Die Annahme einer Pandemie im Zusammenhang mit der Atemwegserkrankung COVID-19 hat weltweit zu drastischen Maßnahmen staatlicherseits geführt. Sie stehen in einem starken Widerspruch zu einer an grenzenlose Mobilität und individuelle Selbstverwirklichung gewöhnten Gesellschaft. Zu den Merkwürdigkeiten der Reaktion auf diese Maßnahmen gehört der kaum wahrnehmbare Widerstand gegen solche Eingriffe in die Gewohnheiten. Hinzu kommt, daß die wenigen Unmutsäußerungen nicht von den Anywheres kommen, die in ihrem Bewegungsradius beschnitten werden, sondern von den Somewheres, die an den liberalen Errungenschaften viel weniger partizipieren. Man darf zwar den Faktor Angst, der aufgrund einer in den grellsten Farben gemalten, aber völlig abstrakten Bedrohungslage eine Rolle spielt, ebensowenig unterschätzen wie die Macht der Massenmedien, die ebendieses Narrativ befördern; aber beides erklärt die lässige Reaktion der Eliten nicht. Diese Erklärungslücke wird auch nicht allein durch den Hinweis auf die unterschiedlichen Erwerbstätigkeiten zu schließen sein, da sich selbst seitens der finanziell unter starken Einbußen leidenden Bevölkerungsteile nur sehr verhalten Widerspruch regt.
Vor diesem Hintergrund lohnt sich ein Blick auf die Verfaßtheit von egalitären Gesellschaften. Die Bundesrepublik ist aufgrund aller ihrer gesellschaftspolitischen Maßnahmen der letzten Jahrzehnte erklärtermaßen auf dem besten Weg, eben eine solche zu werden. Davon zeugen nicht zuletzt absurde Forderungen, die sich auf die natürlichen Unterschiede der Menschen, bis hin zum Geschlecht, beziehen, und oft unter der Parole »Gerechtigkeit« firmieren.
Bestes Beispiel für diese Auffassung sind Äußerungen im Zusammenhang mit der Corona-Krise wie: »In Zeiten der Pandemie wird deutlich, daß Körper strukturell ungleich gemacht werden.« Worum es der Autorin, einer feministischen Philosophin, geht, ist klar: Dadurch, daß Menschen unterschiedlichen Arbeiten nachgehen, die einmal mehr und einmal weniger Kontakt zu Mitmenschen benötigen, sind sie unterschiedlichen Risiken ausgesetzt, sich mit Corona zu infizieren. Schon das Wort »strukturell« ist ein Hinweis darauf, daß hier Dinge bekämpft werden sollen, die eng mit der Natur des Menschen verknüpft sind. So wie heute das Ansprechen ethnischer Merkmale als »struktureller Rassismus« gilt, so können Körper, die immer verschieden sind, »struktureller Ungleichheit« ausgesetzt sein.
Die Vorstellung, daß die Menschen im Naturzustand einander gleich gewesen wären, geht auf Rousseau zurück. Seiner Meinung nach bedeutet die Kultur die Perversion des Menschen, weil sie auf Arbeitsteilung beruht und damit Ungleichheit zum Prinzip erklärt. Auch wenn Rousseaus Naturbegriff nicht ein Produkt der Naturbeobachtung war, sondern eine polemische Abrechnung mit den gesellschaftlichen Zuständen seiner Zeit, so war er doch außerordentlich wirksam. Die ersten Exzesse im Namen der Gleichheit, die im Rahmen der Französischen Revolution geschahen, bezogen sich auf sein »Zurück zur Natur!« Auch wenn sich die Französische Revolution antikisierende Formen gab, war der Gleichheitsbegriff der Antike doch ein ganz anderer. Gleichheit bedeutete ursprünglich Isonomie, also Gleichheit im Rahmen des Gesetzes, nicht Gleichheit der Lebensumstände, sondern die von rechtlich Ebenbürtigen. Hannah Arendt hat darauf hingewiesen, daß Isonomie Gleichheit garantiere, »aber nicht, weil alle Menschen als Menschen gleich geboren oder von Gott geschaffen sind, sondern im Gegenteil, weil die Menschen von Natur her nicht gleich sind und daher einer von Menschen errichteten Einrichtung bedürfen, nämlich der Polis, um kraft des Gesetzes einander ebenbürtig zu werden«.
Daß die Auffassung Rousseaus lange kein Allgemeingut war, zeigt auch der Blick auf die deutsche Tradition, die sich der antiken verpflichtet fühlte. Kant, der die Ungleichheit als »reiche Quelle so vieles Bösen, aber auch alles Guten« bezeichnete, sah, daß die durchgängige rechtliche Gleichheit der Menschen (= Untertanen) in einem Staat »mit der größten Ungleichheit der Menge und den Graden des Besitztums nach, sei es an körperlicher oder Geistesüberlegenheit über andere«, einhergehe. Der Staat wird bei Hegel als Rechtsstaat und nicht als Sozialstaat aufgefaßt, dem es nicht um Umverteilung zum Zwecke der Gleichheit, sondern um Gerechtigkeit gehe, um die rechtliche Gleichbehandlung der Gleichen. Konsequente Gleichheit in jeder Hinsicht mache den Staat unmöglich, weil dieser eben auf der Ungleichheit von Regierung und Regierten beruhe.
Der Satz, daß alle Menschen von Natur aus gleich seien, verwechsele das Natürliche mit dem Begriff: Von Natur aus seien die Menschen nur ungleich, einzig der Bestimmung des Menschen als Person, die des Eigentums fähig sei, mache die »wirkliche Gleichheit« des Menschen aus. Im Gegensatz zur Antike, die das nur auf die Bürger einer Polis bezog, betreffe das jetzt alle Menschen. Aber Hegel plädiert ganz antik: »Die Gesetze selbst […] sehen die ungleichen Zustände voraus und bestimmen die daraus hervorgehenden ungleichen rechtlichen Zuständigkeiten und Pflichten.« Sonst könne nur zufällige Gleichheit die gleiche Behandlung rechtfertigen.
Der Historiker Rolf-Peter Sieferle hat die absurden und selbstdekonstruktiven Konsequenzen des zu Ende gedachten Egalitätsprinzips in seinem Buch Epochenwechsel aufgezeigt. Das Gleichheitsprinzip besagt zunächst nicht mehr, als daß alle Menschen gleich sind, zumindest in der Hinsicht, daß sie Menschen sind. Diese Annahme ließe sich zunächst mit allen Ungleichheiten verbinden. Sieferle sieht aber bereits in der christlichen Forderung der Nächstenliebe eine Ausweitung des Geltungsbereichs der Gleichheit, die nicht mehr aufzuhalten sei, wenn die Gleichheit einmal in der Welt ist. Insbesondere dann, wenn die Gleichheit hoch im Kurs stehe, ziehe dies eine permanente Erhöhung der Egalität nach sich, an deren Ende die Selbstaufhebung der bürgerlichen Gesellschaft stehe. Sieferle skizziert diesen Prozeß in fünf Stufen:
Der erste Schritt besteht in der Forderung nach rechtlicher und steuerlicher Gleichbehandlung aller Bürger eines Staates, egal welchen Standes sie sind. Dem folgt im 20. Jahrhundert die gleiche politische Partizipation aller am Gemeinwesen – mithin Dinge, die klassisch unter Gleichheit verstanden wurden. Der zweite Schritt besteht in der Aufstellung eines Diskriminierungsverbotes; niemand soll anders behandelt werden, nur weil er einer anderen Religion, Nation, einem anderen Geschlecht oder einer anderen Rasse angehört. Dadurch, so Sieferle, ergäben sich eine gesellschaftliche Atomisierung und ein Wettbewerb, die zu Egalisierungsgewinnern und ‑verlierern führten, was im dritten Schritt Programme zur Herstellung von Chancengleichheit notwendig mache. Es liegt in der Logik der egalitären Entgrenzung, daß dies nicht nur auf den Abbau von Zugangsbeschränkungen hinausläuft, sondern schließlich dazu führt, daß die immer noch durch Elternhaus oder ähnliches Begünstigten möglichst nivelliert werden (vierter Schritt), indem man ihre Entfaltungsmöglichkeiten beschneidet (etwa durch den Niveauabbau im öffentlichen Schulwesen). In der Konsequenz würde dies, so Sieferle, zu einer viel stabileren Hierarchie führen, da jetzt die Unterschiede allein auf natürlich-genetische Ungleichheit zurückzuführen wären. Um auch das zu kompensieren, müßte der Zufall per Los- oder Rotationsverfahren für Egalisierung sorgen.
Im fünften und letzten Schritt schließlich sieht Sieferle als »Ultima ratio« des Egalitarismus die Verwirklichung der kommunistischen Forderung, jeder solle nach seinen Fähigkeiten arbeiten und nach seinen Bedürfnissen konsumieren. Da diese natürlich nicht gleich sind und Fähigkeiten und Bedürfnisniveaus einander nicht entsprechen müssen, wären neue Diskriminierungsverbote fällig, die beispielsweise sicherstellen, daß auch die Häßlichen einen schönen Partner bekommen.
Vor diesen Konsequenzen der Gleichmacherei hat der französische Philosoph Raymond Aron bereits in den 1960er Jahren gewarnt, auch wenn er damals den »genetischen Zufall« noch dem menschlichen Willen entzogen sah: »Aber wenn der soziale Rang ausschließlich von den in den Chromosomen enthaltenen Fähigkeiten abhängen würde, käme es zu einem neuen Protest: Wieso sollte man dann nicht auch gegen die natürlichen Ungleichheiten kämpfen?«
Damit ist zwar gezeigt, daß eine egalitäre Gesellschaft ihre eigenen Grundlagen in Frage stellt, allerdings noch nicht, warum sie so leicht totalitären Versuchungen erliegt. Da wir es gewohnt sind, Demokratie mit Gleichheit zu identifizieren, und totalitäre Regime als deren Gegenteil gelten, bleibt hier eine Unschärfe. Jacob Talmon hat zwar den Begriff der »totalitären Demokratie« geprägt, dabei aber immer noch einem Idealbild von »offener Gesellschaft« und »liberaler Demokratie« angehangen. Ein Vorläufer Talmons, Alexis de Tocqueville, konnte hier genauer hinschauen, da er selbst noch nicht unter dem Paradigma von Gleichheit und Demokratie stand. In seinem Buch Die Demokratie in Amerika (1835 / 40) hat er allerdings den Weg zur Gleichheit als einen unumkehrbaren Prozeß beschrieben, gegen den kein Kraut gewachsen sei: »Die allmähliche Entwicklung zur Gleichheit ist ein Werk der Vorsehung. Sie trägt dessen Hauptmerkmale: Sie ist allgemein, sie ist von Dauer, sie entzieht sich täglich der Macht des Menschen, die Geschehnisse wie die Menschen haben alle diese Einrichtung begünstigt.«
Tocqueville sieht »kein einziges bedeutendes Ereignis, das sich im Laufe von siebenhundert Jahren nicht zum Vorteil der Gleichheit ausgewirkt hätte«. Daher wird der Griff zur Metapher der »Vorsehung« verständlich, weil sich aus den Ereignissen ein göttlicher Wille zur Gleichheit ableiten läßt. Jedenfalls ist Tocqueville diese Tendenz zur Gleichheit in einer gottähnlichen oder religiösen Unwiderstehlichkeit begegnet. Allerdings sieht er den Grund für die Entwicklung zur Gleichheit nicht in den alten Herrschaftsverhältnissen begründet, jedenfalls nicht, solange jeder an seinem Platz blieb: »Man sah damals zwar Ungleichheit und Elend, aber es gab keine seelische Entwürdigung«. Diese tritt erst dann auf den Plan, wenn unrechtmäßige Gewalt herrscht und es zu einer Vermischung der Ränge kommt. Aus dieser folgt der Neid, mit dem man sich gegenseitig beäugt, mithin das, was heute als gesellschaftliche Spaltung firmiert. Der Verweis auf die »seelische Entwürdigung« folgt aus der Zerstörung der Ordnung. Ein Haufen gleicher Teile läßt sich leichter spalten als ein gewachsenes Gebilde, in dem jedes Teil seinen Platz hat und mit anderen Teilen in einem gewohnheitsmäßigen Zusammenhang steht.
Ein ganz wesentlicher Aspekt, der auch bei der Bewertung der Französischen Revolution immer wieder auftaucht, ist die damals aufkommende Überzeugung, daß der Mensch zu unbegrenzter Vervollkommnung fähig sei. Tocquevilles Meinung nach ist dieser Glaube in seiner Unbegrenztheit und Absolutheit eine Folge der Gleichheit. Daß der Mensch sich, im Gegensatz zum Tier, weiterentwickelt, war schon den Griechen klar. Allerdings, so Tocqueville, hätten die Völker, die nach Rang gegliedert lebten, nicht an unbegrenzte Vervollkommnung geglaubt, sondern an Verbesserung. Der Nachteil des Glaubens an die entgrenzte Vervollkommenbarkeit liege in der Entwertung der Vergangenheit und vor allem der Gegenwart, die nur dazu da ist, überwunden zu werden, und das möglichst sofort. Dieser Aspekt der Gleichheit hat für den technischen Fortschritt und die Industriekultur den Durchbruch bedeutet. Dennoch ist der irrationale, religiöse Furor, der sich mit Gleichheit verbindet, hier ganz besonders zu spüren, insbesondere dann, wenn er sich von den Dingen auf die Menschen stürzt. Die Gleichheit wird dann zu einer Art Selbstzweck, dem man, weil es dem Zeitgeist gefällt, alles opfert: Würde und Freiheit.
Der Glaube an die immerwährende Verbesserung, die Neophilie, funktioniert nur, wenn ein leichtverständliches Ziel am Ende des Weges steht, das Meßbarkeit garantiert. Gleichheit korreliert mit dem Neidfaktor der Fastgleichen und treibt voran. Der Sieg der »Ewigen Linken« (Ernst Nolte) hat ein Differenzierungsverbot etabliert, das obendrein jegliche Unterschiede für unerwünscht und krank erklärt und damit das Ziel zu einem moralisch wünschenswerten gemacht hat.
Unabhängig von der Tatsache, daß sich unwichtige Ungleichheiten, in Form der Moden, etabliert haben, ist der Konformismus ein Ziel, das logisch aus dieser Forderung folgt. Die egalitäre Gesellschaft steht jedem Übernahmeversuch hilflos gegenüber, weil sie über keinerlei Resilienz mehr verfügt. Das klingt schon bei Tocqueville an: »Ich bezweifle nicht, daß in einem Zeitalter der Bildung und der Gleichheit wie dem unsrigen die Souveräne es leichter fertigbrächten, alle öffentlichen Gewalten allein in ihrer Hand zu vereinigen und in die privaten Bereiche gewohnheitsmäßiger und tiefer einzudringen, als es jemals irgendeiner des Altertums zu tun vermochte.«
Tocqueville sieht auch bereits, daß der Individualismus aus der Gleichheit folgt, weil die menschlichen Bande zerschnitten werden, die eben vor allem hierarchischer Natur sind, sei es zeitlich oder real: »So läßt die Demokratie jeden nicht nur seine Ahnen vergessen, sie verbirgt ihm auch seine Nachkommen und trennt ihn von seinen Zeitgenossen […].« Die abstrakte Sache der Menschheit ist wichtiger als die der konkreten Gemeinschaft, in der die »Einsamkeit des eigenen Herzens« bestimmend wird. Daraus folgen zwei Tendenzen, die im 20. Jahrhundert zu voller Entfaltung gelangten: der gesellschaftliche Konformitätsdruck und der totale Staat. In den Worten Tocquevilles: »In den Aristokratien besitzen die Menschen oft eine ihnen eigentümliche Größe und Stärke. Stehen sie mit der Mehrzahl ihrer Mitmenschen in Widerspruch, so ziehen sie sich zurück, finden in sich selber Halt und Trost. In den demokratischen Völkern verhält es sich anders. Dort erscheint die öffentliche Gunst ebenso nötig, wie die Luft, die man atmet, und mit der Masse nicht im Einklang zu sein, heißt sozusagen nicht leben. […] Die Zentralgewalt, der Staat, breitet sich aus, weil sich die Gleichen nicht verpflichtet fühlen, sich gegenseitig zu helfen.«
Was wir gegenwärtig erleben, ist also nicht die Wiedergeburt des Staates als Hüter der Gesellschaft, sondern die Zerstörung der letzten Grundlagen des Gemeinsinns. Nach Überzeugung der Gleichheitsapologeten bedürfen wir dieser Grundlagen nicht mehr, weil sie aus der natürlichen Ungleichheit des Menschen folgten. Der Umbau der Gesellschaft befindet sich in vollem Gange. Die Akzeptanz der Gleichheit als maßgebliche politische Kategorie ist Resultat eines erkenntnistheoretischen Konstruktivismus und Relativismus. Er geht davon aus, daß die Welt nicht unabhängig von unserem sozialen Kontext existiert, sondern alle vermeintlichen Tatsachen soziale Konstrukte sind, in denen sich herrschende Bedürfnisse widerspiegeln.
Ungleichheit existiert nur, weil jemand daran Interesse hat, daß sie existiert. Sie ist nur Folge eines sozialen Konstrukts, das verbindlich tradiert wurde – und was konstruiert wurde, kann auch wieder dekonstruiert werden. Diesem Prozeß wohnen wir bei. Angesichts des Auslösers der neuen Stufe des Umbaus, eines Virus, ist es jedoch auch nicht ganz unwahrscheinlich, daß Jacob Burckhardt recht behält und »die menschliche Ungleichheit wieder zu Ehren kommen«