­ke gewe­sen waren, eine pazi­fi­zie­ren­de Wirkung.

Mit die­sen Schlag­lich­tern auf weni­ge Ord­nungs­prin­zi­pi­en eines vor­mo­der­nen Staats­ge­bil­des habe es sein Bewen­den, wobei nähe­re Details sich bei Kon­rad Mau­rer aus­führ­lich stu­die­ren las­sen. Hier geht es nur um einen signi­fi­kan­ten und fun­da­men­ta­len Kon­trast zu heu­te. Schließ­lich cha­rak­te­ri­sie­ren Gewalt­mo­no­pol wie Exe­ku­tiv­macht unser Staats­ver­ständ­nis zen­tral. Aktu­el­le Urtei­le erge­hen im Namen des Vol­kes, weil die Ahn­dung einer Straf­tat exem­pla­risch und norm­an­wen­dend erfolgt. Unse­re Gerich­te ermit­teln von sich aus Tat­be­stän­de und ‑moti­ve, wor­aus Schuld und Straf­bar­keit im fest­ge­leg­ten Rah­men her­vor­ge­hen. Daß für Gewalt­ta­ten (gar nach Anse­hen und Stand gestaf­felt) mal ledig­lich »Wer­geld« fäl­lig wird, wider­spricht heu­ti­gem Rechts­ge­fühl. Die Not­wen­dig­keit, sein Recht selbst in die Hand zu neh­men, weil Ver­bre­chen sonst unge­sühnt blie­ben, kennt das Straf­recht nur ansatz- und aus­nahms­wei­se bei der Ver­fol­gung min­der schwe­rer Ver­ge­hen wie Belei­di­gung in Form von Antrags­de­lik­ten oder der Zulas­sung von Nebenklägern.

Das Bewußt­sein gänz­li­cher Ver­schie­den­heit zu den Saga-Ver­hält­nis­sen ver­stärkt sich noch dadurch, daß wir uns Staat und Gerichts­we­sen meist als inter­es­se­los, neu­tral und unpar­tei­isch vor­stel­len, was beson­ders im Staats‑, Ver­fas­sungs- und Straf­recht immer weni­ger zutrifft. Viel­mehr wird die Gewal­ten­tei­lung durch mas­si­ve Regie­rungs- und Par­tei­en­ein­flüs­se zuneh­mend beschä­digt. Es gibt zwar unter Rich­tern und Staats­an­wäl­ten nach wie vor cha­rak­ter­vol­le Per­sön­lich­kei­ten, die etwa den für Deutsch­lands poli­ti­sche Klas­se so will­kom­me­nen »Kampf gegen rechts« nicht über unse­re Rechts­ord­nung stel­len. Ver­fas­sungs­ge­rich­te in Sach­sen oder Thü­rin­gen ver­hü­te­ten Schlimms­tes und ver­war­fen etwa die skan­da­lö­se Kan­di­da­ten­re­du­zie­rung der AfD und die von der Lan­des­re­gie­rung gewoll­te geschlecht­li­che Quo­ten­re­ge­lung. Doch wer­den die Stand­haf­ten immer weni­ger, und gele­gent­li­che Pro­zeß-Erfol­ge gegen ille­ga­le Ver­stö­ße neh­men sich ange­sichts des Gene­ral­kur­ses, der oft uner­wünsch­te Mei­nun­gen schlicht ver­bie­tet, mehr und mehr wie ein rechts­staat­li­cher Len­den­schurz aus.

Poli­ti­sche Außen­sei­ter sehen sich somit – trotz einer nicht sel­ten aber­wit­zi­gen Ver­recht­li­chung nahe­zu sämt­li­cher Lebens­be­rei­che – viel­fach den glei­chen Kun­ge­lei­en aus­ge­setzt wie vor tau­send Jah­ren in Þing­vel­lir oder regio­na­len Goden­tü­mern, wo über­wie­gend die Inter­es­sen der Mäch­tigs­ten domi­nier­ten. Und die Aus­le­gungs­ra­bu­lis­men man­cher straf- und ver­fas­sungs­ge­richt­li­chen Urtei­le von heu­te ste­hen den dama­li­gen kaum nach. Tot­schlag oder Lan­des­ver­wei­sung als Sank­tio­nen gerie­ten aktu­ell zwar außer Mode. Aber auch unser Sys­tem ver­fügt (jen­seits von Geld- und Haft­stra­fen) über ein­schnei­den­de sozia­le Dis­kri­mi­nie­run­gen als zeit­ge­mä­ße Ver­ban­nung zum »Wald­gang«. Exem­pla­risch zeigt der Fall Mar­tin Sell­ners, wie sich Äch­tung heu­te voll­zieht: mit irr­wit­zi­gen Ankla­gen, Haus­durch­su­chun­gen, die Pri­vat­sphä­re ver­let­zen­der »Verfassungsschutz«-Behelligung, zu Dut­zen­den gekün­dig­ten Bank­kon­ten, per Zen­sur ver­hin­der­ten Inter­net-Auf­trit­ten, media­len »Steck­brie­fen« und nicht sel­ten purer »zivil­ge­sell­schaft­li­cher« Gewalt. Die mar­tia­li­sche Inten­si­tät der Sank­ti­on ist nicht ver­gleich­bar, die gesell­schaft­li­che Wir­kung aber schon.

Sol­che Über­grif­fe sind des­halb so effek­tiv, weil wir uns, gebor­gen in der Illu­si­on umfas­sen­der Rechts­staat­lich­keit, die Vor­stel­lung von Selbst­hil­fe gänz­lich aus dem Kopf geschla­gen haben und der Staat alles tut, die­se als beson­ders ver­werf­lich zu brand­mar­ken. Wer sich etwa von der »fal­schen« Sei­te aus auf die Not­stands­ge­set­ze beruft, lan­det umge­hend im Extre­mis­ten­kel­ler, wenn nicht in Haft. Bereits der Wunsch vie­ler Bür­ger, sich zur Selbst­ver­tei­di­gung eine Waf­fe zuzu­le­gen, gilt vie­len als Über­schrei­tung der Radi­ka­lis­mus-Gren­ze, was fata­ler­wei­se mit dem Anstieg migran­ti­scher Gewalt korreliert.

Ande­rer­seits herrscht selbst bei scham­los offe­nen staat­li­chen oder rich­ter­li­chen Fehl­grif­fen in der Durch­schnitts­be­völ­ke­rung Nai­vi­tät vor, die in der hilf­los-ent­rüs­te­ten Fra­ge gip­felt: »Ja dür­fen die denn das?« Natür­lich darf oder dürf­te ein demo­kra­ti­scher Staat eigent­lich vie­les nicht, was er gegen­wär­tig (etwa per »Ver­fas­sungs­schutz«) exe­ku­tiert oder zuläßt. Natür­lich dürf­te ein Andre­as Gei­sel, der von der SED über die Ber­li­ner SPD aus­ge­rech­net zum Innen­se­na­tor pro­mo­vier­te und jüngst die Quer­den­ker-Demos ver­bie­ten las­sen woll­te, etli­ches nicht. Das weiß er ver­mut­lich, aber zur Schä­di­gung der Oppo­si­ti­on setzt er es den­noch in Gang. Er tut es, weil ihn – anders als zu 68er Zei­ten – noch viel zu weni­ge dar­an hin­dern. Und der Staat ver­bit­tet sich sogar Refle­xio­nen über die Ille­gi­ti­mi­tät eines so »ver­ein­fach­ten« Regie­rens und nennt sie in bemer­kens­wer­ter Bigot­te­rie »extre­mis­tisch«. Eine Herr­schaft aber, die auf Dau­er ener­gi­scher Kon­trol­le durch wah­re Volks­ver­tre­ter ent­behrt, neigt zum Exzeß. Zudem gilt Wolf­gang Staud­tes Dik­tum: »Feig­heit macht jede Staats­form zur Diktatur.«

Sol­che Bilanz emp­fiehlt kei­ne Selbst­jus­tiz, zumal bereits zivi­ler Unge­hor­sam (wie der jüngst erfreu­li­cher­wei­se durch Coro­na-Quer­den­ker prak­ti­zier­te) oder Quit­tun­gen in der Wahl­ka­bi­ne vie­les bes­ser­ten. Auch figu­rie­ren Saga­hel­den in ihrer häu­fig über­bor­den­den juve­ni­len Gewalt­ver­liebt­heit gewiß nicht als Vor­bil­der. Der­glei­chen haben wir, ein­wan­de­rungs­be­dingt, per Import von Clans und Stra­ßen­gangs im hie­si­gen Deutsch­land schon viel zu viel. Dazu bezeich­nen­der­wei­se auch wie­der diver­se im Milieu funk­tio­nie­ren­de (den Islän­dern ver­wand­te) pri­va­te Schlich­tun­gen einer Paralleljustiz.

Aller­dings wuß­ten die zu Recht berühm­ten Hel­den vie­ler Sagas, jen­seits von tes­to­ste­ron­ge­präg­tem Drauf­gän­ger­tum, noch, daß Frei­heit und Recht nahe­zu täg­lich vom ein­zel­nen ver­tei­digt wer­den müs­sen, wäh­rend wir Heu­ti­gen die­se Auf­ga­be all­zu bequem und selbst­zu­frie­den einer Insti­tu­ti­on über­tra­gen haben. Die­se Dele­ga­ti­on an die Exe­ku­ti­ve ist zwei­fel­los ein zivi­li­sa­to­ri­scher Fort­schritt. Doch er för­dert zugleich die Illu­si­on vom Staat als stets objek­ti­vem Sach­wal­ter unse­rer Anlie­gen. Dabei ist sei­ne post­de­mo­kra­ti­sche Ent­ar­tung mitt­ler­wei­le kaum noch zu über­se­hen, des­glei­chen sei­ne Unter­wan­de­rung durch Par­tei­en, Inter­es­sen­ver­bän­de oder (inter­na­tio­na­le) NGOs, die ihre höchst ris­kan­ten Glo­ba­la­gen­den betrei­ben. Das schmä­lert für alle, die nicht ins Herr­schafts­syn­di­kat ein­ge­bun­den sind, dra­ma­tisch die Chan­ce, Recht zu fin­den. Bei­spiel­haft zeigt sich dies in der Art, wie der Staat (in Wirk­lich­keit ein »kosche­res« Par­tei­en­kar­tell, das die Jus­tiz­äm­ter exklu­siv besetzt) gegen miß­li­e­bi­ge Kon­kur­renz wie die AfD vor­geht. Auch Coro­na-Demons­tran­ten bekom­men dies zu spüren.

Macht geht über Recht oder schafft es sich, leh­ren zahl­rei­che Sagas. Zugleich aber auch, daß Muti­ge das Recht bewah­ren. Sol­ches noch Micha­el Kohl­haas besee­len­de Bewußt­sein per­sön­li­cher Ver­ant­wor­tung für unse­re Sozi­al­ord­nung ist nahe­zu aus­ge­stor­ben. Ehre spielt hier­zu­lan­de kei­ne nen­nens­wer­te Rol­le mehr, wo statt­des­sen glo­ba­le PR-Büros die jeweils geneh­me öffent­li­che Moral pro­du­zie­ren und implan­tie­ren. Sip­pen­bin­dun­gen zäh­len, teils zum Nach­teil der Ein­hei­mi­schen, nur mehr bei eth­nisch-reli­giö­sen (Noch-)Minderheiten. Alter­na­ti­ve Schutz­bünd­nis­se wur­den sys­te­ma­tisch polit­kri­mi­na­li­siert. Und im Main­stream fehlt es an media­ler Reso­nanz wie Sym­pa­thie, um die jeweils Geäch­te­ten dar­in zu bestär­ken, sich stell­ver­tre­tend ein­zu­set­zen oder gar zu opfern.

Rechts- und Ver­fas­sungs­dis­kus­sio­nen voll­zie­hen sich viel­mehr im post­de­mo­kra­ti­schen Leim­topf einer kleb­ri­gen Moral, die durch eine erdrü­cken­de Mehr­heit herr­schafts­kon­for­mer Leit­ar­tik­ler, Staats­funk­mo­de­ra­to­ren oder Debat­ten-Ver­hin­de­rer cha­rak­te­ri­siert wird. In ihnen mimen Auto­kra­ten Demo­kra­ten, Grund­rechts­ver­let­zer deren Schüt­zer – das Gan­ze flan­kiert durch eine Gesin­nungs­in­dus­trie aus lamm­from­men »Kul­tur­schaf­fen­den«, TV-Spaß­ma­chern oder Uni­ver­si­täts­la­kai­en. Kunst geht nun mal nach Brot respek­ti­ve nach opu­lent beleg­ten Brötchen.

Als Zeit­zeu­gen und ‑dia­gnos­ti­ker kön­nen sie den Saga­schrei­bern, die aus einer Tra­di­ti­on unkor­rum­pier­ten Erzäh­lens schöp­fen, nicht das Was­ser rei­chen. Denn die bewah­ren sich einen unge­schön­ten, veris­ti­schen Blick auf die Macht­gier und Rechts­hän­del ihrer Zeit. Sie hiel­ten Geg­ner­schaft, Zusam­men­prall von Lei­den­schaf­ten und kon­se­quent ver­folg­te Inter­es­sen für natur­ge­ge­ben und ver­mie­den einen »dis­kri­mi­nie­ren­den Feind­be­griff«. Auch deu­tel­te man bei Kon­flik­ten und Schuld­fra­gen nicht so lan­ge her­um, bis erdrü­cken­de Ein­deu­tig­keit pro­du­ziert war. Auf heu­ti­ge Leser wirkt daher man­ches pro­vo­zie­rend moral­frei. Immer­hin schütz­te der kal­te, emo­ti­ons­lo­se, chro­ni­ka­li­sche Saga-Stil vor den heu­ti­gen Haupt­las­tern gegen­warts­be­zo­ge­ner Legitimationsliteraten.

Der gro­ße Respekt islän­di­scher Autoren vor den Fak­ten hat etwas von seriö­sen His­to­ri­kern, selbst noch dort, wo man etwa im Auf­trag des Königs oder der Kir­che schrieb und klei­ne­re sip­pen- oder herr­schafts­be­ding­te Kon­zes­sio­nen ein­ging. Ihr weit­ge­hend par­tei­frei­er Rea­lis­mus enga­gier­te sich nur in einem: dem Ethos zuguns­ten von Ehre und Mut, Frei­heit und Recht. Ihre Sym­pa­thie galt daher – undenk­bar für unse­re heu­ti­ge Lohn­schrei­ber­kas­te – selbst Out­laws wie Gret­tir, von dem sie annah­men, daß er schuld­los sei­nem Schick­sal erlag respek­ti­ve einer Über­macht, die das Recht nur instrumentalisierte.

 

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