Reine Politik

PDF der Druckfassung aus Sezession 100/ Februar 2021

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

Dort, wo die bün­di­sche Jugend (die­ser straf­fe Nach­fol­ger des Wan­der­vo­gels) Begriffs­fin­dung betrieb, sto­ßen wir auf eine star­ke Selbst­ver­or­tungs­vo­ka­bel: »Jugend­reich«. Man beschrieb damit den Selbst­ver­such, den Zwän­gen der moder­nen, arbeits­tei­li­gen, durch­or­ga­ni­sier­ten und cle­ve­ren Mas­sen­ge­sell­schaft in einen anders auf­ge­spann­ten Raum zu ent­kom­men – und sei es nur für Tage oder Wochen. Im »Jugend­reich« gal­ten ande­re Geset­ze, ande­re Unab­hän­gig­kei­ten, dort führ­te und folg­te ein ande­rer Typus, dort hat­ten der Moment und der Traum, der nutz­lo­se Dienst und der Gral, der gan­ze ehr­li­che Lebens­ernst und die Ableh­nung von Ver­kaufs­kon­zept und Beschwich­ti­gungs­men­ta­li­tät eine ins bür­ger­li­che Leben, ins Arbeits­le­ben kaum über­trag­ba­re Bedeu­tung. Eine der Schlüs­sel­pa­ro­len lau­te­te: »rein blei­ben und reif wer­den«. Sie ziel­te auf Ver­ant­wor­tungs­be­wußt­sein, Ein­satz­be­reit­schaft, inne­re und geis­ti­ge Sau­ber­keit und leben­di­ge, ehr­li­che Zuneigung.

Kri­tik an die­ser min­ne­sän­ger­li­chen Über­span­nung wur­de schon damals hef­tig geäu­ßert. Aus einer sol­chen Kunst­welt, einem aus­blen­den­den Ander­land, Tugen­den fürs Hier und Jetzt zu schöp­fen sei fahr­läs­sig und zie­he die bes­ten Kräf­te dort ab, wo sie am nötigs­ten sei­en: vom Raum der Real­po­li­tik, vom Mög­li­chen, vom Kom­pro­miß, von der Mehr­heits­su­che – vom, aufs Gan­ze gese­hen, nicht hin­rei­chend gro­ßen, aber doch wenigs­tens ansetz­ba­ren Hebel, den man unbe­dingt in die Hand bekom­men müs­se, wol­le man über­haupt etwas »mit­ge­stal­ten«.

Aber wer will das schon, mit­ge­stal­ten, wo die vor Kraft strot­zen­den Unhin­ter­geh­bar­kei­ten der moder­nen und post­mo­der­nen Ent­wick­lung samt ihren tech­ni­schen Ent­spre­chun­gen (Häpp­chen­geist, Echt­zeit, Iden­ti­täts­bas­te­lei, Trans­hu­ma­nis­mus) den »Auf­hal­ter«, den Brem­ser, den War­ner, den Träu­mer, den »Wan­de­rer zwi­schen bei­den Wel­ten« anlä­cheln – um ihm im nächs­ten Moment eine zu knal­len, daß er sich benom­men in die Ecke ver­zieht, aus der er sich (mit­ge­stal­tungs­fröh­lich) eben erst her­vor­ge­wagt hat­te. Wären wir von die­ser Sor­te, hät­ten wir unser Blatt nicht Sezes­si­on genannt, son­dern »Hal­lo« oder »Ein­wurf« oder, in einem Moment des Durch­blicks, »Bei­stell­tisch« oder »Durch­rei­che«.

Aber so war es eben nicht, vor acht­zehn Jah­ren, und daß es nicht so war, hat­te sei­nen Grund nicht nur, aber auch dar­in, daß wir dem bün­di­schen Gedan­ken an das Selbst­be­stim­mungs­recht im Jugend­reich eine Art Leit­li­ni­en­kom­pe­tenz ein­räum­ten – weit über die Jugend­pha­se hin­aus. Ins Ver­le­ge­ri­sche, in den meta­po­li­ti­schen Ansatz einer »Sezes­si­on« hin­ein über­tra­gen, lau­ten die Begrif­fe zwar anders, aber gemeint ist das­sel­be: »rei­ne Poli­tik« oder »Nach­ah­mungs­ver­bot« oder auch »gro­ße Los­lö­sung«. Den letz­ten präg­te Nietz­sche, sei­ne »gro­ße Los­lö­sung« ist eine Patin des Namens unse­rer Zeit­schrift. »Nach­ah­mungs­ver­bot« ist ein Ein­satz­grund­satz aus dem Gue­rill­amar­ke­ting: nie­mals das nach­zu­bau­en ver­su­chen, was bloß klappt, wenn man auf Wohl­wol­len, auf offe­ne Arme, auf För­der­töp­fe, auf die Strom­li­nie des Flus­ses trifft; bes­ser also stets davon aus­ge­hen, daß man an den ent­schei­den­den Stel­len alles auf ganz eige­ne Wei­se erle­di­gen muß: neu erfin­den, aus­pro­bie­ren, durchsetzen.

Und die »rei­ne Poli­tik«? Im Grun­de ist das der Gegen­be­griff zum »Lage­den­ken«, und hier wird es schwie­rig: »Lage­den­ken« (wir nann­ten zuletzt die Fest­schrift zum Zwan­zig­jäh­ri­gen unse­res Insti­tuts so !) ist einer der rech­ten, kon­ser­va­ti­ven Begrif­fe schlecht­hin. In der Lage zu den­ken (und zu leben) bedeu­tet, von dem, was ist, nicht zu abs­tra­hie­ren und kei­nes­falls die Wirk­lich­keit und das Leben auf uto­pi­schem Abweg zu ver­ge­wal­ti­gen. (Eine knap­pe­re Beschrei­bung rech­ter Poli­tik gibt es nicht: das gedeih­li­che Leben vor den Ver­ge­wal­ti­gun­gen durch die Expe­ri­men­tier­freu­de ver­ant­wor­tungs­lo­ser Ent­wür­fe zu bewahren.)

»Rei­ne Poli­tik« und »Lage­den­ken« – der Kreu­zungs­punkt liegt dort, wo wir nicht mehr zurecht­kom­men wol­len. Denn natür­lich kann man immer irgend­wie zurecht­kom­men mit dem, was einem die Gesell­schafts­klemp­ner auf­ge­ben, auf­la­den, abver­lan­gen. »Rei­ne Poli­tik« bedeu­tet dann, trotz Ein­sicht in die Lage und in die Über­macht der ande­ren, trotz Kennt­nis der Strom­li­nie den Dreck nicht mehr mit­zu­ma­chen, nicht mehr mit­zu­schwim­men, mit­zu­ge­stal­ten, son­dern vom grund­sätz­lich Rich­ti­gen nicht zu las­sen. Wie so etwas aus­se­hen könn­te? Blät­tern Sie mal in hun­dert Heften.

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

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