Er wäre jetzt hundert Jahre und gilt als eigenwilliger Science-Fiction-Autor. Seine philosophische Dimension, zu erlesen in „Summa technologiae“, bereits 1964 erschienen, bleibt bislang völlig unterschätzt. Es eröffnet sich darin ein gedanklicher Kosmos. Schwerstempfehlung für geduldige Leser.
Geboren im Lwów, dem einstigen Lemberg, wächst Lem in einer jüdischen Arztfamilie auf. Er überlebt mit einer falschen Identität den Holocaust, der ihm jedoch nicht zum Lebensthema wird, jedenfalls nicht so wie vielen anderen aus der jüdischen Schicksalsgemeinschaft, sondern in einer viel umfassenderen Weise.
In seiner Schrift Das kreative Vernichtungsprinzip. The World as Holocaust von 1983 formuliert er:
Ich glaube, daß der Holocaust noch nicht beendet ist. Also in gewisser Weise war er mit dem Zweiten Weltkrieg beendet, aber er taucht immer wieder auf, in den verschiedensten Formen und Masken, an den unterschiedlichsten Orten.
Der Holocaust als ein durchgängiges Prinzip, gar als perverser Teil der Conditio humana? Lems Satz ist weniger politisch oder historisch gemeint, sondern will zeigen, daß Vernichtung und Leid, jäh hereinbrechend, unvorstellbar vorher und ungeahnt, in der Geschichte eine viel größere Bedeutung zukommt als einer vermeintlich vernünftigen Entwicklung, die linear verläuft – vom Unzureichenden zum Besseren, von der Ungerechtigkeit der Welt zu globaler Gerechtigkeit, vom primitiven oder bösen Menschen zum moralgeleitet besseren.
Von dieser Kontinuität und Stetigkeit ist Lem nicht überzeugt, sie gilt ihm als Täuschung, als gefährliche Wunschvorstellung; alles, was war und ist, widerspricht dem, und so besteht eben kein Anlaß, einem „Prinzip Hoffnung“ (Ernst Bloch) zu folgen. Im Gegenteil. Nur soll der Mensch daran gerade nicht verzweifeln, sondern damit leben lernen.
Religionen und metaphysische Systeme sind ihm zwar in sich schlüssig, insgesamt aber suspekt. Er setzt pragmatisch auf Empirie:
Es waren nämlich nicht Zustände einer ‚höheren Erkenntnis‘, sondern es war die Empirie, die im Laufe einiger hunderttausend Jahre die Errichtung der Zivilisation ermöglichte, die ihrerseits den Menschen zur herrschenden Spezies auf der Erde machte. (…) Der Glaube vermag den Gläubigen zu heilen, aber nicht, wie es an anderer Stelle heißt, Berge zu versetzen.“ Religion erscheint Lem als „intellektuelle Fahnenflucht.
Man kann in ihm einen intellektuellen, mathematisch und naturwissenschaftlich durchgebildeten Reaktionär, einen lächelnden Pessimisten sehen, desillusioniert angesichts dessen, was in seiner Lebensfrist zu erleben und zu erkennen war, ein eher unglücklicher Mensch, vielleicht, aber nicht hoffnungslos – genau in der Schopenhauerschen Weise, daß gerade die Desillusionierung gegenüber der Geschichte und eine negative Anthropologie zu einer Klarheit führen, mit der man sich damit abfinden kann, daß es den großen Sinn, das Ziel, das Heil, die Erlösung nicht gibt. Eine befreiende Einsicht?
Geschichte und Evolution sind Spiele von ein und demselben Typus. In beiden wechseln die Spieler, die physischen Umweltbedingungen, unter denen das Spiel abläuft, ja sogar die Spielregeln. Und wenn auch in der Geschichte die Menschen miteinander kämpfen und in der Evolution die Arten miteinander konkurrieren, so ist ihr Hauptgegner doch die Natur. Evolution und Geschichte sind Spiele, bei denen die Natur wegen ihrer Unberechenbarkeit ein merkwürdiger Partner ist. Mal scheint er feindselig, mal wohlwollend zu sein. Das aber nur, weil es sich um einen unpersönlichen Partner handelt, einen, dem ‚alles gleich‘ ist, einen Partner, dem die Siege der lebenden Spieler ebenso gleichgültig sind wie ihre Niederlagen.
Der Gedanke an die Kontingenz mag uns noch eher zur Demut veranlassen als der Glaube an irgend etwas, denn die geschichtliche Zukunft bleibt unvorhersehbar, was immer an Statistik – gerade in Wahlprognosen durchexerziert – und in der vermessenen Hoffnung, alles wäre berechenbar, betrieben wird. „Zahlen und Figuren“ (Novalis) mögen Wahrgenommenes abzubilden vermögen, sagen aber letztlich über den Fortgang der Geschichte in all den menschlichen Fährnissen wenig bis nichts aus.
Lem war geschult an Alfred N. Whitehead, Bertrand Russell und Ludwig Wittgenstein, also an Denkern, denen es u. a. darum ging, zu prüfen, was sich überhaupt klar fassen, denken und sagen läßt – ein Problem, das Politiker nie interessiert, insofern sie in der Weise des naiven Realismus ihre Vorstellungen für die Realität halten und ihre Sendung unabdingbar für die richtig. Sie sprechen unkritisch oder in manipulativer Absicht aus, was ihnen gerade Nutzen verheißt. Skepsis, die eigentlich Mutter der Weisheit, ist ihnen fremd.
Und Lem befaßte sich, einer Mode der fünfziger und sechziger Jahre folgend, mit Kybernetik, jener Wissenschaft, die sich als „Kunst des Steuerns“ begreift, also systemisch und von der Informationsverarbeitung her denkt und Selbstregulationen, Selbstorganisationen, Rückkopplungen und Homöostase zu beschreiben und zu gestalten versucht.
Mit ihrer Hilfe wollte der Sozialismus seine allzu unflexible Planwirtschaft koordiniert und synchronisiert in den Griff bekommen. Heute, computergestützt und über IT realisierbarer als weiland mit Lochkarten, erlebt die Kybernetik eine gewisse Wiederbelebung.
Kurz: Lem folgt einem Denken, das sehr genau verfährt, mathematisch und logisch, und gerade deswegen zu dem Schluß kommt, daß menschliche Leidenschaften davon nicht einzuhegen sind, ein genaues Analysieren und Denken also mitnichten eine ebenso genaue Prognose des menschlich Künftigen ermöglicht.
Wir sind uns gemeinhin unserer Sache denkend und prognostizierend zu sicher, nicht nur mit Blick auf die Börse. Zwar verfügen wir über immer mehr Daten, aber es läßt sich daraus nicht unbedingt die Zukunft lesen. Schon wie wir diese Daten werten und ordnen, ist ein Problem, wie wir von Wahlprognosen wissen: Das meiste ist Zuschreibung, oft an der Realität vorbei, zu stets neuerlicher Überraschung oder Enttäuschung.
Wer als junger Mann den herrlichen Frühsommer 1914 am Wannsee genießt, kann nicht geradeaus absehen, ob er ein paar Wochen später noch English Breakfast auf einer lichten Terrasse einer Dahlemer Villa genießt oder bereits in Stahlgewittern um sein Leben fürchtet. Auch unsere Aussichten bleiben kontingenter, als wir anzunehmen bereit sind.
Die Unvorhersehbarkeit der kulturellen und politischen Entwicklung des Menschen liegt in einer Vagheit, die sich noch unsicherer darstellt als jene der Evolution, die ihrerseits schon nicht von geradlinig ablaufenden Automatismen bestimmt und vorangetrieben ist, sondern von jähen Mutationen und Katastrophen. Kontinuität des Diskontinuierlichen, je weiter voran in der Geschichte und Technologieentwicklung, um so riskanter dürften sie unsere Geschicke bestimmen.
In der Geschichte dagegen werden die Strategien der Menschen durch den kulturellen Faktor und durch die technologische Variable der Handlungsmöglichkeiten modifiziert. Diese Variable und diesen Faktor hat man eine Zeitlang als ‚Fortschritt‘ bezeichnet. Das war immer eine Übertreibung (siehe die Krematorien und Hiroshima). (…) Darüber, wie die Zukunft aussehen wird, kann man von den Menschen weder in ihrer Vergangenheit noch in ihren gegenwärtigen Ansichten, Hoffnungen und Ängsten etwas erfahren. (…) Wir leben in einer Epoche des Niedergangs und verzweifeln über ihren Niedergang, weil vom Ende einer Epoche her die nächste wegen ihrer Ungewißheit stets als bedrohliches Dunkel erscheint. Man kann dieses Dunkel nicht erhellen, doch man kann es zumindest mit Vermutungen so weit durchdringen, wie der begriffliche Horizont reicht, der das Denken begrenzt.
Bei aller Ungewißheit der Prognosen setzte Lem, darin eher Science-Fiction-Autor, auf die Möglichkeiten künftiger Technik, aber selbst in deren Entwicklung (Er sieht das Internet und das Smartphone gewissermaßen voraus.) erkennt er den Zufall als Antrieb, nicht die Planung. Alle großen Erfindungen, er nennt das Penicillin und die Röntgenstrahlung, man könnte aber ebenso an Mendelejews Periodensystem der Elemente oder mindestens an die spezielle Relativitätstheorie Einsteins denken, erfolgten eher zufällig, als daß sie geplant worden wären:
Man braucht sich nur in einem beliebigen Universitätsarchiv die verstaubten Berge von Arbeiten und Dissertationen anzusehen, die zur Erlangung eines akademischen Grades geschrieben wurden, um sich zu überzeugen, daß manchmal unter Hunderten von ihnen nicht eine zu auch nur einigermaßen nennenswerten Resultaten führte. (…) Bei der wissenschaftlichen Forschung verhält es sich ein wenig wie bei den genetischen Mutationen: die wertvollen und bahnbrechenden machen nur einen geringen Anteil sämtlicher Mutationen und Forschungen aus.
Und wo bleibt da die Moral?
Ich vertraue nicht auf Versprechungen und glaube nicht an Versicherungen, die sich auf einen sogenannten Humanismus berufen. Gegen eine Technologie hilft nur eine andere Technologie. Der Mensch weiß heute mehr über seine gefährlichen Neigungen als noch vor hundert Jahren, und nach weiteren hundert Jahren wird sein Wissen noch vollkommener sein. Möge er dann davon Gebrauch machen.
Aber genau das scheint eben nicht einzutreten. Der Mensch, mindestens der gute Mensch der mittlerweile durchideologisierten Berliner Republik, weiß im Gegenteil immer weniger um seine Abgründe, sondern konstruiert sich so wie noch nie als ausschließlich „humanistisch“, und eben darin liegt die gegenwärtig allergrößte Gefahr – in der falschen Eingebildetheit, so zu sein, wie der Mensch – zu seinem Glück oder Unglück – gar nicht sein kann. Lem:
Die Moral ist ebenso wie die Mathematik willkürlich, da beide sich durch logische Überlegungen aus (willkürlich) angenommenen Axiomen ableiten.
Wir folgen gegenwärtig politmoralisch sehr fragwürdigen Axiomen, und genau damit treiben uns heillose Illusionisten, ideologisch aufgerüstet, erneuter Dramatik entgegen.
Aufklärung, die diesen Namen verdient, zu Ende gedachter Aufklärung, eignet eine finstere Seite, eben jene, die Schopenhauer, Stirner, Nietzsche kannten. Und auf seine Weise ebenso Stanislaw Lem. Sie gehören in die große Bibliothek der Reaktion, die uns klüger zu beschützen weiß als die utopistischen und quasireligiösen Träumereien linksgrüner Weltkonstruktion, mit der mal wieder ein „neuer Mensch“ entworfen werden soll, den es so nie geben wird. Hoffentlich nicht.
RMH
Lem war auf beiden Seiten des eisernen Vorhangs mehr oder weniger Pflichtstoff für alle Knaben, die ein Gymnasium besuchten und eine gewisse Affinität zu Technik, Science-Fiction etc. hatten. Lem Leser fand ich bspw. in der Schachgruppe meiner Schule. Überhaupt finde ich es gut, wenn an gewisse Science-Fiction Autoren auf SiN regelmäßig erinnert wird. P.K. Dick wurde hier ja auch schon vorgestellt.
In Punkto Smartphone Vorhersehen darf Ernst Jünger nicht fehlen, der mit dem "Phonophor" in "Heliopolis" aufwartet (erschienen 1949).