»Sehnt ihr euch nicht manchmal auch nach wilderem Denken? Nach Ideen ohne feste Ordnung, Utopien ohne berechenbaren Sinn, nach Ecken und Kanten, an denen ihr euch stoßen könnt? Schämt ihr euch nicht, keine Antwort zu haben auf die Frage ›Was für eine Meinung vertrittst du, die nicht auch die Mehrheit teilt?‹ … Ich will Mut zum Zusammenhang, zur ganzen Erzählung. Die Sprengköpfe der Dekonstruktion haben wir lange genug bewundert, jetzt ist wieder Zeit für ein paar große Architekten.«
Diese Sätze stammen aus dem vieldiskutierten Buch Sieben Nächte, das der damals neunundzwanzigjährige Publizist Simon Strauß im Sommer 2017 vorlegte. Strauß (sein Vater ist der Schriftsteller Botho Strauß) schildert auf knappen hundertvierzig Seiten den Versuch, dem sein Leben prägenden Unernst durch Selbstaussetzung ein Ende zu bereiten, die postmoderne Beliebigkeit zu unterlaufen und dem Einmünden in ein vorhersehbares Leben, in ein von Ordnung geprägtes, eingeordnetes Leben in einem geordneten Staat doch noch so etwas wie Bedeutsamkeit und Überraschung entgegenzustellen. Selbstaussetzung (dieses Wort kommt bei Strauß nicht vor) meint: Weil es in meinem Leben bisher keine von außen zusetzende, gefährdende, harte Herausforderung gab, muß ich sie selbst inszenieren, sie vor mich hinstellen, auf sie auflaufen, aufprallen – und an dieser Nicht-Notwendigkeit zu reifen versuchen, indem ich sie für die Dauer dieses Zustands zur Notwendigkeit erkläre und mich in eine Stimmung der Bewährung und der Bedeutung hineinsteigere.
Strauß beschreibt sich im Vorspann als ehrgeizigen, von Hause aus mit Vorschußlorbeer und dem nötigen Kleingeld ausgestatteten jungen Mann, als Begabten, der schon immer zu Kreisen gehört und Kreise mitgestaltet hat, aus denen heraus sich die Verlage und Redaktionen, die Kulturszene und das Feuilleton der Großstadt ihren Nachwuchs angeln. Vorgebahnte Wege, aufgespannte Rahmen, hingestellte Leitern – sichtbar seit Jahren, man ging trotz aller größeren, wilderen Pläne stracks darauf zu, und nun, vielleicht nach einem letzten Abschluß, kurz vor einem ersten großen Angebot, einer ins Berufsleben einmündenden Entscheidung soll noch einmal »etwas gewagt werden«.
Wir erfahren, daß ein älterer Bekannter die Straußsche Sehnsucht nach Bewegung, innerem Aufstand, nach Experiment erkannt und ihm vorgeschlagen habe, in sieben Nächten die sieben Todsünden zu durchleben und noch vor dem Morgengrauen jeweils sieben Seiten über das Erlebte zu schreiben: über Hochmut und Völlerei, Faulheit und Habgier, über Neid, Wollust und Zorn. Jedoch: Die vermeintlich großen Bilder sind schlechte Kopien, Strauß weiß das. Die Versuchsanordnungen, in die er sich versetzt sieht, sind zahnlos und zahm – zaghafte Schrittchen ins Gewagte, Verruchte, Ausgelassene, in die Herausforderung, die Gefühlsaufwallung, ins Selbstherrliche, Selbstermächtigende oder wenigstens zutiefst Lebendige.
Nichts an und in diesen sieben Nächten ist so gewagt oder verwegen, so gefährlich oder jenseits der Grenze, daß es auch nur einen Ansatz von lebensverändernder Wucht zuließe. Strauß spürt den Mangel an Bewährung, aber er hilft ihm nicht ab. Er hält das, was hereinbrechen könnte, auf Distanz, indem er es beschreibt, und während er schreibt, sucht er nach dem Gefühl und dem Erleben, dessen Ausbreitung und Machtergreifung er in den Stunden zuvor verhinderte. Das alles ist ja zeitlich begrenzt, ist gehegt, laborhaft, wie eine Art Sport arrangiert. Und weil Sieben Nächte ein ehrliches Buch ist, zerplatzt in der letzten Nacht, der Nacht des Zorns, des Jähzorns, alle Illusion: Der Ich-Erzähler fährt mit einem seiner engen Freunde, dem engsten Freund wohl, durch die Stadt – der Freund steuert, lässig, abgeklärt, ins Business einsteigend, die langen Jahre des gemeinsamen Ausprobierens und Mehr-Wollens ironisch und ein letztes Mal kommentierend. Die Lebensphase, die Jahre der großen Entwürfe und der Träume vom besonderen Leben: Das alles wird als »Phase« abgestreift. Im Ich-Erzähler wallt es – vor Zorn und Scham: »Und irgendwann kommen wir auf das Ganze zu sprechen. Und er macht plötzlich eine abfällige Bemerkung über meine Versuche, das Ungenügen in Worte zu fassen, sagt in etwa: ›Immer nur Revolution – du wiederholst dich, und es hat keine Folgen, du mußt dich mehr reinknien, sonst wird nichts daraus.‹ Er sagt das mit einer solchen Abgeklärtheit, mit so viel Gift, dass ich am liebsten den Scheibenwischer von der Windschutzscheibe reißen und ihm in den Hals stecken würde.«
Woher rührt die Verletzung? »Das Wichtigste war ja stets gewesen, daß wir uns schützend vor das Pathos des anderen stellten.« Das heißt nichts anderes als: Wer als erster begreift, daß die Pose, vom Vorgebahnten abzubiegen, irgendwann albern würde, verletzt denjenigen tief, der die Illusion noch aufrechthält. Denn: »Vielleicht hat er ja doch recht. Vielleicht ist Träumen irgendwann nicht mehr genug.« Ja, ganz sicher ist das irgendwann nicht mehr genug. Aber wer dann der erste ist, der diesen romantischsten aller Zustände albern nennt, führt den Dolch.
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Selbstaussetzung und Selbsterregung, Kreisbildung und Lockruf: Dieses Konzept ist alt und erprobt und stand aufgrund seiner Unberechenbarkeit schon immer unter dem Verdacht der Verantwortungslosigkeit. Die Romantik hat es unter dem Begriff der Poetisierung, der Wiederverzauberung der Welt gegenaufklärerisch entwickelt. Sie ummantelte sozusagen die nackte Vernunft, deren Wirkung sie mit Disziplin, Ausrechnung und Langeweile beschrieb und zurückwies. Die Romantiker brachten Schatten und Dunkel, Geheimnis und Risiko, Traum und Sehnsucht, Utopie und Verschwendung in die ausgeleuchteten und aufgeräumten Zimmer. Sie sprachen vom Ich und seiner Befähigung, ja seiner Pflicht zur Selbstaussetzung, Selbsterregung, Selbstversuchung. Neben die Vernunft, den logos, auf den sie natürlich nicht verzichten wollten, den sie also nicht verwarfen, aber in seiner Übertriebenheit und Ausschließlichkeit ablehnten, stellten sie eros und thymos, Liebe und Kraft, Leidenschaft und Zorn.
Von der Romantik schlängelt sich eine Traditionslinie auf die Jugendbewegung zu. Gründung und Aufstieg des Wandervogels liegen in der Hoch- und Blütezeit des Zweiten deutschen Reiches, diesem durchorganisierten, durchgeplanten, modernen und über die Maßen effektiven Staatsgebilde, in dem leben und arbeiten zu dürfen tatsächlich bedeutete, daß es sich Jahr für Jahr komfortabler anließ – wenn man sich nur an- und einpaßte und die Staatsordnung als die gedeihliche begriff. Das Vorgebahnte, das Erprobte, das Bewährte; das Abgefederte, Sichere, Bürgerliche – das Spießbürgerliche: Der Wandervogel, 1896 gegründet und am Vorabend des Ersten Weltkriegs längst zu einer weit ausgreifenden Bewegung geworden, rekrutierte seine Anhänger und Ausgestalter aus jenen Schichten und Milieus, denen anzugehören bedeutete, daß es allzuviel Risiko nicht mehr gäbe, wenn man sich an die Dienstpläne von Militär, Verein, Vater, Gott und Kaiser hielt.
Man kann den Vorkriegswandervogel als Aufstand gegen die Langeweile beschreiben. Die Selbstaussetzung wurde wörtlich genommen und umgesetzt: Sich auf das Notwendigste zu beschränken, auf »Fahrt« zu gehen und den Komfort als unnatürlich und das Wahre verdeckend zurückzuweisen – das war das Programm aller Gruppen, aller Ab- und Aufspaltungen dieses schillernden Gebildes. Aber auch hier: eine Lebensphase. Von vornherein und ungeschrieben galt, daß man keine von Erwachsenen organisierte Jugendpflege wünsche, sondern selbsterringende, selbstbestimmte Jahre oder besser: Wochen und Wochenenden innerhalb dieser Jahre, die ja doch meistenteils aus Schulpflicht und außerschulischem Bildungsprogramm bestanden. Daneben aber, in den freien Tagen und den Ferien, wurde ein Jugendreich aufgespannt, in dem man erlebte und selbstgewählt erlitt, was die Stundenpläne nicht vorsahen.
Nach dem Ersten Weltkrieg wurde daraus ein Programm, eine gegen die alte Ordnung gerichtete, in Aufrufen und Grundsatzschriften formulierte Abwendung. Die nun straffer organisierten Bündischen sahen sich im Recht, weil es dem bürgerlichen und (aus der Sicht eines Wandervogels) dekadenten Staat nicht gelungen war, das Gemetzel des Maschinenkriegs entweder zu vermeiden oder aus ihm eine heroische, nicht in den Bürgerstaat zurücksinkende Konsequenz zu ziehen. Es gab also keinen Grund, die »alte Ordnung« weitermachen zu lassen, als sei nichts geschehen. Und mehr: Wache Köpfe ahnten längst, wohin Maschine, Fortschritt, Komfort, Vernutzung, Optimierung und Massenformierung führen würden. Ihnen graute vor der technischen und historischen Überraschungslosigkeit, und dieses Grauen weckte einen starken Impuls gegen ein Dasein als Rädchen im Getriebe und gegen ein Schicksal als das vom Einen unter vielen, dem auf diese Weise seine Besonderheit und seine Bedeutung geraubt würden. Wenn nämlich diese Bedeutung innerweltlich gestiftet werden sollte, dann war nichts diesem Vorhaben abträglicher als die Einebnung aller Wucht und Probe.
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Die Grundströmung der innerweltlichen Bedeutungsfindung, mit der wir es seit der Aufklärung zu tun haben, bezeichnet der Kulturphilosoph Peter Sloterdijk als »Apokalypse des Realen«. Mit der Infragestellung Gottes, mit der rationalen Ungläubigkeit begann die Suche nach einer Realtranszendenz, also nach einer Erlösungserzählung, die nicht mehr von oben gestiftet, sondern aus den Wirkungskräften der Geschichte oder der menschlichen Natur abgeleitet werden mußte. Wo es keine göttliche Wahrheit mehr gibt, wird die Wirklichkeit zum Träger und »Verwirklicher« der Wahrheit. Das bedeutet für die Lebensdynamik: Die Sicherheit und Schicksalsergebenheit, die der in das Weltenrad oder den Heilsplan Eingebettete hat, diese unentrinnbar große Erzählung, wird abgelöst von einer Sinn-Unsicherheit. Wo wäre Halt, da sich Gottes Hand entzog? Aus dieser Unruhe läßt sich ein neuer Lebenszugriff ableiten: Wir sind nicht mehr aufgehoben, wir ruhen nicht mehr in einer großen Ordnung, wir müssen vielmehr etwas tun, und zwar sofort, müssen auf die Suche und ans Werk gehen und wollen, was uns am Ende zu sagen erlauben wird: Wir waren dabei, als eine große, wiederum schicksalhafte Ordnung errichtet wurde. Wir haben große Politik gemacht und ohne zu zögern unsere Existenz daran geknüpft.
Sloterdijk faßte diese Ausgangssituation in einem Text über »Heideggers Politik« mit den Vokabeln »Ratlosigkeit und Rastlosigkeit« zusammen. Er begründet darin Heideggers kurzzeitige Beteiligung am nationalsozialistischen Aufmarsch mit einer Art ichbezogener Aufwallung: Wir hätten es im Grunde nur mit einem Fluchtversuch aus einer unspektakulären, lebenslangen und lebenslangweiligen Einordnung zu tun. Dies nun wäre, bliebe es beim Ich, kein besonders bemerkenswerter Vorgang: Jeder Künstler, jeder, der sich berufen dazu sieht, aber auch jeder Wichtigtuer versucht ja, aus sich selbst den besonderen Typ zu machen, also die Spanne bis zum Tod bestmöglich auf tiefes Pflügen und unverkennbare Spur hin zu nutzen.
Bloß: Heidegger ging, sich als sinnstiftender Philosoph begreifend, über das Ich hinaus zum Wir. Seine maßgebliche Arbeit in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts habe, so Sloterdijk, darin bestanden, die »existentielle Temporalität des Ichs« (also seinen Auftrag bis zum Tod) mit der »seinsmäßigen Temporalität des Kollektivs« (also sein weltformendes Werk) in eine notwendige, mobilisierende Beziehung zu setzen. Sloterdijk sieht in dieser Verknüpfungsleistung die eigentliche »Politik« Heideggers. Aufladungsdenken also, oder, mit dem Untertitel des Sloterdijk-Textes gesagt: »das Ende der Geschichte vertagen«.
Bedeutungsaufladung durch Brückenschlag vom Ich zum Wir: Man wird sich, auf diese Weise beauftragt, nicht mit einem Abarbeiten abgeben, nicht mit einer Einordnung der Lebensleistung in einen Staat. Man wird vielmehr in der Überzeugung leben und ans Werk gehen, daß es einen an der Zeit, an den Umständen ablesbaren Auftrag gebe, den zu begreifen und zu schultern die epochale Aufgabe der jeweiligen Generation sei und den an sich selbst exemplarisch zu erproben und als Auftrag zu formulieren die wesentliche Aufgabe der wachsten (und damit wichtigsten) Köpfe der Zeit sein müsse – zu denen man zweifellos gehöre.
Nun mußte man nicht Heidegger sein und über die Seinsgeschichte nachdenken, um im Jahre 1925 oder 1930 am eigenen Leib zu spüren und mit einem Blick zu erfassen, daß sich das Kollektiv, also das deutsche Volk, dringend würde mobil machen müssen: nach außen gegen das Versailler Diktat, für die Revanche und gegen die bolschewistische Gefahr; nach innen gegen die Verelendung, für stabile Verhältnisse und gegen die dem Ernst der Lage nicht angemessene demokratische Hilflosigkeit.
Das bedeutet: Natürlich waren auch ohne Heideggers Nachdenken längst politische Bewegungen dabei, ihre je eigene, mobilisierende Lageauffassung und Stimmung als die angemessene und rettende herauszustellen, nachzuschärfen und durchzusetzen. Im liberalen Ansatz sahen diese Bewegungen keine Lösung, eher mehr Verwirrung, jedenfalls nichts Sinnstiftendes und vor allem nichts Mobilisierendes, keine große, formgebende Idee. Das Frappierende ist nun, daß Heidegger erst sehr spät begriff, wie wenig die Zielrichtung der nationalsozialistischen Mobilmachung mit dem zu tun hatte, was ihm vorschwebte. Ernst Jünger etwa, der viel stärker lagebezogen den neuen Typ der Weltermächtigung beschrieb, sah auf realpolitischer Ebene früher und klarer, wohin unter Hitler die Fahrt gehen würde. Heidegger hingegen hatte den Dreck nicht kennengelernt und schwebte. Aber auch er setzte dann, und zwar bereits 1935, hart auf dem Boden auf und sah, daß seine seinsgeschichtlich aufgeladene Erwartung an den neuen Staat trog. Aber zunächst war er dabei.
Sloterdijks These lautet, daß Heidegger darum bemüht war, den Folgen seiner Entdeckung vom »Ende der Geschichte« auszuweichen, also: der Bedeutungslosigkeit, der Spannungslosigkeit und damit der Langeweile zu entkommen. Die Grundfrage dahinter: War es das? Werden wir nun alle unterworfen, und zwar nicht von Reiterheeren aus dem Osten, sondern von einem Vielzuviel auf drei Ebenen: Masse Mensch, entfesselte Energie, überraschungslose Bürokratie? Kommt da noch etwas, das jenseits von Produktion und Konsum, Organisation und Verbesserung, Fortschritt und Entlastung sinnstiftend wäre?
Was Heidegger nur ahnen konnte, weiß Sloterdijk: In den letzten sieben, acht Jahrzehnten ist es der Masse unserer Hemisphäre ermöglicht worden, eine Anspruchshaltung einzunehmen, die keinen Aufschub mehr hinzunehmen bereit ist, auf nichts mehr warten will und das dringende Bedürfnis hat, niemandem mehr zu Dank verpflichtet zu sein: »Zu realen und pragmatisch Letzten werden Individuen in der Konsum- und Erwerbsgesellschaft von dem Augenblick an, in welchem sie in die Daseinsweise von herkunftsschwachen und nachkommenslosen Selbstverzehrern einwilligen.«
Heidegger (und mit ihm etliche andere Denker, Intellektuelle, Künstler) wollte nicht in die Daseinsweise herkunftsschwacher und auftragsloser Selbstverzehrer einwilligen. Gegen die Entlastung des Einzelnen durch Infragestellung des historischen Gewichts und der Erlaubnis, zum Hausschwein zu werden, stellte er die Forderung nach Wiederbelastung. Was nun geschah, kann im Nachgang nur als Mißverständnis oder Verzweiflungsakt beschrieben werden – oder als Rausch.
Heidegger vermutete im Nationalsozialismus jenes authentische Kollektiv, das dem Ende der Geschichte, dem Bedeutungsverlust des Einzelnen, der impotenten Existenz der Konsumenten ein Ende zu bereiten in der Lage sei. Nationalsozialismus, Faschismus als seinsgeschichtlicher Ausdruck, als neue Bewußtseinsstufe, als neue, sogar heroische Verbindlichkeit, Wiederbelastung, Aufladung – und er selbst einer der Deuter, einer derjenigen, die als Thymostrainer am Ufer des reißenden Flusses stehend das Volk bei seinen Schwimmübungen anleiten würden.
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An Heidegger können wir den Versuch studieren, dem Bedeutungsverlust durch Wiederbelastung und geschichtliche Aufladung zu entkommen. Der Antrieb ist ein nicht entwirrbares Geflecht aus Verantwortungsbewußtsein für die Landsleute und der großen Angst vor der eigenen Bedeutungslosigkeit, vor der Versumpfung an sich und eine Art Selbstekel, auch zu den Langweilern zu gehören. Dies nun verkoppelt mit der Vorstellung, wenigstens aus einem Volk, dem deutschen Volk, eines formen zu helfen, das nicht versumpfen würde — was für ein Irrtum!
Was nämlich in der Vorstellung Heideggers ein historisch hochgestimmter Ausbruch aus dem bequemen Leben sein sollte, war letztlich die Außensicherung der Weltvernutzung durch ein besonders begabtes Volk mit den brutalsten Mitteln. Die Enttäuschung und Ernüchterung, später: das Entsetzen darüber, daß hier nicht der neue geschichtliche Typ vorgeschickt worden war, sondern bloß der Bewohner des am besten organisierten und aggressiv abgesicherten Weltvernutzungsabschnitts, setzte bei Heidegger 1935 ein. Den weiteren Verlauf kennen wir, und wir haben uns dabei das Rückgrat gebrochen.
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Schlagen wir den Bogen zurück zu Simon Strauß und seinem Sieben Nächte: Er ist vor dem Hintergrund der Wucht, mit der Heidegger und andere seines Kalibers Stimmungsaufladung betrieben und Hoffnungen auf Wiederbelastungen setzten, tatsächlich jemand, der »aus der Geschichte gelernt hat«. Er stellt ja sein Einmündenmüssen in eine BRD-Karriere überhaupt nicht in Frage – bloß hinauszögern will er es noch ein wenig. Das ist die Botschaft, und der Zielpunkt ist postheroische Beruhigung oder »Kristallisation«, wie Gehlen es ausdrückte, jedenfalls: Zufriedenheit. Ein bißchen Konsensstörung, ein bißchen innerer Aufstand, ein bißchen Provokationsprofil – mehr soll und darf nicht mehr gewollt werden, denn alles, was darüber hinaus reicht und zu Kollektivaufladungen führt, die das Ende der Geschichte vertagen wollen, wäre verantwortungslos. –Die Frage, die sich daraus ergibt, ist wie ein schriller Ton.