Mithin werden alle endlich zufriedener sein. Hoffen die Bestimmer politmoralischer Leitlinien.
Auf dem Weg in dieses verordnete gesamtgesellschaftliche Glück wird es jedoch, so hat es den Anschein, immer, immer enger. Zeitlich und räumlich, also von der Frequenz der Alltagstaktung und vom Platz her. Das mag technologisch bedingt sein. Ist es das, hat’s mit den Bedürfnissen zu tun bzw. mit dem Vermögen oder Unvermögen, diese zu steuern.
Dazu hier einfache Beobachtungen:
Streß ist seit Jahrzehnten ein symptomatisches Modewort. Und der Streß nimmt in der immer gerechteren, immer vielfältigeren, immer toleranteren und natürlich kunterbunteren, diverseren, von Milliarden Menschen gefluteten Welt extrem zu. „Burn-out“ gehört zum Alltagswortschatz.
Wir sollen uns begreifen als ein Deutschland, „in dem wir hier gut und gern leben“, aber: Alle so ausgebrannt!
Mutmaßlich als Folge eines Gesetzes gesellschaftlicher Entwicklung in Richtung höherer, menschliches Maß übersteigender Drehzahlen, zunächst über Jahrhunderte linear anwachsend, jetzt ins Exponentielle übergehend, wie offenbar alles – die Temperaturerhöhung, das Artensterben, die bösen Viren.
Nicht nur das Wetter, nein, alle Systeme laufen heiß. Die Digitalisierung, von der man sich Heil und Segen verspricht, verhindert das nicht; im Gegenteil, sie verstärkt es.
Interessantes Phänomen: Gerade die neuen Medien und informationsverarbeitenden Maschinen, die das Leben immer gefälliger und, ja, leichter machen sollen, steigern die Nervosität und verstärken das Reizfeld rundum. Die technische Peripherie überreizt das Ich, in Permanenz, so daß Rückzug unmöglich scheint und Besinnung fehlt.
Darin liegt das Dilemma noch jeder Maschinerie. Sie wird entwickelt, um das Leben angenehmer zu gestalten, aber sie scheint sich nicht darauf zu beschränken, nur ein Vehikel zu sein. Im Gegenteil, sie schwingt sich zur Herrschaft auf und regiert das Leben, indem sie ihm ihren Takt aufzwingt.
Alles rennt und drängelt. Die Leistungsträger machen Druck, sich selbst optimierend und dabei ihre Erfüllungsgehilfen antreibend. Neuerdings immer so freundlich im Stile von good governance der Unternehmensführung – nicht mehr diskriminierend also, dafür aber psychologisch, also manipulativ effizient. Indem man als „abhängig Beschäftigter“ etwa das, was man leisten soll, „wahnsinnig interessant“ und „ungeheuer spannend“ finden muß.
Zwar wird nach wie vor befohlen und ausgebeutet wie eh und je, aber man könne sich ja wohl, so wird erwartet, glücklicherweise damit identifizieren, weil alles, die private Wirtschaft ebenso wie der sozialistische öffentliche Dienst, einem besseren Deutschland diene, das „über alles in der Welt“ mit seinen Moralvorstellungen triumphiert.
Mag ja sogar sein, RWE zahlt bald Millionen für ein aus Klimagründen vom Gletscherwasser bedrohtes Dorf in den peruanischen Anden. Schuld an irgendwas zu sein versteht sich gegenwärtig als politisches Existential. Wenn RWE in Deutschland die Lichter brennen läßt, ist es gleichzeitig schuld am Schmelzen der Andengletscher und hat dafür zu zahlen und sich zu schämen.
Die also fit sind, die Bosse wie die Angestellten, slim fit, rennen immer schneller und befleißigen sich leistungssportlich der Bewältigung stressiger Abläufe. Alles versucht darwinistisch möglichst top plaziert und gegenüber Frust resilient zu sein.
Selbstbeherrschung, um besser durchzukommen, Rennrad und Dauerjogging, Fitneßarmband, Fitneß-Apps, Schrittzähler, Kalorienrechner, allerlei Doping, Training des Leistungsvermögens bis zur Magersucht. Wer fett ist, so gilt es als vereinbart, hat die Gewalt über sein Leben verloren. Auch dies ist – wie alles andere – Moral, Moral, Moral. Weiter verbrauchen, weiter die Biosphäre verschleißen, weil das in unserer eigenen Natur liegt, aber gefälligst alles moralisch. Auch Moral verursacht Streß. Sie wächst sich offenbar neuerlich in eine Diktatur des vermeintlich Tugendhaften aus.
Andererseits scheint jedoch eine Art gesellschaftliche Adipositas immer mehr um sich zu greifen, als Kontrast, als Gegenseite zu den stromlinienförmigen und multifitten, zu den gegelten und gelackten Typen in der Welt der Macher.
Wer nicht mehr mitkommt und im Übermaß seiner Supermarkt-Beladenheit kaum mehr die Treppen bis zur eigenen Wohnung hinaufächzen kann, der bedarf, so der hochgehaltene Anspruch, der Hilfe und Förderung, der Alimentierung und der Nachteilsausgleiche. Unsere migrantischen Freunde, der Hölle von Nahost oder Schwarzafrika entronnen, ja sowieso.
Man unternehme den Versuch und teile die Passanten, die einem begegnen, in diese zwei Gruppen ein: A) Leistungsträger und deren angepaßte Knappschaft, B) Leistungsverbraucher und deren Trägheitsmomente. Man kommt mit dieser groben Zuordnung erst mal durch. Physisch und psychisch Degenerierte sorgen immerhin noch für Wachstum im medizinisch-pharmakologischen Komplex, der für seinen privaten Profit die gesamtgesellschaftlich aufgebrachten Krankenkassenbeiträge einzieht. Die Logik eines Klinik- oder Krankenhaus-Unternehmens erfüllt der Kranke, nicht der Gesunde.
Es scheint bald so, als würden diese beide großen Gruppen, die fitten Gewinner und die fetten Loser, innerhalb der Gesellschaftsdynamik korrespondieren: Dreh- und Trägheitsmoment, Schwung und Schwungmasse, Beschleunigung und Dämpfung.
Herrscht in der Realwirtschaft bis hinab in den prekären Dienstleistungssektor der Aktionismus, so ruht, bezahlt vom Steueraufkommen der Abarbeitenden, der Büromensch im öffentlichen Sektor aus, noch behäbiger der Abgeordnete oder der Entscheidungen verantwortende Minister, der – ebenso wie andererseits der Hartz-IV- oder Bürgergeldanwärter – an Transferzahlungen empfängt, was dem „working poor“ am einigermaßen gesicherten Auskommen fehlt.
Der herrschenden Enge entgeht man allein durch bewußte Nichtteilhabe, für die es Akte couragierter Selbstbefreiung bedarf. Antizyklisch leben. Wenn ich etwa kein Auto benutze, entkomme ich der Enge der Zufahrtstraßen Richtung Stadt. Ich surre, weitgehend allein und beschirmt von hohen Buchen, das Seeufer entlang. Atmen können! Gerade in diesen Corona-Zeiten! Wenn Freiheit überhaupt eine Bedeutung hat, dann vielleicht hier.
Noch im Plattenbaubezirk unterwegs, muß ich mit dem Velo eine Straßenbahnhaltestelle schneiden. Dort stehen Schüler, Migranten, zudem viele schwer bewegliche Menschen, die, ihre Maske artig aufgeschnallt, auf das Eintreffen der Bahn warten, um sich in die Maskengemeinschaftsenge des Nahverkehrs zu drängen.
Unerträglich, diese Enge, das Übermaß der Leiber, denke ich mir. Bedauerliche Menschen: geimpft, genesen, getestet, erkrankt, vermutlich im Wechsel. Bloß nicht mitmachen, nur schnell weg. Aber wie lange hält man eine so befreiende Vereinzelung durch?
Widerstand – welch hehres Wort! Widerständig ist man vielleicht weniger in der Gegenwehr als in der offensiven Abkehr. Nicht mal Umkehr, wie sie Jesus verlangte und wie sie im Als-ob von den gleichfalls zu Firmen avancierten Kirchen wohl noch verkündet, aber doch kaum irgendwo verstanden wird. Wer kehrt denn wirklich sein Leben um?
Nein, sich einfach nur leise abzuwenden, das reicht schon. Melvilles Bartleby: „I would prefer not to.“ So einer bricht das System, wenn er sich nur selbst irgendwie durchzubringen versteht.
Die Initiation zum reaktionären Denken liegt in der ruhigen, also verzweiflungsfreien Einsicht, daß alles Menschliche letztlich vergeblich und der Mensch selbst verworfen und verloren ist. Seine Schadschöpfung ist stets größer als die Wertschöpfung. Scheinbar geht es immer um alles, eigentlich jedoch um nichts.
Nur darf man diese Tragik nicht bejammern, sondern hat sie mit der Liebe zum Menschen zu tragen, gehört man doch selbst zur Gattung der Paradiesvertriebenen, die mit ihrer Natur in der Natur keine Heimat finden, und kann einerseits das Wahre, Gute und Schöne nur erfassen, wenn man andererseits gelassen in die Abgründe zu blicken vermag.
Gracchus
Wow. Spiegelt fast eins zu eins meine Wahrnehmung und mein Lebensgefühl wider.
Es wird sich keiner erinnern, aber zum ersten Lockdown habe ich geschrieben, dass der nach meinem Gefühl herbeigesehnt wurde, um sich eine Ruhepause zu gönnen. Das Virus diente als Projektionsfläche. Dient es mmer noch. Man lese nur, welche Symptome Long Covid angedichtet werden. Angst und Enge hängen etymologisch zusammen. Die Massnahmen - die Impfpflicht voran - entspringen verengten Denken. Blockieren Erkenntnisse.
An den Melville/Bartleby-Spruch habe ich neulich gedacht: Man sollte ihm dem impffreudigen Feuilleton, das Bartleby in den letzten Jahren rauf- und runterdekliniert hat (an Deleuze und Agamben anknüpfend) um die Ohren hauen.