Vor hundert Jahren erhielt der Norweger Knut Hamsun den Literaturnobelpreis für sein unsterbliches Buch Segen der Erde. Dieser Jahrhundertroman gibt uns Gelegenheit, an einem Beispiel die Schwierigkeit des Übersetzens zu verdeutlichen. Wir werden sehen, daß norwegische Leser, die das Buch in der Originalsprache lesen können, ein anderes lesen als deutsche, englische oder italienische.
Folgende These nämlich: Der Reichtum der englischen Sprache, verglichen mit der deutschen, ergibt sich aus zwei Tatsachen: ihrem historisch begründeten großen Wortschatz und ihrer Kompaktheit, d. i. die Fähigkeit, Dinge in prägnanter Kürze auf den Punkt zu bringen. Deutsch hingegen bezieht seine Attraktivität aus der grammatischen Komplexität. Es ist – neben dem antiken Griechisch – die abwägende, die philosophische Sprache schlechthin, während sich Englisch anscheinend unaufhaltsam als Weltverkehrssprache etabliert, als Sprache der Schnelligkeit und Bewegung.
Dies sind, um es vereinfacht zu sagen, die Gründe dafür, daß die deutsche Metaphysik seit Meister Eckhart bis hin zu Marx, Schopenhauer, Nietzsche und Heidegger tief, aufregend und umwälzend war (während englische Philosophie auf dem Kontinent fast immer als »langweilige« Analytische Philosophie rezipiert wird und nur dort wirklich Aufsehen erregte, wo sie, wie etwa im Falle Berkeleys, zu extremen Ansichten gelangte) und daß man einen guten Krimi oder flinke Witze fast nur auf Englisch zu Gesicht und Gehör bekommt. Diesen zugegebenermaßen etwas oberflächlichen Gedanken weitergesponnen, wird man das Russische und seine Literatur als empfindsam und besonders leidempfindlich auffassen können und das Französische als sensibel und anregend. Einen Dostojewski, Pasternak oder Solowjew kann es eben nur auf Russisch geben, wie ein Voltaire, Baudelaire und Proust nur auf Französisch denkbar ist, und selbst noch Derrida kaut inhaltsschwere Wörter wie der Connaisseur den gehaltreichen Wein.
Sprache »denkt«! Und was einer wie denken kann, das liegt ganz wesentlich in seiner Sprache verborgen. Das heißt auch, daß Übersetzungen sprachlich – also jenseits der eigentlichen Übersetzungsqualität – stark differieren müssen. Das Ideal – nur selten erreicht – ist die adäquate Übertragung. In den allermeisten Fällen ist Übersetzen ein Verlustgeschäft, in sehr seltenen kann es aber auch einen Zugewinn geben – und Hamsun ist so ein Fall. Bestimmte Sprachen und / oder Autoren / Übersetzer sind besonders gut in der Lage, gewisse Textformen wiederzugeben. So hätte ich etwa meine Zweifel, ob Lampedusas zauberhaft barockes Il gattopardo eine wirklich brauchbare englische Übersetzung gefunden haben kann, weiß umgekehrt jedoch, daß englische Krimis sich wunderbar ins Italienische übertragen lassen. Viele Jahre lang las ich Ed McBain, fast alle seiner 100 Krimis um den 87th precinct oder um Matthew Hope, und wohl die Hälfte davon auf Italienisch, weil Andreina Negretti diesen Autor wirklich durchdrungen hatte und weil sie über eine Sprache verfügt, die ähnlich schnell und pointiert agieren kann.
Hamsuns Sprache ist nun keineswegs exaltiert. Sie stellt den Übersetzer nicht vor unlösbare Komplexitätsprobleme, wie das Thomas Mann tut oder – aus anderen Gründen – James Joyce oder Henry James oder Joseph Conrad. Die germanischen Sprachen haben selbstredend einen klaren Vorteil. Greifen wir ganz willkürlich ein Beispiel heraus – man könnte das an nahezu jedem Satz vorexerzieren. Man darf aber auch das intrinsische, unüberwindbare Problem nicht ausblenden, daß es einer Leitsprache bedarf: Die italienische Übersetzung muß also wiederum ins Deutsche rückübersetzt werden, zumindest für all jene, die des Italienischen nicht mächtig sind. Nehmen wir einen unschuldigen Satz wie diesen:
»Sie traten in die Hütte, aßen von ihrem Mundvorrat und tranken von ihrer Geißenmilch; dann kochten sie Kaffee, den sie in einer Blase bei sich hatte. Sie hatten es sehr behaglich beim Kaffee, ehe sie schlafen gingen. Nachts lag er da und war gierig nach ihr und bekam sie.«
Zur Erinnerung: Isak hatte sich ein Stück Land gerodet und dann kam irgendwann Inger vorbei, eine Frau mit Hasenscharte, und gesellte sich ihm zu. Die Engländer lesen:
»They went into the hut and took a bit of the food she had brought, and some of the goats’ milk to drink; they then made coffee, that she had brought with her in a bladder. Settled down comfortably over their coffee until bedtime. And in the night, he lay wanting her, and she was willing.«
Die Differenzen sind zahlreich. Poetisch aufgeladene, verzaubernde Vokabeln wie »Mundvorrat« und »Geißenmlich« oder »ehe sie schlafen gingen«, die den heutigen Leser zudem ganz anders anrühren, als den vor 100 Jahren, werden im Englischen sehr prosaisch und nahezu zeitlos mit »the food«, »goats’ milk« oder »until bedtime« wiedergegeben. Der zweite englische Satz verzichtet gänzlich auf ein Subjekt und schafft dadurch ein anderes Zeitempfinden, zerhackt die Szenerie. Die ganze Szene läuft auf den letzten Satz hinaus: die beiden werden ein Paar. Der englische Übersetzer ist mutig und nutzt die im Englischen oft verpönte Konjunktion »und« am Satzanfang, um die Klimax herauszuarbeiten. Umgekehrt nutzt die deutsche Übersetzung die Konjunktion gleich zwei Mal im Satz und betont damit die Folgerichtigkeit des intimen Aktes. Aber am offensichtlichsten ist wohl der Unterschied zwischen »war gierig nach ihr« und »lay wanting« sowie »bekam sie«, also passiv, versus »she was willing«, also aktiv. Die Italiener lesen nun:
»Entrano nella capanna, mangiarono le provviste portate da Inger e bevvero il latte delle capre di Isak; fecero anche scaldare del caffè che Inger aveva in una vescia, e si riposarono fino all‘ora dell sonno. La notte, egli la desiderò e la ebbe.« (16)
Wie zu erwarten, ist der Text der kürzeste. 56 englischen und 49 deutschen stehen 43 italienische Wörter gegenüber. Allerdings muß man vorsichtig sein, denn wie man sieht, präsentiert uns die italienische Übertragung eine bis zur Unkenntlichkeit veränderte Situation. Deutsch und Englisch kommen beide ohne Namen aus, ersetzen sie durch Personalpronomen, während im Italienischen gleich drei Mal die Namen fallen! Sie trinken auch nicht einfach Ziegenmilch, von der man nicht weiß, woher sie kommt, sondern Milch von Isaks Ziegen. Tatsächlich hatte Isak sich Ziegen, die ersten seiner Tiere, zugelegt. Das Wort »provviste« bedeutet »Vorräte« und kennzeichnet einen wesentlichen Charakterzug Ingers, der dem englischen Leser vollkommen entgeht. Im Italienischen hat Inger diesen Vorrat gebracht (»portate da Inger«), vermutlich mit Vorsatz (Verführung), während man im Deutschen »nur« »von ihrem Mundvorrat« ißt, den sie zur Eigenversorgung bei sich trug. Dennoch: »Mundvorrat« schlägt poetisch »Vorrat«.
Den deutschen Satz »Sie hatten es sehr behaglich beim Kaffee, ehe sie schlafen gingen« muß der Italiener ganz anders empfinden: »e si riposarono fino all‘ora dell sonno« könnte man (inhaltlich) wortwörtlich mit »und sie ruhten sich aus bis zur Stunde des Schlafes« übersetzen, wobei die »Unbeholfenheit« des Deutschen auffällt, die das schöne Wort »riposare« wohl mit »sich ausruhen« wiedergeben müßte. Bis auf das Finale scheint hier fast alles mißlungen, dieses wiederum sitzt perfekt (am Bild gemessen, nicht am Originaltext): Man hätte auch schreiben können »Nella notte« oder »Durante la notte«, aber die kurze Form »La notte«, grammatisch wahrscheinlich sogar zweifelhaft, wirkt wie ein Kanonenschuß, wie eine Zäsur. Der Leser weiß hier schon, daß nun etwas Besonderes geschehen wird. »Egli la desiderò e la ebbe« ist in seiner Antikisierung (»egli«, »ebbe«) und im strengen Präteritum fast von biblischer Schönheit.
Man sieht: es ist nicht schwarz und weiß. Jeweilige Sprache und Übersetzer leisten von Zeile zu Zeile Unterschiedliches und doch summiert es sich am Ende zu einem Gesamteindruck. Das letzte Wort sollte freilich Hamsun haben.
»De gik ind i gammen og åt av hendes niste og drak av hans gjeitmælk; så kokte de kaffe som hun hadde med in en blære. De koset sig med kaffe før de gik tilsengs. Han lå og var grådig efter hende om natten og fik hende.« (147)
Nur 47 Wörter benötigt Hamsun! Und dabei leistet er sich sogar einen ausgiebigen Gebrauch der Konjunktion »und«, die für ihn typisch ist und deren Beherrschung eines seiner Erfolgsgeheimnisse war. Man kann mit ihr wunderbar Bewegungen erzeugen und Geschwindigkeiten kontrollieren.
Hier kommt der erste Satz in Wellenform, der demnach eine innere Notwendigkeit der kommenden Entwicklung andeutet, die zwangsläufig im Bett und damit im Sich-versprechen der beiden enden muß. Das wird durch die Betonung des Nahrungsmittelaustausches auch symbolisch angedeutet: sie vermischen sich – sie trinken seine Ziegenmilch und ihren Kaffee. Man spürt förmlich, wie die anfängliche Scheu voreinander einerseits durch Geschäftigkeit (»und«) und andererseits durch Gemütlichkeit verloren geht. Das Verb »at kose« – es sich gemütlich machen – dürfte etymologisch mit dem deutschen »kosen« verwandt sein. Heute wird sein Äquivalent, das dänische »hygge« fast zur Ersatzreligion stilisiert. Wärme und Sattheit machen müde, aber die erotische Spannung, die sich schon aus der Situation – allein mit einer Frau / einem Mann in einem Raum zu sein – ergibt, bleibt spürbar. So mögen sie gelegen haben, verschämt und gleichzeitig wissend, was kommen muß und wir wissen nicht, wie sie zueinander fanden. Vielleicht ging es sogar mit Gewalt zu, denn das germanische »grådig« (»gierig«), das ist schon sehr explizit – zu sehr für den prüden und liberalen Engländer, der daraus ein »wanting« machte und noch mehr für den galanten Italiener, der die Liebe ganz anders definiert und seinem Leser ein »wünschen« oder »begehren« (»desideró«, Präteritum) vorgaukeln muß …
Das alles ließe sich ganz exemplarisch schon am Titel des Buches nachweisen. Markens Grøde, diese einfache Genitivkonstruktion, läßt im Original mehrere Töne anklingen. Das alte deutsche Wort »Mark«, das weit und geheimnisvoll in die Tiefe der Sprache zurückgreift – Stefan George hatte das Wort in Poesie verzaubert –, läßt einiges davon erahnen. Im Norwegischen ist es unter anderem »die Erde«, »der Boden«, »das Land« – alles mythische Vokabeln. Im Substantiv »Grøde« verbirgt sich das Verb »at gro«: »wachsen«. Heute wird es vor allem im landwirtschaftlichen Sinne der »Ernte« und der »Zucht«, »Wachstum« (»avling«) verstanden. Wortwörtlich übersetzt lautete der Titel also »Der Erde Ernte« oder »Des Landes Wachstum«, »Die Frucht des Ackers« oder »Ernte des Feldes« etc.
Diesen Weg ging die englische Übersetzung mit »Growth of the Soil« – that’s it! »Il risveglio della terra« hingegen, liefert ein anderes Bild, denn »risveglio« ist eindeutig und heißt »Erwachen«. Beim italienischen Hamsun erwacht also die Erde.
Was die erste deutsche Übersetzerin Pauline Klaiber daraus gemacht hat, ist ein Geniestreich! – das konnotativ reiche, metaphysisch aufgeladene und fast mystische »Segen der Erde« (Ähnlich nur noch das ungarische »Áldott anyaföld« – Gesegnete Muttererde!). Sie verleiht dem Buch damit eine quasi-religiöse Aura – und genau so muß man es lesen … aber nur auf Deutsch und auf Norwegisch! An solchen Stellen wird das Tiefe und Mythische der deutschen Sprache evident. Sie reicht in eine einmalige Seelenverfassung hinab, in ein singuläres kulturelles Ereignis und Werden, dessen Schatz es zu bewahren gilt. Deutsche Sprache ist Philosophie, ist Metaphysik, ist Mysterium, ist Heimat und Hege. Wer auch nur eines davon beseitigen oder relativieren will, gräbt die Wurzel aus, von der er lebt.