Das Jahr 2020 war für die »Mosaikrechte« kein gutes Jahr. Gründe dafür gibt es viele; die unvorhersehbaren Schwankungen im Zuge der Coronakrise sind für eine Erklärung nicht ausreichend. Was also ist passiert?
Zu Anfang des Jahres waren das Institut für Staatspolitik (IfS) und die Zeitschrift Sezession entschlossen, verstärkt grundlegende Linien zu ziehen, das »Kerngeschäft« der Aus- und Weiterbildung zu bespielen und das Tages- und Realpolitische nicht mehr so intensiv zu begleiten wie in den Jahren zuvor. Die Winterakademie 2020 und das erste Themenheft des Jahres (Sezession 94, Februar 2020) widmeten sich denn auch einem grundlegenden Thema: »Lektüren«. Heft und Akademie sollten jungen Lesern und »Fortgeschrittenen« einen rechten Kanon vorstellen und eine Debatte darüber eröffnen, ob es solche verbindlichen Lektürestrecken überhaupt gebe; zum anderen waren das Lesen überhaupt und Lesepflicht sowie Lesefaulheit Themen. Die 20. Winterakademie bedeutete in diesem Sinne einen Schnitt – »keine Dauerschleife inmitten der rechten Gesellschaft des Spektakels, sondern Grundlagenarbeit, Substanz« (Götz Kubitschek).
Einen Sprung zurück in die Tages- und Realpolitik kündigte sich jedoch an, als die gezielte US-Tötung des iranischen Generals Soleimani eine schroffe Debatte im rechten Lager auslöste. Außenpolitische Deutungen sind nicht das eigentliche Feld von IfS und Sezession, aber bei der Frage nach Legitimität und Wahnsinn schälten sich maßgebende Konflikte für das eigene Lager heraus. Das ließe sich anhand der Reaktionen aus der AfD auf Soleimanis Ermordung zeigen, aber auch anläßlich der Stars-and-Stripes-Fahnen schwenkenden und Trump-Basecaps tragenden Jungalternativen bei der »Wahlparty« zum US-Urnengang im November. Es geht um Nachahmung von Verhaltensweisen und ideologischen Prämissen, um Übernahme von historischen und politischen Deutungen durch uns, die noch immer »Besiegten«. Nicht ohne Grund war es Das Licht, das erlosch (Berlin 2019), das Anfang 2020 in der Redaktion von Hand zu Hand ging. Verfaßt haben dieses Buch der Bulgare Ivan Krastev und der US-Amerikaner Stephen Holmes. Der Kerngedanke kreist um die Arroganz der westlich-liberalen Demokratie, deren Anhänger die Autoren sind. Sie machen keinen Hehl aus ihrer Abneigung gegen die illiberal-demokratischen Entwürfe, die in Ungarn, Polen oder Rußland umgesetzt werden. Aber ihre Verstehensbemühungen für deren Entwicklung wirkten beispiellos und ihre Thesen schlagend. Eine Kernthese beider in den Worten Kubitscheks: »Die psychologischen Folgen in den nachahmenden Ländern lägen auf der Hand, und so münden Krastevs und Holmes’ einleitende Gedanken in die These, daß es sich bei den sehr unterschiedlichen Ansätzen in Rußland, in China und in den mittelosteuropäischen Staaten um Gegenentwürfe zum Nachahmungsimperativ durch den Westen handle, um einen nachvollziehbaren Widerstand dagegen, moralisch, rechtsstaatlich und zivilgesellschaftlich stets der Lehrling zu bleiben und den Gesellenbrief aus der Hand der Gönner vermutlich nie zu erhalten.« Diese Passage trifft einen entscheidenden Punkt, der weit über das Feld Soleimani im Januar / Februar oder JA-Wahlbegleitung im Oktober / November hinausweist: Will man als Alternative (parlamentarisch und außerparlamentarisch), wie Ungarn oder Polen, integrale oder auch nur zaghafte »Gegenentwürfe zum Nachahmungsimperativ« erarbeiten, oder will man der peinliche Musterschüler sein, der bei jedwedem Themenbereich dem Hegemon zu beweisen beabsichtigt, daß man gelernt habe, was Imitation bedeutet?
Ist dieses Faß erstmal geöffnet, wird klar, daß es sich nicht bloß um außenpolitische Deutungen handelt, die man vernachlässigen könnte – hier werden identitäts- und geschichtspolitische, souveränistische und nationale Schlüsselfragen aufgeworfen. Die bisweilen hysterischen Reaktionen legten nahe, daß das erste Quartal 2020 im Zeichen solcher Fragen stehen würde und nicht im Zeichen gründlicher Lektüre von Klassikern und Schlüsseltexten. Mitte Januar stand beispielsweise im Bundestag ein Antrag über den Abzug der Besatzungstruppen aus Ramstein zur Abstimmung. Eingebracht hatte diesen Antrag die Fraktion »Die Linke«, abgelehnt wurde er auch mit den Stimmen der AfD. Diese hat in ihrem Grundsatzprogramm zwar die Forderung nach einem Abzug aller fremden Truppen festgeschrieben. Petr Bystron wies hingegen in seiner Rede darauf hin, daß etwa im Iran ein Regierungswechsel mit allen Mitteln im Sinne des Westens sei, ohne freilich die Lehren aus bisherigen Interventionskriegen ebenjener »freien Welt« zu ziehen, die nicht nur eine Migrationswelle (gen Europa, nicht gen USA) in Gang setzte. Ein weiteres Beispiel für diese Nachahmung in antinationaler Art und Weise war eine Pressemitteilung, die Bystron gemeinsam mit Bundessprecher Jörg Meuthen einige Wochen später veröffentlichte: Unter Verweis auf Holocaust, Antisemitismus und bleibende Schuld wurde die »aktuelle israelfeindliche Politik der Bundesregierung« scharfer Kritik unterzogen; im Laufe des Jahres wiederholte sich derartiges immer wieder.
Die Prototypnachahmer können nicht begreifen, daß sie mit der Instrumentalisierung des Massenmords zu politischen Zwecken nicht nur US-Amerikaner nachbilden, sondern auch das Kartell aus Altparteien und Medien, die hierzulande seit Jahrzehnten Diskussionen über Identität, Geschichtspolitik oder Grenzsicherung nach diesem Schema drosseln. Die nötige Verteidigung des Eigenen wird von diesen Kreisen mit moralpolitischen Verweisen unterminiert, es sind ihre Waffen – sie zu übernehmen ist sinnlos, und naiv ist zu glauben, man könne sie ummünzen. Man erhält keine Satisfaktion durch die Herrschenden, wenn man »auf jene Ruhe hofft, die der Lehrer dem Musterschüler gewähren mag« (Kubitschek).
Der Aufguß des aggressiven »Surrogat-Nationalismus« (Martin Lichtmesz) unter Anrufung der USA und Israels wurde vor einigen Jahren schon von Karlheinz Weißmann inhaltlich zurückgewiesen und widerlegt. Allein, bloße Argumente zählen in Real- und Metapolitik selten. Also galt es in diesem Jahr und gilt es auch in der Zukunft, der lebendigen Basis des patriotischen Spektrums bei diesen wie bei anderen umkämpften Themenbereichen ins Gedächtnis zu rufen, daß die Vertreter der AfD als einer nationalpopulistischen Kraft ihre Mandate und politischen Einflußmöglichkeiten erhalten haben, weil ihre Wähler eine Politik für Deutschland erwarten. Daß einige prominente Vertreter dieser Partei – ob in der Causa Iran Anfang des Jahres oder bei der US-Präsidentschaftswahl Ende des Jahres – neokonservativer als Neocons, republikanischer als US-Republikaner, (klischee-)amerikanischer als (Klischee-)Amerikaner wirken, kommt einer Negation des Wählerinteresses gleich. Woher kommt der Drang, sich dem parlamentarischen Betrieb und seiner Typenlehre zu unterwerfen? Ein zentraler Grund ist, daß die Politik der Reeducation, des Mammutprojekts der »Umerziehung« der Bundesdeutschen, als erfolgreiches mentalitätspsychologisches Experiment anzusehen ist. Die forcierte Entfremdung der Deutschen von ihrer eigenen Geschichte, Mentalität, Denkweise usw., die zu dem von Armin Mohler als »Nationalmasochismus« beschriebenen Phänomen der Gegnerschaft zum volklichen Selbst führt, ging darüber hinaus, den Hitlerismus zu überwinden. Stefan Scheil hat diese Umgestaltung der deutschen Psyche durch US-amerikanische Stellen als Transatlantische Wechselwirkungen umrissen, Caspar von Schrenck-Notzing als Charakterwäsche nachgezeichnet, und Hans-Joachim Arndt legte in Die Besiegten von 1945 den Fokus darauf, daß am 8. Mai 1945 eben nicht allein der Nationalsozialismus Hitlers, sondern »alle deutschen Staatsbürger als Besiegte behandelt wurden« (weshalb die Sezession am 8. Mai 2020 eine einführende Literaturschau zur Ambivalenz der totalen Niederlage veröffentlichte). Die Westalliierten schickten sich an, »ausdrücklich in die Bewußtseinsstruktur der Besiegten einzugreifen«, und Besiegte, das waren nach Ansicht der Besatzerstrategen alle Deutschen, die sich seit Jahrhunderten »gegen die Zivilisation« gestellt hätten, wie Arndt konkludierte. Daß diese Bewußtseinsmodifikation gelang, ist ausgemacht, und man sollte als Politiker des alternativen Lagers zu Scheil, Schrenck-Notzing und Arndt greifen, wenn man die Entwicklungsstränge sezieren möchte – am besten, bevor man Mandate antritt. Der Zusammenhang zwischen Nationalmasochismus und Nachahmung US-amerikanischer Narrative muß daher in die Bestandsaufnahme eines tatsächlichen oppositionellen Lagers dies- wie jenseits der Parlamente einbezogen werden. Wer kritikresistent stetige »Selbstumerziehung« betreibt, »kann nie sicher sein, daß man nicht eines Tages den Finger in die Wunde legt und nicht länger duldet, daß schlechte Aufführung durch den Verweis auf gute Absicht gerechtfertigt wird« (Caspar von Schrenck-Notzing).
Sicher: 2020 kennt auch gegenteilige Beispiele, und das heißt: 2020 kennt Situationen, in denen die gute Absicht mit guter Aufführung einherging. Denn in Thüringen agierte der Landesverband der AfD »konstruktiv-destruktiv«. Jemanden so »auf einen Stuhl« zu setzen, vermerkte Kubitschek, »daß es in Berlin einem anderen Stuhl die Beine abschlägt« mache das »taktische Arsenal der AfD um eine feine Variante reicher«. Gemeint war bei diesem Aufschlag in der Sezession jener Coup der Mannschaft um Björn Höcke, Torben Braga und Stefan Möller, der Angela Merkel dazu brachte, die landespolitischen Ereignisse aus ihrem Südafrikaaufenthalt heraus zum Kippen zu bringen: Die Wahl Thomas Kemmerichs (FDP) zum Ministerpräsidenten sei »unverzeihlich«, müsse revidiert werden – was denn auch geschah. Bodo Ramelow (Die Linke) konnte unter expliziter Duldung durch die CDU Rot-Rot-Grün fortsetzen. Natürlich ist dies kein »Sieg der Demokratie« über die AfD, die einem FDP-Kandidaten ihre Stimmen lieh, sondern ein Sieg des antifaschistischen Mosaiks. Was nach Kemmerichs Wahl in Gang gesetzt wurde, kann in einem Lehrbuch für die erfolgreiche Verquickung genuin linker meta- und realpolitischer Bausteine Geltung finden: Druck der Straße (Demonstrationen), Militanz des Milieus (Anschläge, Bedrohung Kemmerichs und seiner Familie), Skandalisierung durch prominente Politiker (NSDAP-Analogien), Lähmung der »Mitte« durch massenmedialen Druck, »Lösungsangebote« (Erpressungsforderungen) durch die Linksparlamentarier in Erfurt (Neuwahl des Ministerpräsidenten, Kleinbeigeben von CDU und FDP). Das Resultat: ein Sieg Ramelows nach verlorener Wahl – Metapolitik trifft Realpolitik trifft zynische Machtpolitik.
Eine Zäsur war auch »Hanau«, als ein Psychopath im Februar zehn Menschen, darunter seine Mutter, tötete. Für die Sezession analysierte Martin Lichtmesz diesen Fall (wie auch die Causa George Floyd im Sommer) und prognostizierte, daß die durch den Multikulturalismus erzeugten Friktionen noch etliche Zeitbomben aktivieren würden, »die durchaus ins Gebiet der Psychiatrie fallen«. Dazu gehören, so Lichtmesz, auch viele der islamistischen Attentate, die amoklaufartige Züge aufweisen: »Wenn die Zivilisation brüchig wird, fungieren psychisch Labile wie Seismographen.« Die Offensichtlichkeit dessen, daß in Hanau kein »Rechter«, sondern ein apolitischer Irrer die Tat beging, bemerkte indessen nicht jeder in und um die AfD. Meuthen und Umfeld übernahmen das »Narrativ« der antifaschistisch usurpierten Mainstreampresse und ätzten gegen AfD-»Flügel« und außerparlamentarisches Vorfeld. Dabei schien dies realitätsfern, und der Flügel befand sich ohnehin in Auflösung. Bereits im März verkündete Höcke über die Sezession das Ende des lockeren Netzwerks: »Der ›Flügel‹ weiß, was er geleistet hat. Er weiß aber auch, daß er ebenso wie die Partei kein Selbstzweck ist. […]. Was diese Partei vom Basismitglied bis zum Bundesvorstand braucht ist: Gelassenheit, vor allem dann, wenn Forderungen von außerhalb der Partei kommen.«
Gelassenheit – diese Gemütslage war im weiteren Jahresverlauf kaum zu erlangen. Beobachtung durch den Verfassungsschutz (VS) von AfD-Gliederungen und IfS / Sezession sowie die im März Fahrt aufnehmende Coronapandemie prägten die folgenden Quartale. Im Hinblick auf Corona entschied sich unser Kreis von Anfang an für das Prüfen sämtlicher Sichtweisen. Autoren wie Caroline Sommerfeld, Martin Lichtmesz oder Martin Sellner beleuchteten Entwicklungen des »Corona«-Narrativs und die damit einhergehenden gesundheitspolitischen Maßnahmen und öffentlichen Prozesse (darunter auch die vieldiskutierten Demonstrationen), die diese begleiteten. Betroffen sind ja auch unsere eigenen Branchen: das Verlagswesen und die gesamte Publizistik. Da der lokale Buchhandel in verschiedenen Lockdownstufen des Jahres stillgelegt wurde, kauften auch Grossisten keine Bücher mehr ein. Während zahllose Verlage und Periodika staatlich gerettet werden mußten, konnten wir aufgrund der geleisteten Vorarbeit das Tal aus eigener Kraft überbrücken. Keines der Bücher im Verlag Antaios wird bezuschußt, und die Sezession erscheint auch in ihrem 18. Jahrgang ohne jede Subvention. Sie hat – Stand November 2020 – über 4000 Abonnenten und verkauft je 350 Einzelhefte zusätzlich. Sie kommt seit Jahren ohne jede Beihilfe aus. Redaktion und Autorenstamm hoffen dabei, daß der Staat diejenigen Bürger unterstützt, die nicht viel zurücklegen konnten und nun abgefedert werden sollten. »Diejenigen aber«, so Kubitschek in einem Leitartikel Mitte des Jahres, »für die das ›Wir‹ der Nation eine überholte, eine geradezu krankhafte Angelegenheit ist, hoffen nun auf die Solidarität eben jener Ordnungsstruktur, von der sie nichts halten. Ihnen wird auch weiterhin der Stolz fehlen, sich nicht wie Schmarotzer zu verhalten«.
Aber auch an IfS und Sezession gingen die Coronaverordnungen nicht spurlos vorbei. Zahlreiche Veranstaltungen mußten abgesagt oder ins letzte Drittel des Jahres verlegt werden, bevor die verschärften Maßnahmen ab Ende Oktober dies unmöglich machten. »125 Jahre Ernst Jünger«, die würdige Feier eines unserer großen Autoren, konnte im frühen Herbst nur in kleinem Rahmen an der Berliner Stadtgrenze begangen werden, und eine Wiederholung Ende Oktober in Dresden fiel ganz aus. Notsituationen wecken die Kreativität bei denen, die findig sind, und so nutzten wir die Krise für die weitere Professionalisierung des »kanals schnellroda« bei YouTube, Spotify und Co. Der Jünger-Abend mit Kubitschek und Lehnert wurde kurzerhand ins Digitale verlegt und konnte am 28. Oktober und in den Folgetagen als erster Livestream aus Schnellroda Tausende Zuschauer erreichen; ein Format, das wir 2020 ebenso ausbauten wie verschiedene Podcasts (»Am Rande der Gesellschaft«, Heft- und Buchbesprechungen usf.).
In diesem Segment drängte die andauernde Coronakrise ohnehin unser gesamtes Milieu zur stetigen Vertiefung. Neben dem Schnellrodaer Motor sah 2020 weitere neue, zum Teil sehr junge und ambitionierte Projekte an den Start gehen, darunter die ökologische Quartalszeitschrift Die Kehre des Sezession-Autors Jonas Schick, das virtuelle Konflikt Magazin oder verschiedene Innovationen der rechten »NGO« EinProzent. Deren Retro-Computerspiel »Heimat Defender« wurde zehntausendfach heruntergeladen. Präsentiert wurde es unter anderem auf der IfS-Sommerakademie im September, die aufgrund der Coronarestriktionen unter anderen Vorzeichen als gewöhnlich stand. Nur 90 Gäste durften nach Schnellroda reisen und drei Tage lang mit den Referenten zum Themenbereich »Staat und Ordnung« arbeiten, der zugleich das Oktoberheft der Sezession füllte.
Bemerkenswert: All diese außerparlamentarischen Vorhaben werden von idealistischen Mitstreitern mit knappen Ressourcen gestemmt. Dies kann von AfD-Projekten nicht immer gesagt werden. Negativer Höhepunkt 2020 war unstrittig jene Parteikampagne, die »Gemeinsam für das Grundgesetz« heißt. Auf dem eigens eingerichteten YouTube-Kanal kann man sich Meuthen, Alexander Wolf oder Beatrix von Storch ansehen, wie sie dem VS zu erklären versuchen, wieso sie besonders loyale Bundesrepublikaner seien. Genau so und nicht anders will es das Establishment haben: eine domestizierte, gelähmte, in relevanten Teilen abgelenkte Parteispitze. Die Zugriffszahlen von maximal wenigen hundert Zusehern sind auch Ende 2020 noch bedauernswert, und der dafür investierte Betrag übersteigert das Jahresbudget 2020 von IfS, Ein Prozent und Co. zusammengenommen. Erneut stand man damit ab Sommer des Jahres vor einem eklatanten Problem: Jene Alternative, die in einer zu erwartenden Krise das Auffangbecken für Unzufriedene und in Notlagen geratene Personen sein sollte, in das der unausweichliche Protest der vielen Millionen Krisenverlierer abfließen könnte, beschäftigt sich stümperhaft mit jenem Instrument namens VS, das in IfS-Studien, Sezession-Analysen und Vorträgen als Konkurrenzschutz demaskiert wurde. Naturgemäß ist dies auch Engagement »in eigener Sache«, denn zum einen nutzten Akteure um Erika Steinbach die VS-Keule, um IfS-Leiter Erik Lehnert aus dem Vorstand der AfD-nahen Desiderius Erasmus Stiftung (DES) entfernen zu lassen. Sie konnte auf Angst der Mehrheit vor Ungewißheit und sozialer Ächtung vertrauen. »Perfide ist«, formulierte Lehnert, »wer Angst schürt, wo keine sein müßte. Aus Angst ist noch nie etwas Gutes erwachsen.« Zum anderen gilt »in eigener Sache«, weil man seit Mitte 2020 das IfS und diese Zeitschrift als »Verdachtsfall« beobachtet. Dies ist eine logische Abfolge jüngster Entwicklungen, die man schablonenartig in zwei Stränge einordnen kann: Erstens ist die fortwährende Verschärfung der Nutzung des Instrumentariums VS durch die Große Koalition und ihre Ergänzungsspieler zu nennen. Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) und die 16 Landesämter für Verfassungsschutz (LfV) dienen seit jeher, verstärkt seit dem Aufkommen wirkmächtiger Oppositionsströmungen, als Schild und Schwert des Establishments. Es geht nicht um Inhalte, nicht um Bekämpfung aggressiver Aktivitäten gegen Grundgesetz und Grundrechte – es geht um reine Machtfragen. Opposition, und zwar jede grundsätzlich ausgerichtete, soll behindert und ausgeschaltet, abweichende Meinungen sanktioniert werden. Der VS ist kein neutrales Instrument, sondern Machtmittel, keine abwägende Behörde, sondern politischer Akteur.
Zweitens muß in diesem Zuge an die erfolgreichste metapolitische Setzung der jüngsten Zeit erinnert werden: die linke Umdeutung des Charakters des Grundgesetzes (GG). Der frühe antitotalitäre Grundkonsens, der in der etablierten Politikwissenschaft der letzten Jahrzehnte extremismustheoretisch normiert wurde, ist aufgelöst. Verkürzt dargestellt umfaßte dieser, daß die Verfassung durch eine »wehrhafte Demokratie« gegen all jene zu verteidigen sei, die beabsichtigen, die Grundrechte und ehernen Regeln des Grundgesetzes machtpolitisch zu unterminieren. Diese Vorstellung, vertreten durch Politikwissenschaftler um den Chemnitzer Forscher Eckhard Jesse, wurde gekippt; das lag an Unzulänglichkeiten der eigenen Extremismustheorie ebenso wie an Dekonstruktionsarbeiten linker pressure groups bei nachhaltiger Wühlarbeit durch politmediale Akteure einschließlich der GEZ-Sender.
Auch die Frage der Gemeinnützigkeit des IfS tauchte in diesem Kontext über das Jahr hinweg immer wieder auf. Das Finanzgericht Sachsen-Anhalt ist dabei der Argumentation des Instituts gefolgt und hat die Entscheidung des Finanzamts aufgehoben, und zwar rückwirkend zum 1. Januar 2020. Nichts hatte dieser Gemeinnützigkeitsstreit mit der Äußerung des Bundesamtes für Verfassungsschutz zu tun, man beobachte nun, weil man »Anhaltspunkte« für den »Verdacht« habe, wir seien dabei, die freiheitliche demokratische Grundordnung in Frage zu stellen. Mehr hat der VS nicht vorzubringen, und weil das so ist, begeht das IfS im Dezember sein zwanzigjähriges Bestehen mit einer Festschrift und blickt auf das Jahr 2021, das neue Projekte, bewährte Konzepte, ungeahnte Entwicklungen und zahlreiche Chancen zum metapolitischen Angriff bieten wird. Zwischen Corona und Krisenpolitik wächst ein lebendiges und selbstbewußtes Milieu, das als Superspreader von neurechter Theorie und Praxis, konservativer Bildung und Forschung seinen angemessenen Teil zur dringend nötigen Tendenzwende leisten will: »Das Aufbegehren ist die freie Wahl« (Volker Braun).