Es ist aber gewiss keines, welches die selbstgesteckten Ansprüche befriedigen dürfte. Keine Katastrophe also, sondern allenfalls Ernüchterung. Allzu große Überraschungserwartungen hatten sowieso nur die Wenigsten. Die Landtagswahlen im März in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt haben gezeigt, daß auch die Demoskopen ihre Prognosemodelle und Variablen angepaßt haben und damit die große Diskrepanz zwischen Umfrage und Endergebnis, wie wir sie noch in den Jahren 2016–2017 erlebt haben, ausblieb.
Innerhalb der AfD gab es zwei Lager, die mit unterschiedlichen Zielerwartungen in diesen Wahlkampf gestartet sind. Die einen sahen in der Bundestagswahl die große Chance, die gläserne Decke des Stammwählerpotentials zwischen 12–15% endlich zu durchbrechen und warben mit dem Team Joana Cotar und Joachim Wundrak um einen sogenannten „bürgerlichen Kurs“. Das andere Team um Chrupalla und Weidel war hier in der Zielformulierung etwas bescheidener und zurückhaltender und hat sich nicht auf ein konkretes Ergebnis festgelegt.
Die Grundstimmung vieler Wahlkämpfer und Funktionäre blieb verhalten. Man hoffte auf Wählerkonsolidierung, leichte Verbesserungen und auf ein Halten der Stammwählerschaft, kaum aber auf gewaltige Sprünge nach vorn. Beide Lager können sich in ihrer Erwartungshaltung bestätigt sehen. Der Konflikt um die Deutung ist gestern schon zwischen den Spitzenkandidaten Weidel und Chrupalla auf der einen und Jörg Meuthen auf der anderen Seite in der Bundespressekonferenz auf offener Bühne ausgebrochen und wird die Partei auch noch die nächsten Wochen beschäftigen.
Wanderungen und Verluste
In absoluten Zahlen hat die AfD über 1 Million Wähler verloren und damit knapp 20% ihrer Gesamtwählerschaft aus der Bundestagswahl 2017. Starke Verluste sind vor allem in Richtung der SPD und des Nichtwählerlagers und auch der FDP zu verzeichnen.
Wie der Wählerwechsel von der AfD zur SPD zustande kommt, kann an dieser Stelle nur gemutmaßt werden. Hat die SPD ihr Kernthema der sozialen Gerechtigkeit, welches für viele ihrer Wähler wahlentscheidend war, besser und authentischer verkaufen können? Reichte der „Scholz-Effekt“ selbst in das Widerstandslager hinein und hat der Stimmungstrend sogar ehemalige AfD-Wähler in den Sog gezogen?
Diese Fragen werde erst über umfangreiche Nachwahlbefragungen und Studien beantwortet werden können. Fakt ist, das Thema soziale Gerechtigkeit wurde von der SPD offensiv in ihrer Wahlkampagne bespielt und erreichte auch ihre Wählerschaft. Zwar erreichte die Partei nur marginale Zugewinne im klassischen Arbeitermilieu (+3%), punktete dafür aber umso stärker in den Ü60-Altersgruppen mit einem Plus von 10% Stimmenzuwachs.
190.000 Wähler verlor die AfD an die FDP. Zur großen Überraschung des Wahlabends konnte die FDP besonders stark in den Jungwählergruppen mobilisieren, wo die AfD gleichzeitig ihre stärksten Verluste von ‑3% verzeichnete und nach der Ü70-Gruppe am schlechtesten abschnitt. Unter den Erstwählern erreichte die FDP von allen Parteien das stärkste Ergebnis mit 22%.
Im Windschatten der Fridays-for-Future-Generation scheint sich eine weitere jugendliche Subkultur von jungen liberalen Performern und Individualisten als Gegenentwurf zur woken Linken zu entwickeln, die ihre jugendliche Rebellion in den inszenierten Aufbruchs- und Innovationsgeist der FDP kanalisieren und die Entgegensetzung zum linken Zeitgeist auf anderem Wege zum Ausdruck bringen.
Zugleich dürfte das starke FDP-Jungwählerergebnis auch als Protestausdruck vieler junger Menschen gewertet werden, die über die gesamte Zeit der Corona-Krise stets die niedrigsten Zustimmungswerte zu den Maßnahmen ausgewiesen haben. Mit einer eher inkonsistenten und an manchen Stellen durchaus auch befremdlichen Corona-Opposition konnte die AfD das Thema im Ergebnis nur bedingt als Mobilisierungsthema ausspielen.
Die wenigsten Stimmen (je 60.000) verlor die AfD an die Grünen und die CDU. Manche hatten im Schlußspurt des Wahlkampfes einen erhöhten Zulauf von AfD-Wählern zur CDU zur taktischen Verhinderung einer linken Regierung vermutet. Die CDU-Wählerschaft, die 2017 zur AfD gekommen war, hat sich als stabile Stammwählerschaft erwiesen, die mit ihrer ursprünglichen Partei endgültig abgeschlossen hat. Tatsache ist aber auch, daß die CDU schon 2017 ein historisches Wahldebakel eingefahren hat, welches jetzt mit der Kanzlerkandidatur von Armin Laschet nochmals getoppt wurde.
2017 machten eine Million ehemalige Unionswähler nach der Gruppe der Nichtwähler (1,4 Millionen) die zweitstärkste Wählergruppe der AfD aus. Vom diesjährigen Wählerexodus der CDU kann die AfD jedoch nicht profitieren. Ebenso klar ist aber auch, daß die Masse der ehemaligen CDU-Wähler ihre Frustration gegenüber der eigenen Partei und dem eigenen Kandidaten nicht kompensierten durch eine „bürgerliche“ Alternative wie der FDP, sondern die Hälfte (48%!) der verlorenen Unionswähler zur SPD und zu den Grünen abwanderte, zu Parteien also, die als klassisch links im politischen Koordinatensystem verortet werden können.
Vom großen „bürgerlich-konservativen“ Wählerreservoir kann hier also keine Rede sein, da nützt auch nicht das taktische Planspiel mit konservativen Geisterarmeen aus der Werteunion.
Am zweitstärksten verliert die AfD ans Nichtwählerlager. Hier wird die nächsten Wochen zu diskutieren sein, ob sich die Kampagne „Deutschland. Aber normal“ in Hinblick auf Slogan, Kommunikation und Tonalität stimmig in die Gesamtlage des Landes und der Gesellschaft eingefügt hat, oder vielleicht doch zu defensiv, behäbig und harmlos daherkam.
Abträglich waren sicherlich auch die ständigen Berichte über zerstrittene und demoralisierte Kreisverbänden, die sich weder logistisch, noch organisatorisch oder mental in eine Aufbruchsstimmung für den Wahlkampf versetzen lassen konnten. Das Bild der zerstrittenen Partei mit einer eher biederen Wahlkampagne könnte nicht wenige AfD-Wähler demotiviert haben. Daß die Kampagne dennoch ihren Zielgruppenkern getroffen haben könnte, zeigt diese Graphik:
Daß mobilisierende und mitreißende programmatische Angebote, aktivierende Kampagnen und Narrative vom gesellschaftlichen Wandel verstärkt Nichtwähler mobilisieren können, hat die AfD einerseits 2017 gezeigt und andererseits verdeutlichen das auch zahlreiche Studien zu soziologischen und strukturellen Merkmalen des Nichtwählermilieus, die in diesem Artikel einmal zusammengefasst wurden.
Flächenmäßig verliert die AfD in allen Bundesländern außer in Thüringen. Sie kann zwar ihre Ostdominanz unterstreichen, muß aber auch hier durchschnittliche Verluste von 0,76% in Kauf nehmen.
Die klaren Siege in Sachsen und Südosthüringen sind vor allem bedingt durch die massiven Schwächen der Linkspartei und der CDU. Selbst in Sachsen müssen Verluste von knapp 2,4% der Zweitstimmenergebnisse verschmerzt werden.
Im Westen sind die Verluste freilich noch deutlich größer. Im Durchschnitt verliert die Partei hier 2,36% gegenüber 2017 und kann in keinem alten Bundesland mehr ein zweistelliges Ergebnis vorweisen. Negative Spitzenreiter sind dabei Berlin (-3,6%) und Bayern (-3,4%). In absoluten Stimmen gerechnet bleibt der Westen bei Bundestagswahlen selbstverständlich das entscheidende Gewicht in der Waagschale. Die Aussage, daß Nordrhein-Westfalen mehr Wahlberechtigte als der gesamte Osten habe, ist evident.
Dennoch sollten bei den erneut aufflammenden Ost-West-Diskrepanzen nicht wieder die reflexartigen Fingerzeige auf die Ost-Verbände erfolgen, die mit ihrem politischen Stil angeblich dem Westen schaden würden. Stattdessen muß es heißen: Strukturdaten anschauen, Potentiale analysieren und ideologische Scheren im Kopf abbauen.
In der Analyse des Wahlergebnisses nach Berufsgruppen bleibt die AfD nur in ihrer traditionellen Kernklientel der Arbeiterschaft solide. Starke Verluste verzeichnete die Partei bei Rentnern und Arbeitslosen, bei ersterer Gruppe verzeichnete die SPD hingegen große Zuwächse. Überraschend stark schneiden die Grünen bei den Arbeitslosen ab (+10%), obwohl die Partei doch in der Gesamtkonstitution ihrer Wählerschaft ein eher gut situiertes und einkommensstarkes Milieu mobilisiert.
Angesichts des geringen Anteils von Arbeitslosen an der Gesellschaft im Vergleich zu den anderen angegebenen sozialen Gruppen können jedoch schnell Schwankungsbreiten entstehen. Der Gesamtstimmenanteil der Grünen unter Arbeitslosen bleibt vor dem Hintergrund dann doch im Mittelfeld angesiedelt.
Stärken und Potentiale
Wenn man eine Erfolgsmeldung aus dem AfD-Wahlergebnis ableiten möchte, so ist es mindestens der nicht unbeachtliche Aufbau einer respektablen Stammwählerschaft innerhalb der letzten Legislatur, die sich auf zweistelligem Niveau halten lässt. Wie eingangs erwähnt, hängen Erfolg und Mißerfolg immer aber auch vom Erwartungshorizont ab. Die AfD ist innerhalb des größten deutschen Parlaments eine stabile Kraft und konnte auch ihre Verluste in Grenzen halten. Die Konsolidierung zeigt sich am stärksten in einem direkten Motivvergleich zwischen Protest- und Überzeugungswählern. Während 2017 noch 61% der AfD-Wähler angaben, ihre Wahl erfolge aus Protest, so lässt sich 2021 ein fast ausgeglichenes Verhältnis feststellen.
Die Stärke der Partei resultiert aus ihrer Wahrnehmung als einwanderungskritische Partei. 2017 dominierte der Diskurs über die Zuwanderung und Innere Sicherheit auch die allgemeine politische Stimmungslage.
2021 wurde das Thema durch neue Themen wie Soziale Gerechtigkeit, Klimaschutz und Corona verdrängt. Wahrnehmbar blieb die AfD jedoch hauptsächlich als migrationskritische Partei. Im Themenkomplex Einwanderung konnte sie ihre wahrnehmbaren Kompetenzwerte gegenüber 2017 deutlich steigern.
Viele Debatten, die jetzt über die programmatische Ausrichtung bei den Themen Soziale Gerechtigkeit, Digitalisierung, Baupolitik etc. geführt werden, sollten das Ziel haben, inhaltliche Verknüpfungen zu den Themen Einwanderung und Identität zu bilden.
Auch ein Blick auf die größeren Zukunftssorgen und Themen der Menschen zeigt, daß die Migrationspolitik zwar in den Mainstreammedien deutlich weniger Raum bekommt, aber im Alltagsleben der Menschen offensichtlich präsent bleibt. Einwanderungskritik gehört zur DNA der Partei und sollte den Aufhänger für weitere Themen bilden. Diese Themenvielfalt ist wichtig, um die wahrgenommene Kompetenz der AfD signifikant zu verbessern und dadurch auch höhere Vertrauenswerte aufzubauen.
In der Stadt-Land Verteilung zeichnet sich ein bekanntes Bild ab. Die AfD kann in dünn besiedelten Regionen überdurchschnittlich starke Ergebnisse einfahren und weist die schwächsten Werte in den urbanen Zentren auf, die vom radikalen ideologischen Gegenpart, den Grünen, dominiert werden.
Zusammengenommen mit den weiteren soziodemographischen Schlüsselwerten ergibt sich daraus die exemplarische Wählertypologie:
Charakterisierung des typischen AfD-Wählers: Männlich – Ostdeutsch – höheres mittleres bis leicht unterdurchschnittliches Einkommen – 35–44 Jahre – Arbeiter – dünn besiedelter Raum – niedrige bis mittlere Bildung und von subjektiv wahrgenommenen Abstiegsängsten und Statusverlusten geprägt.
Charakterisierung des Nicht-AfD-Wählers: sehr jung oder sehr alt – grundsätzlich zufrieden – zukunftsoptimistisch – wohnhaft in urbanen Ballungsräumen – hohe Bildung – verbeamtet – überdurchschnittliches Einkommen und westdeutsch.
Inwieweit die AfD diese Strukturmerkmale in ihre programmatische und kommunikative Profilschärfung künftig einbezieht, bleibt abzuwarten. Der Wählerraum einer rechtspopulistischen Kraft in Deutschland stabilisiert sich und bleibt dennoch von klassischen Protestwahlmotiven bestimmt.
Zwischen 2015 und 2017 war die Frage nach Protestwählermobilisierung oder dem Aufbau „bürgerlicher“ Mehrheiten klar zu beantworten. Lucke und Petry haben versucht, der Partei diese Frage zu völlig deplatzierten Zeitpunkten aufzudrängen. Meuthen versucht jetzt ähnliches, macht diese Frage gleichzeitig aber von der Niederlage des einen oder anderen Lagers abhängig. Interessanter und konstruktiver wären solche strategischen Planspiele jedoch auf Grundlage tatsächlicher Datenanalysen und tieferer Nachdenkprozesse.
RMH
Kurze Nachfrage zum präsentierten Datenmaterial. Dieses beruht ja im wesentlichen auf Befragungen von Wählern. Die stichpunktartigen Befragungsbuden bei den Wahllokalen sind bekannt. Inwieweit oder wie werden die Briefwähler, die ja immer mehr werden, erfasst?