Als sich der 78jährige Historiker Dominique Venner am 21. Mai 2013 vor dem Hauptaltar der Kathedrale von Notre Dame de Paris eine Kugel in den Kopf schoß, verstanden nur wenige Menschen, warum er dies getan hatte. Für die bürgerlichen Konservativen war der ehemalige Aktivist der OAS ein kranker und bedauernswerter Mensch, für die Presse nichts weiter als ein »Rechtsextremist«, der lächerlicherweise gegen die »Homo-Ehe« protestieren wollte. Ein Blick in Venners letzte öffentliche Erklärungen zeigt, daß es ihm um weitaus mehr ging. Er wollte mit allen Fasern seiner Existenz eine Antwort auf die tödliche, herabwürdigende Dekadenz des Abendlandes schlechthin geben: »Ich halte es für notwendig, mich zu opfern, um uns aus der Lethargie zu reißen, die uns gefangen hält. Ich verzichte auf den Rest Leben, der mir noch bleibt, für einen grundlegenden Akt des Protestes.«
Venner hatte die Tat mit der nüchternen Zielgerichtetheit eines Soldaten oder antiken Stoikers ausgeführt. Einige seiner Impulse hatte er jedoch aus dem Osten empfangen. In seinem letzten Buch, das den Titel Ein Samurai aus Europa trägt, widmete Venner dem traditionellen Japan ein ausführliches Kapitel. Im Bushidō, dem »Weg des Kriegers« der alten Samurai, erblickte er ein vorbildliches kriegerisch-aristokratisches Ethos, veredelt durch die Praxis des Zen, die dem Dasein im Hier und Jetzt gleichzeitig zu- und abgewandt ist. Das Symbol des Samurai ist die fallende Kirschblüte, denn er muß imstande sein, sich mit derselben stillen Leichtigkeit von der Verhaftung an seine Existenz zu lösen.
Das bedeutet auch, daß er jederzeit bereit sein muß, für seinen Herrn und seine Ehre zu töten und zu sterben. Er ist, wie Jonathan Bowden formulierte, Priester-Mönch und Killermaschine in Personalunion, stets darum bemüht, seine innere und äußere Haltung zu bewahren. Das Ethos des Samurai kulminiert im rituellen Freitod durch Bauchaufschlitzen, genannt »Harakiri« oder »Seppuku«, wie er seit dem 12. Jahrhundert gebräuchlich wurde. Der Samurai, der sein Gesicht durch eine Pflichtverletzung, ein Versagen oder einen Gesetzesverstoß verloren hatte, konnte auf diese Weise die Ehre seines Namens wieder herstellen. Er konnte damit auch die Treue zu seinem Fürsten bekräftigen, wenn dieser es erlaubte. Diese Art des Todes war äußerst qualvoll und erforderte eine enorme Willenskraft. Vollzogen im Fersensitz, wurde dabei der Oberkörper entblößt und ein scharfer Tantō-Dolch am Bauch unterhalb des Nabels angesetzt. Der Schnitt erfolgte von links nach rechts, mit einer abschließenden ruckartigen Bewegung nach oben. Während Blut und Eingeweide aus seinem Leib quollen, durfte der Samurai keine Miene verziehen. Wenn er den Kopf senkte, war dies das Signal an seinen Adjutanten, ihn mit einem Schwerthieb zu enthaupten, um sein Leiden zu verkürzen. Zwar wurde der Seppuku 1868 im Zuge der Modernisierung Japans unter Kaiser Meiji (1852 – 1912) verboten, allerdings noch bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs praktiziert.
Das Beispiel der Samurai oder der antiken Römer zeigte in Venners Augen, daß der selbstgewählte Tod »zugleich den stärksten Protest gegen eine Schande wie auch ein Entzünden der Hoffnung« bedeuten kann. Er verwies dabei explizit auf den 1925 geborenen Schriftsteller Yukio Mishima, der am 25. November 1970 durch Seppuku aus dem Leben geschieden war, gefolgt von seinem Adjutanten Masakatsu Morita. Ihre Tat war der erste und blieb der bislang letzte rituelle Selbstmord in Japan seit 1945.
Die Unterschiede zu Venner sind allerdings erheblich: Mishima war zum Zeitpunkt seines Todes kein intellektueller Außenseiter, sondern einer der bekanntesten und erfolgreichsten Schriftsteller seines Landes, der als Romancier, Dramatiker, Lyriker und Essayist als Anwärter auf den Nobelpreis gehandelt wurde. Er galt als egozentrischer Selbstdarsteller, der unzählige Rollen in seinem Repertoire hatte: Wenn er vor literarischen Gesellschaften sprach, kleidete er sich wie erfolgreicher Bankier, wenn er Journalisten in seiner stilvoll eingerichteten Luxusvilla empfing, gab er den lässigen Dandy. Er führte eine konventionelle bürgerliche Existenz mit Frau und Kindern, während er im nächtlichen Tokio Schwulenbars frequentierte. Der Bodybuilding-Enthusiast posierte mit gestähltem nacktem Oberkörper vor erstklassigen Photographen, als grimmiger Krieger mit gezücktem Schwert oder in schwülstigen homoerotischen Inszenierungen. Zusätzlich war er ein preisgekrönter Kendō-Kämpfer und spielte Hauptrollen in Yakuza- und Samurai-Filmen. Er war einerseits tief in der japanischen literarischen Tradition verwurzelt, andererseits ein glühender Verehrer und Kenner europäischer Autoren wie Nietzsche, Rilke, Oscar Wilde oder Thomas Mann.
In den letzten fünf Jahren seines Lebens kam eine neue Rolle hinzu, die allerdings schon lange auf ihre Entfaltung gewartet hatte. Während sich die studentische Jugend zunehmend nach links radikalisierte, bekannte sich Mishima zu rechtsradikalen Positionen und plädierte für eine Rückkehr zum Imperialismus, Militarismus und Kaiserkult der Vorkriegszeit. Er versammelte eine Truppe von etwa hundert rechten Studenten um sich, für die er gelbbraune Uniformen mit goldenen Knöpfen entwarf. Sie durften mit Genehmigung der japanischen Streitkräfte in staatlichen Militäranlagen trainieren. Mishima verstand die »Tatenokai«, die »Schildgesellschaft«, als kaisertreue »spirituelle«Armee, die den Geist der Samurai neu beleben sollte. Die meisten Beobachter im In- und Ausland sahen darin nur eine weitere Eskapade des notorischen Exzentrikers. Und doch machte diese »Operettenarmee« eines Tages Ernst, wenn auch auf eine völlig unerwartete Weise.
Der britische Journalist Henry Scott Stokes hat die Geschehnisse, 1985 packend von Paul Schrader verfilmt, minutiös überliefert: Mishima besuchte am genannten Schicksalstag mit vier seiner engsten Getreuen einen General namens Mashita in seinem Büro der Ichigaya-Kaserne in Tokio. Es war 11 Uhr vormittags, die fünf Männer erschienen in voller Uniform. Mishima zeigte Mashita eines seiner wertvollsten Sammlerstücke: ein Schwert, dessen frisch geschliffene Klinge aus dem 17. Jahrhundert stammte. Auf ein Signalwort packten die Schildwächter den General, fesselten ihn auf einen Stuhl und verbarrikadierten die Türen. Es war etwa 11 Uhr 30, als Mishima durch eine zerbrochene Fensterscheibe seine Forderungen stellte: Punkt zwölf sollten sich sämtliche Soldaten der Garnison, etwa tausend Mann, vor dem Gebäude des Hauptquartiers versammeln und schweigend eine Ansprache anhören. Danach sollte ein Waffenstillstand von neunzig Minuten eintreten. Nach Ablauf dieser Frist werde der General unverletzt freigelassen werden. Sollten diese Bedingungen nicht erfüllt werden, werde er, Mishima, den General töten und anschließend Selbstmord begehen. Der Stab willigte ein, informierte jedoch auch die Polizei. Bald trafen unter Sirenengeheul ganze Wagenkolonnen und Hubschraubergeschwader bei der Kaserne ein. Mishima und seine Getreuen hatten nun traditionelle Stirnbänder angelegt, wie sie auch von den Kamikaze-Piloten vor ihren Todesflügen getragen wurden. In der Mitte der »hachimaki« prangte die rote Sonne Japans, flankiert von einem Leitspruch der mittelalterlichen Samurai: »Diene der Nation sieben Leben lang!«. Sie betraten durch ein Fenster den großen Balkon vor Mashitas Büro und entrollten Spruchbänder über die Brüstung.
Als Mishima auf der Balustrade erschien, die weiß behandschuhten Hände herausfordernd in die Hüften gestemmt, wurde er von den versammelten Soldaten ausgebuht und beschimpft. Rundum herrschte ohrenbetäubender Lärm: Hubschrauberdonner, Sirenen und Motoren von Polizeiautos, Pressefahrzeugen und Notarztwagen. Mishima brach seine Rede nach wenigen Minuten ab, denn niemand konnte oder wollte ihn hören. Er hatte nichts Geringeres vor, als die Armee, die er als »Nippons Seele« ansprach, zu einem Putsch aufzurufen, um endlich ein Ende zu machen mit Fremdbestimmung, Materialismus und Liberalismus. Mit Atombomben zur bedingungslosen Kapitulation gezwungen, war die Kaiserlich-Japanische Armee, die es einst mit Rußland, China und den USA aufgenommen hatte, kastriert und zur Passivität verdammt worden. Sie trug nun den Namen »Selbstverteidigungsstreitkräfte« (Jieitai) und diente einem Land, das von der sogenannten Liberaldemokratischen Partei regiert wurde.
Mishima wollte die Jieitai wachrütteln: »Wir werden euch Werte zeigen, die größer sind als Achtung vor dem Leben. Nicht Freiheit, nicht Demokratie. Es geht um Nippon! Nippon, das Land der Geschichte und der Tradition.« Er kam indes gar nicht dazu, diese Sätze aus seinem Abschiedsmanifest vorzutragen. »Habt ihr das Ethos der Krieger studiert?«, rief er den Soldaten zu, während über ihm die Polizeihubschrauber knatterten. »Kennt ihr den Sinn des Schwertes? Seid ihr Männer? Seid ihr Bushi? Ich sehe, ihr seid keine Männer. Ihr werdet nicht rebellieren. Mein Traum von der Jieitai hat sich nicht erfüllt.« Mishima und Morita schrien nun mit aller Kraft das dreifache Traditions-Salut: »Tenno Heika Banzai! Lang lebe der Kaiser!« Anschließend stiegen sie durch das Fenster in das Büro des Generals zurück. Mishima entkleidete seinen Oberkörper und streifte seine Hose ab. Er trug nun nur noch ein weißes Lendentuch, bezog Stellung und setzte den dreißig Zentimeter langen Dolch an seinem Unterbauch an. Er rief erneut den dreifachen Salut auf den Kaiser. Dann rammte er den Dolch mit aller Wucht in die Bauchdecke und vollendete unter größter Anstrengung den Querschnitt. Morita, dem die Aufgabe der Enthauptung mit dem antiken Schwert zufiel, verfehlte Mishimas Kopf zweimal und streifte nur seinen Rücken und seine Schultern. Dieser lag nun röchelnd auf dem roten Teppich, während seine Gedärme hervorquollen. Der dritte Hieb trennte den Hals durch, aus dem eine Blutfontäne schoß. Der Schildwächter Furu-Koga übernahm das Schwert und schlug Mishimas Kopf ab. Dann war Morita selbst an der Reihe.
Zu Mishimas offizieller Trauerfeier in Tokio erschienen zehntausende Besucher, mehr als je zuvor zu einem solchen Anlaß. Das bedeutete allerdings nicht, daß sein Seppuku und seine Botschaft gebilligt wurden, ganz im Gegenteil: die japanische Gesellschaft reagierte überwiegend mit Ablehnung auf diese Tat eines offenbar Wahnsinnigen – und war doch zutiefst erschüttert worden. Seinen gewaltsamen Akt ernstzunehmen, so bemerkte die Schriftstellerin Marguerite Yourcenar, bedeutete für sie, »ihrer Apathisierung durch die Niederlage und den Prozeß der Modernisierung ebenso abzuschwören wie der darauf folgenden wirtschaftlichen Prosperität. Besser war es da schon, in dieser Geste lediglich eine heroische und absurde Mischung von Literatur, Theater und dem Bedürfnis zu sehen, sich selbst ins Gespräch zu bringen.«
Es war jedoch gerade ihr künstlerisch-ritueller Charakter, der Mishimas Tat weit über einen bloß politischen Protestakt hinaushob. Sie vollendete das metaliterarische, extremistische Gesamtkunstwerk namens »Yukio Mishima«, dessen bürgerlicher Name Kimitake Hiraoka lautete. »Yukio« war von dem japanischen Wort für »Schnee« abgeleitet, »Mishima« ist eine Ortschaft, die einen besonders prachtvollen Ausblick auf den Gipfel des Fujijama bietet. Mishima war sich völlig im Klaren, daß sein quichottischer Auftritt nur symbolischen Charakter hatte und sich die Jieitai seiner neo-imperialistischen Rebellion nicht anschließen würden. In diesem Sinne hatte er tatsächlich »Theater« gespielt. Daß die Soldaten ihm nicht einmal zuhörten, sondern nur mit Zorn, Spott und Verständnislosigkeit reagierten, war eine ungeplante, aber passende dramaturgische Wende: Sie unterstrich seine Einsamkeit und die absolute Unzeitgemäßheit seiner Aktion. Ist das Opfer für eine edle Sache nicht noch schöner und vornehmer, wenn diese rettungslos verloren ist?
Das Streben nach Schönheit ist der entscheidende Schlüssel zu Mishimas dramatischem Abgang. Es handelt sich dabei allerdings um eine fremdartige, erschreckende Art von Schönheit, die sich ebenso auf japanische Traditionen wie auf persönliche Obsessionen des Autors zurückführen läßt. Mishima betonte gerne das Doppelgesicht der japanischen Kultur, die Dualität von »Chrysantheme und Schwert«, die das zarteste und eleganteste Raffinement mit einer ungeheuerlichen Brutalität und Grausamkeit zu verbinden versteht. Diese Sensibilität allein kann seine Tat jedoch nicht erklären. Der freiwillig aus dem Leben scheidende Mensch gibt seiner Nachwelt stets unlösbare Rätsel auf. Venner hatte in einem seiner letzten Texte Martin Heidegger ins Spiel gebracht: »Wir sollten uns auch daran erinnern, daß das Wesen des Menschen in seiner Existenz liegt, wie es Heidegger so genial in ›Sein und Zeit‹ formuliert hat, und nicht in einer ›anderen Welt‹. Es ist im Hier und Jetzt, wo sich unser Schicksal bis zur letzten Sekunde entscheidet. Und diese letzte Sekunde ist genauso wichtig wie der Rest eines Lebens. Deshalb müssen wir bis zum letzten Moment wir selbst sein.« Man selbst sein oder gar man selbst werden, indem man sich freiwillig den Tod gibt – das ist ein paradoxer Gedanke, der in den Erwägungen vieler berühmter »Selbstmörder« eine bedeutende Rolle gespielt hat. Mishima blieb für sein japanisches wie für sein europäisches Publikum ein Mysterium, obwohl – oder auch gerade weil – er von Anfang an alle Karten mit einer verblüffenden Offenherzigkeit auf den Tisch gelegt hatte.
Der oberen Mittelschicht entstammend, mütterlicherseits aristokratischer Herkunft, hatte er die ersten zwölf Jahre seines Lebens als schwächliches und sozial isoliertes Kind unter der erdrückenden Obhut einer herrschsüchtigen, kranken Großmutter verbracht, die ihn seinen Eltern geradezu entrissen hatte und eher wie ein Mädchen als einen Jungen erzog. In seinem autobiographischen Roman Geständnis einer Maske (1949) beschrieb er, wie sich zentrale Themen seines Lebens schon in frühester Kindheit entwickelt hatten, insbesondere seine Faszination für Krieg, Gewalt, Folter und den Tod auf dem Schlachtfeld, der ihm um so schöner und edler erschien, je grausamer und schmerzhafter er ausfiel. »Mein Herz sehnte sich nach Tod und Nacht und Blut«, schrieb er. Während des Krieges war der Tod ständig präsent. Als Mishima im Februar 1945 einberufen wurde, erschien er krank zur Stellung, und übertrieb noch seinen schwachen Gesundheitszustand durch falsche Angaben. Der Militärarzt erklärte ihn für untauglich. Eine nagende Wunde der Unzulänglichkeit blieb zurück. Der junge Mishima hatte seine Chance auf einen ehrenhaften Tod für den Kaiser verpaßt, und in der liberalen, ökonomisch orientierten Demokratie war kein Platz mehr für heroische Ambitionen. In seinem Prosastück Die Stimmen der Gefallenen klagen die Geister der Kamikaze den Kaiser an, seine Göttlichkeit widerrufen zu haben, womit auch ihr Opfergang der Sinn verloren habe. Ihnen schließen sich die Geister der Offiziere des legendären »Ni Ni Roku«-Putschversuches vom 26. Februar 1936 an, deren Schicksal Mishima intensiv beschäftigte. Diese Anhänger einer antimodernistischen, fanatisch nationalistischen Fraktion innerhalb der Armee hatten mehrere Regierungsmitglieder ermordet, die sie als korrupt erachteten und das Parlament, das Heeresministerium und die Hauptquartiere der Polizei besetzt. Obwohl sie sich als kaisertreu deklarierten, lehnte der vierundreißigjährige Tennō ihre Forderungen ab und befahl ihre Kapitulation. Die Anführer wurden zum Tode verurteilt, zwei von ihnen begingen Selbstmord. Der junge nationalistische Held von Mishimas Roman Unter dem Sturmgott, der im Jahre 1932 spielt, ist ein enger Geistesverwandter der Ni Ni Roku-Rebellen, seine Vorbilder reichen aber noch weiter zurück: Begeistert studiert er die Geschichte des Shinpūren-Aufstandes des Jahres 1877, als sich eine Gruppe von Samurai gegen die Meiji-Regierung erhob, die das Tokugawa-Shogunat entmachtet hatte und die Verwestlichung des Landes vorantrieb. Ihre Anführer wurden enthauptet oder begingen Seppuku. Ihnen fühlte sich Mishima innerlich ebenso verbunden wie den Offizieren des 26. Februar.
Der Ni Ni Roku-Aufstand ist auch der Hintergrund von Mishimas berüchtigster Erzählung: Patriotismus (jap. Yukoku) aus dem Jahr 1960 schildert den Suizid eines jungen Offizieres, der den Rebellen nahesteht, von ihnen aber nicht über den bevorstehenden Putsch informiert wurde, da sie den Frischvermählten schonen wollten. Nun läuft er in Gefahr, gegen seine Kameraden eingesetzt zu werden. Ihm bleibt also nur ein einziger ehrenhafter Ausweg. Der politisch-historische Hintergrund wirkt allerdings nur wie ein beliebiger Aufhänger für den eigentlichen Kern der Erzählung, die detailierte, beinahe fetischistische Schilderung des Harakiri, samt Blut, Schweiß, Erbrochenem und dem Gestank der herausquellenden Eingeweide. Zuvor vollzieht der Offizier noch einen letzten leidenschaftlichen Liebesakt mit seiner schönen, jungen Frau, die ihm selbstverständlich ohne mit der Wimper zu zucken in den Tod folgt.
1966 inszenierte Mishima eine Filmversion seiner Kurzgeschichte, die noch um etliche Grade erschreckender, um nicht zu sagen: perverser ausfiel als diese selbst. The Rite of Love and Death, wie der internationale Titel lautete, ist ein avantgardistischer Stummfilm in kontrastreichem Schwarzweiß, musikalisch untermalt mit der Aufnahme einer »symphonischen Synthese« von Wagners Tristan und Isolde von Leopold Stokowski aus dem Jahr 1936. Schauplatz ist eine Nō-Theater-Bühne, in deren Zentrum ein Banner mit den Schriftzeichen »rückhaltlose Aufrichtigkeit« prangt. Der Film ist schockierend realistisch und zugleich streng stilisiert. Als der Offizier zuckend auf dem weißen Boden zusammenbricht, umgibt ihn eine schwarze Blutlache, die einem kalligraphischen Muster ähnelt: »Poesie, mit einem Spritzer Blut geschrieben«, wie Mishima einmal formulierte. Der Autor läßt keinen Zweifel daran, daß das Gezeigte in all seiner Drastik als bewunderungswürdiger, romantischer, ja erotischer Akt zu verstehen ist. Die Hauptrolle spielte er selbst, womit der halbstündige Film gleichsam zur Generalprobe seines späteren tatsächlichen Suizids wurde.
Nicht zuletzt dieser Film zeigt deutlich, daß in Mishimas Kunst, Leben und Tod äußerst abgründige Impulse und extreme innere Widersprüche wirksam waren. Seine Todessehnsucht verband sich schon früh mit einer stark sadomasochistisch gefärbten Homoerotik. Als der Elfjährige in einem Buch zufällig eine Abbildung des heiligen Sebastian von Guido Reni entdeckte, einen von Pfeilen durchbohrten nackten Jüngling mit ekstatischem Gesichtausdruck, ergriff ihn eine blitzartige sexuelle Erregung. Die Begierde nach den schweißbedeckten, muskulösen Leibern von Arbeitern, Matrosen oder Soldaten war wohl auch Kompensation der totalen Entfremdung von seinem eigenen Körper, die er in seinem Buch Sonne und Stahl beschrieb. Demnach hatte er sein Ich zuerst durch Worte erfahren und mußte sich mühsam »zur Realität des Fleisches« durchringen. Diese war aber bereits »verätzt von dem abstrahierenden Gift der Worte«, die Mishima mit gefräßigen weißen Ameisen verglich. Die Distanz zum eigenen Körper machte diesen zum Objekt, das es zu formen galt wie ein Kunstwerk, durch das Licht der Sonne und den Stahl der Hantelstangen.
Ab 1955 begann Mishima mit konsequentem Krafttraining, und bildete vor allem seinem Oberkörper zu einer idealen, »apollinischen« Form. Durch die Entwicklung seiner Muskeln entdeckte er, daß der Leib seine eigene Logik und Sprache besitzt, die zur reinen Tat jenseits der korruptiven Worte drängt. Der Körper erschien ihm nun als sichtbar gewordener Geist: die Schönheit der Tugenden muß mit der Schönheit des Körpers korrespondieren und umgekehrt. Dies war allerdings nur eine Etappe auf dem Weg zu seinem Endziel, denn wie in seinem Roman Der Tempelbrand, in dem ein moderner Herostratos ein sakrales architektonisches Meisterwerk niederbrennt, muß die absolute Schönheit eines Tages untergehen, ja dionysisch vernichtet werden. Der Opfertod eines häßlichen Körpers wäre in Mishimas ästhetischem System unwürdig und lächerlich. Der Bauch, der rituell aufgeschlitzt werden soll, muß muskulös und hart sein, nicht weich und schwabbelig.
Mit 45 Jahren war sich Mishima bewußt, daß er den Zenit seiner körperlichen Schönheit und Kraft überschritten hatte und somit bald handeln mußte. Im Jahr seines Todes vollendete er auch sein literarisches Meisterwerk, die Roman-Tetralogie Das Meer der Fruchtbarkeit, die den Niedergang der japanischen Gesellschaft über mehrere Generationen hinweg schilderte. Ohne Zweifel war es ihm ernst mit seiner Kritik am Nachkriegs-Japan, das er im Banne einer »grünen Schlange« sah, vergiftet durch Geld, Nihilismus und Konsumismus. Aber Worte und die Kunst genügten ihm nicht mehr. Es war ihm nicht gegeben, zugleich ein großer Dichter und ein großer Krieger wie Ernst Jünger zu sein. Ohne Zweifel war auch er ein »radikaler décadent«, der »den ihn quälenden Wertnihilismus nur ertragen« konnte, weil er glaubte, »daß sich das wirkliche Leben erst im Ausnahmezustand enthüllt; im Krieg oder im Augenblick der Gefahr«, wie Günter Maschke über Drieu La Rochelle bemerkt hat.
Mishima wollte gewiß ein aufrichtiges Fanal gegen die Dekadenz seiner Zeit setzen. Vor allem aber sollte sein Freitod die Grenze zwischen Kunst und Leben sprengen, die lang ersehnte Vereinigung von Geist und Körper, »Feder und Schwert«, Traum und Tat, Eros und Thanatos vollziehen und mit Blut besiegeln.