Weihnachtsempfehlungen (1): Benn und andere

Den Auftakt unserer Empfehlungen zu Weihnachten mache ich. Lesen, Denken, Schauen sind unsere Kategorien, fünf unserer Autoren werden nachlegen.

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

Wir wol­len die Rei­he unse­rer Emp­feh­lun­gen auch dafür nut­zen, auf unse­re bei­den Tele­gram-Kanä­le hin­zu­wei­sen, denn auch wir bau­en längst an Alter­na­ti­ven zu twit­ter und Co.. Fol­gen Sie Sezes­si­on hier auf Tele­gram. und den Tele­gram-Kanal des Ver­lags Antai­os fin­den Sie hier. Nun zu mei­nen Empfehlungen:

Lesen

Gott­fried Benn/Gertrud Zen­zes: Brief­wech­sel 1921- 1956. Stutt­gart: Klett-Cot­ta. 482 S., 34 €

Um es kurz und bru­tal zu sagen: Die­ses Buch wird a) Benn-Fans, b) Geis­tes­wis­sen­schaft­ler gene­rell, c) Gala/Bunte-Leser emi­nent anspre­chen. Zu b) und c) beken­ne ich mich frei­mü­tig, zu a) bloß zweidrittelweise.

Und doch war mir die­se Lek­tü­re ein unge­trüb­tes Ver­gnü­gen. Ger­trud Zen­zes, geb. Cas­sel und Gott­fried Benn waren 1921/22 ein Drei­vier­tel­jahr ein Lie­bes­paar. Sie ist in zahl­rei­chen Brie­fen sein Schnuck­chen, sei­ne Petit, sein lie­ber Klei­ner [sic], sein Trud­chen. Zen­zes, damals noch Cas­sel, schickt dem Gelieb­ten eine wis­sen­schaft­li­che Arbeit aus ihrer Feder. Er kom­men­tiert gegen­über der Toch­ter aus jüdi­scher Fami­lie: „Wie gescheit Du bist, trotz Dei­ner nied­ri­gen Stirn.“

Mit einer schnö­de-galan­ten Mit­tei­lung Ben­ns zu Sil­ves­ter endet die Affai­re jäh ohne Vor­zei­chen. „Mich sehen wer­den Sie auch vor­läu­fig wei­ter nicht. Sie wer­den das ver­ste­hen.“ Zen­zes, eine der ers­ten deut­schen pro­mo­vier­ten Frau­en, nimmt es hin und sieht kei­nen Anlaß, die Brief­freund­schaft seinzulassen.

Über die Jah­re liest sie, wie Benn drei sei­ner Haupt­frau­en beer­digt, zwei davon durch Selbst­mord geen­det. Nach dem Krieg schickt sie ihm aus den USA Ver­sor­gungs­pak­te. End­lich Schnür­sen­kel für Dr. Benn! Und Cigar­ren! Und „Toil. clea­ning paper“! Benn freut sich kolossal.

Hier, in die­sem Brief­wech­sel, offen­ba­ren sich ein­fach sämt­li­che Abgrün­de und Höhen, die das 20. Jahr­hun­dert geis­tig zu bie­ten hat­te. Dies alles, ergänzt um Zen­zes Brief­wech­sel mit dem Benn-Freund und Ver­le­ger Max Nie­der­may­er, ist eine wah­re Fund­gru­be. Selbst in den „Appa­rat“ (edi­to­ri­sche Hin­wei­se und Kom­men­ta­re) mag man sich über Stun­den vergraben.

Gott­fried Benn/Gertrud Zen­zes: Brief­wech­sel 1921- 1956.

– – –

Den­ken

Wolf­gang Schi­vel­busch: Die ande­re Sei­te. Leben und For­schen und Ber­lin und New York, Ham­burg: Rowohlt 2021, 336 S., 26 €

Am 26. Novem­ber 2021 begeht der Sozio­lo­ge, Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler und Phi­lo­soph Wolf­gang Schi­vel­busch sei­nen 80. Geburts­tag. Hell­wach und „Wahr­neh­mungs­avant­gar­de“ war Schi­vel­busch (in Ber­lin gebo­ren, in Frank­furt auf­ge­wach­sen, seit den sieb­zi­ger Jah­ren zwi­schen USA und Ber­lin pen­delnd) seit je, als wasch­ech­ter Rene­gat ent­puppt sich der alte 68er erst jetzt in die­sem Gespräch über sei­ne Lebenserinnerungen:

Schivelbusch

„Wir waren die per­fek­ten Mit­spie­ler in der ame­ri­ka­ni­schen Moral­er­zäh­lung. Dazu zwei Erin­ne­run­gen: Ein­mal an die ame­ri­ka­ni­sche Fern­seh­se­rie «Holo­caust» Ende der 70er Jah­re, die in Deutsch­land einen enor­men Erfolg hat­te und die gan­ze deut­sche Erin­ne­rungs­kul­tur aus­lös­te. Und zum Zwei­ten an das Buch von Dani­el Jonah Gold­ha­gen «Hit­lers wil­li­ge Voll­stre­cker», das die längst über­wun­den geglaub­te Kol­lek­tiv­schuld­the­se wiederbelebte.“

Schi­vel­busch beschreibt, wie er im Nach­krieg die Attrak­ti­vi­tät der GI anhand ihrer schi­cken Bade­ho­sen („Aura der Macht der Sie­ger“: die Besieg­ten tru­gen schwe­re Baum­wol­le) wahr­nahm, wie er 1964 in einem Semi­nar bei Hans-Magnus Enzens­ber­ger aus Grün­den der Neun­mal­klug­heit schei­ter­te und wie er spä­ter mit phra­seo­lo­gi­schem, hoh­lem DDR-Funk­tio­närs­ge­schwätz in renom­mier­ten Zeit­schrif­ten punk­ten konn­te. Heu­te emp­fiehlt Schi­vel­busch die Lek­tü­re des Tumult-Maga­zins. Das hier ist ein zeit­ge­schicht­li­ches Zeug­nis ers­ten Ran­ges. Im Wunsch­staat wür­de man dar­aus Abitur­auf­ga­ben flechten.

Wolf­gang Schi­vel­busch: Die ande­re Sei­te.

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Schau­en

Peter Lind­bergh: Untold Sto­ries, Köln: Taschen,. 329 S., 60 €

Ich ent­stam­me einem Zeit­al­ter, wo das Maß der „Schön­heit“ zwar noch eini­ger­ma­ßen com­mon sen­se war, aber bereits in die Leben­dig­keit ent­las­sen wur­de. In die­ser Zeit gab es das Wort „Fats­ha­ming“ noch nicht, aber es gab auch nicht all die­se Pho­to-Fil­ter, die­sen Nor­mie­rungs­druck und die Schön­heits­maß­nah­men „to go“. Peter Lind­bergh, gebo­ren 1944 im Wart­hel­and als Peter Brod­beck, spä­ter Schau­fens­ter­de­ko­ra­teur und Male­rei-Stu­dent in Ber­lin, dann Werk­kunst­schu­le in Kre­feld und Pho­to­gra­phen­aus­bil­dung in Düs­sel­dorf, seit 1978 in Paris, hat mit die­sem post­hum erschie­ne­nen Bild­band (er starb uner­war­tet Ende 2019) erst­mals eine eige­ne Aus­stel­lung kuratiert.

Oh – es ist wun­der­schön. Lind­bergh hat­te die „Super­mo­dels“ der neun­zi­ger Jah­re iko­ni­siert. Es ist ein­fach erhe­bend: Clau­dia Schif­fer, Uma Thur­man, Kirs­ten Owen, Lin­da Evan­ge­lis­ta (letz­te­re bei­de auf dem bestechen­den Cover) zwar in Pose, doch „atmend“, also leben­dig zu sehen! Die Haut und die Mus­kel­strän­ge von Han­nah Whel­an und Karen Elson! Das alles in Schwarz/Weiß – wie lan­ge sowas noch gut­ge­hen mag? Hier haben wir Pho­to­gra­phien (Lind­bergh ließ sich bei­spiels­wie­se von Fritz Langs Metro­po­lis inspi­rie­ren), die nach­hal­len. Es gibt sie noch, die ech­ten Gesich­ter und Körper!

Tei­le mei­ner Fami­lie hal­ten es für bar­ba­risch, daß ich Sei­ten aus Bild­bän­den aus­schnei­de und als „Druck“ gerahmt auf­hän­ge. Na und! Ich kau­fe sowas doch nicht teu­er für’s Regal?

Peter Lind­bergh: Untold Sto­ries.

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

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Kommentare (22)

Maiordomus

17. November 2021 21:58

@Kositza. Liess mir zehn Jahre vor Ihrer Geburt von meinem unterdessen verstorbenen Bruder die ca. sechsbändige blaue broschierte Benn-Ausgabe schenken, verfolgte schon damals die auf Schallplatte aufgezeichnete Debatte mit Reinhold Schneider "Soll die Dichtung das Leben bessern?"; ausserdem war Benn Gegenstand des ersten germanistischen Seminars mit meinem späteren Doktorvater. Also, gilt als bestellt! Dass es "Die Bunte" überhaupt noch gibt, war mir gar nicht mehr bekannt. 

Noch bemerkenswert hinsichtlich nachdenken betr. Benn: "Das Wort, das meinem Stil fremd ist." Er meinte damit den Ausdruck mit vier Buchstaben für ein höheres Wesen, das Nietzsche im Anschluss an Hegel und Heine für "tot" erklärt hat. Auch lateinisch und griechisch hat es vier Buchstaben, wohingegen bei Meister Eckhart unter Verzicht auf die Doppelung am Schluss nur deren 3, analog zum Englischen. 

Laurenz

17. November 2021 23:36

@EK

Haben Sie schon mal überlegt, Sich digitale Bilderrahmen zuzulegen? Die wechseln Aufnahmen, die man einspeichert. Dadurch hat man mehr Abwechslung und wird öfters an Verschiedenes erinnert.

Valjean72

18. November 2021 09:26

@Maiordomus:

Ihre Replik an mich mit dem Verweis auf Frau Thatcher erschliesst sich mir nicht. Darüber hinaus erachte ich sie keineswegs als grosse Staatsfrau und verbinde sie mit dem absoluten Niedergang der englischen Industrie in den 70er und 80er Jahren (Bsp.: hier)

Thatcher war wie wohl alle britischen Staatsführer seit Ende des 19. Jahrhunderts krass anti-deutsch eingestellt.

Zitat Lord Balfours aus einem Gespräch mit einem US-Diplomaten im Jahr 1907:

BALFOUR: „We are probably fools not to find a reason for declaring war on Germany before she builds too many ships and takes away our trade.”

 

So viel zum Thema: "einer vernünftigen verteidigenden Rechtfertigung deutscher Politik im 1. [...] Weltkrieg"

Maiordomus

18. November 2021 09:32

PS. Wohl nicht bedeutungslos, wenn man an die heutige Mainstream-Publizistik incl. Gymnaasialpädagogik denkt, also keine rein subjektive Erinnerung: Ich las ab 1964/65 Nietzsche, Benn und Jünger, weil ich von gutmeinenden Moralpädagogen vor diesen Autoren gewarnt wurde. Überdies arbeitete ich mich als Student eines Benediktinergymnasiums durch den Index der Verbotenen Bücher durch, der damals zwar gerade noch existierte, aber - fast hätte ich "leider" gesagt - nicht mehr gehandhabt und still und leise mit dem Abschluss des Vatikanischen Konzils genau entsorgt wurde wie die im Vergleich zum zwar höchst anregenden Index noch kostbarere Alte  Messe, diejenige, welche Calderon in seinem "Auto" mit dem Titel "Die Geheimnisse der Heiligen Messe" mir für alle Zeiten kostbar gemacht hat, ein Gesichtspunkt, der mich mit G.-K. Kaltenbrunner verband. Auch er liess sich zumal auch von den theologisch orientierten verbotenen Büchern fundamental anregen, nicht zuletzt in Richtung spiritueller Impulse. 

Laurenz

18. November 2021 10:06

@Maiordomus

Habe extra für Sie explizit nachgeschaut.

https://www.bunte.de/

Mir würde es selbst im Traum nicht einfallen, mich mit diesen belanglosen Mitmenschen auch nur eine Sekunde zu beschäftigen..... ich schaue immer nur nach, wenn jemand stirbt. Da kann man entweder bedauern oder sich freuen.

Maiordomus

18. November 2021 10:16

@Valjean. Diese Debatte um Thatcher gehört nicht hierher, sondern in den vorhergehenden Blog mit EK. England, Grossbritannien hatte vor der Zeit Thatchers in der Tat ein Modernisierungsproblem der Wirtschaft, was hier nicht weiter auszuführen ist. Ich habe indes Thatcher wegen ihrer Ehrlichkeit gegenüber Helmut Kohl gelobt, weil sie ihm sachte bis grob beigebracht hat, "wir", das "perfide Albion", kämpften im 1. und 2. Weltkrieg nicht gegen Wilhelm und nicht gegen Hitler, sondern gegen Deutschland, weil dies nun mal unser Konkurrent und effektiver machtpolitischer Feind war, was wir auch heute nicht vergessen haben, weswegen sie, Thatcher, sehr wohl mit einer von der Bundesrepublik getrennten DDR hätte leben können! Thatcher hat die Europa-Naivität der deutschen EU-Schwärmer nicht geteilt, das lobte ich an ihr; über den Falkland bzw. Maledivenkrieg musste ich mich seinerzeit schon von Freundin und Kollegin Vilar belehren lassen, wobei aber klar war, dass Thatcher in völkerrechtlichen Fragen nun mal keinen Spass verstand, an der Filmszene "Sink it!" hatte ich indes meine helle Freude. Eine Thatcher als Kanzlerin hätte sich 2015 ganz anders verhalten als M.!

Maiordomus

18. November 2021 10:23

@Thatcher. Um es zusammenzufassen: Hätte Kohl Thatcher nur halbwegs ernst genommen, sein eigenes Versagen in der Europapolitik, bei der längst nicht mehr die Adenauerschen Voraussetzungen galten, wäre nicht in gleichem Ausmass zur früher Merkel-Politik ausgeartet, fürwahr alles andere als Ausdruck knallharter politischer interessenbezogener Intelligenz, welche man Thatcher nicht gleich absprechen kann. Sie bekannte selber, ihre Einstellung zu Deutschland, nicht zum Nationalsozialismus, sei um 1942 ein für allemal geprägt worden. Das ist ebenso eine Realität wie die Einstellung des ebenfalls sehr klugen, aber nun mal nicht gerade deutschfreundlichen Politikers Wladimir Putin. Deutschfreundlich nicht, aber wie Thatcher: berechenbar! Aber man muss die Berechenbaren auch berechnen wollen, sonst fehlt es an der Eignung für die Politik! Darüber müsste sich auch ein F. Merz mal Gedanken machen!

Valjean72

18. November 2021 11:01

@Maiordomus @Valjean:

Diese Debatte um Thatcher gehört nicht hierher, sondern in den vorhergehenden Blog mit EK

Zustimmung. Allerdings wurde unter besagtem Artikel die Kommentarfunktion geschlossen während ich meine Antwort verfasste.

Insofern wollte ich auch nur meine bereits geschriebene Antwort hier platzieren und die Debatte gar nicht weiter fortführen.

 

Neander vom Thal

18. November 2021 11:29

Oh mein Gott, Frau Kositza. Mir blieb fast das Herz stehen, als ich las, sie zerschneiden Ihre Bücher nur für ein Bild. In meiner Sippe zucken alle zusammen, sollte in meiner Gegenwart auch nur "einem Esel sein Ohr"geknickt werden...Naja, ganz so krass ist es nicht ganz. Aber mein misbilligender Blick hat schon Schweißperlen auf mancher Stirn verursacht. 

 

Laurenz

18. November 2021 11:37

@Maiordomus @L.

Sie verwechseln die Vertretung eigener Interessen mit Feindseligkeit.

Hier reichte uns Putin die Hand https://youtu.be/cOXTnVTGB4g

Und wir haben Ihn in der Folge in den Arsch getreten. Ihre historische Wahrnehmung, Maiordomus, ist arg getrübt.

Niekisch

18. November 2021 11:53

"wurde unter besagtem Artikel die Kommentarfunktion geschlossen während ich meine Antwort verfasste."

@ Valjean72, @ Maiordomus, @ Alle: Wegen dieser Problematik habe ich eine "Bad bank" für verspätete oder gestrichene Kommentare eröffnet. Dort können sie eingestellt und weiterdiskutiert werden. Die Redaktion hat keinen Einspruch erhoben. Ich versuche verantwortungsvoll damit umzugehen. Die oben diskutierte Frage der "Balfour-declaration" ist ein ganz konkretes Beispiel dafür, dass eine weitere Diskursplattform aus mehreren Gründen sinnvoll sein kann.

„Bad bank“ für Kommentare… | Metapolitika (wordpress.com)

Imagine

18. November 2021 12:54

@Maiordomus

Wollte Ihnen im bereits geschlossenen Thread noch antworten. Aber es passt auch hier.

Sie behaupten apodiktisch: „eine ‚christlich-kapitalistische Gesellschaft‘ gibt es nicht“. so als wäre es nicht möglich, Christ sowie kapitalistischer Anti-Humanist in einer Person zu sein.

Es macht ja gerade die Geisteskrankheit der christlich-kapitalistischen Welt aus, ein falsches „christliches“ Selbstbild zu besitzen, das im Widerspruch zur tatsächlichen Praxis von Sklaverei, Raub und Völkermord steht.

Sebastian Haffner hat in seinem nach wie vor höchst lesenswerten Buch „Germany: Jekyll & Hyde: 1939 - Deutschland von innen betrachtet“ ein Psychogramm der Deutschen erstellt, bei denen Gutmütigkeit, Zuverlässigkeit und Gemütlichkeit (= Dr. Jeckyl) und die sadomasochistische Mordbestie (= Mr. Hyde) in extremer Weise in einer Person zu finden ist. Die Lebensumstände und das Führerverhalten sind ausschlaggebend, welche Seite in der gesellschaftlichen Praxis zum Tragen kommt.

Generell kann man sagen, dass insbesondere in der britischen Oberschicht viel mehr Realitätssinn und Zynismus vorhanden sind. Deshalb lieben sie den „Schwarzen Humor“.

Deshalb sind die Briten in Ökonomie und Politik den Deutschen weit überlegen. Thatcher war eine offene Pinochet-Freundin. Boris Johnson geht viel cooler und rationaler mit der Pandemie um, während in Deutschland, Österreich und der Schweiz angstneurotisches und irrationales Verhalten dominieren.

Maiordomus

18. November 2021 16:47

@Imagine. Für die geistesgeschichtliche Untersuchung der früheren Geschichte des Kapitalismus ist hier kein Platz; natürlich gab es christlich orientierte Geschäftsleute; eine hervorragend interessante spätmittelalterliche Handschrift, die ich untersuche, präsentiert "Christus als Kaufmann", wenngleich nur sehr metaphorisch. Im unteren Teil scheinen Sie indes über weite Strecken überzeugend zu argumentieren, auch mit Einsicht in das sog. angelsächsische Denken.. Wie ich Ihnen gegenüber schon früher ausgeführt habe, hat der bayrische Oberstbergrat und Philosoph Franz von Baader schon 10 Jahre vor Marx und Engels vor Ort die Verhältnisse der britischen Proletarier, er nannte sie "Proletairs", sorgfältig und lösungsbezogen analysiert. Diese Welt kannte indes in Schlesien dann auch noch Will Erich Peuckert vorzüglich, analysierte indes mehr volkskundlich als ökonomisch. Die Verhältnisse unter Pinochet waren übrigens nicht das Gegenteil des neueren China, nur immer noch um Welten freiheitlicher. 

Maiordomus

18. November 2021 18:00

@Imagine. Deng Hsiao Ping, der Schöpfer des Neuen China, war nicht gerade ein Anhänger von Pinochet, aber ein scharfer Kritiker des 1973 gestürzten Allende. Er warf ihm "prosowjetische Aussenpolitik und linksextreme Innenpolitik" vor. 

 

Im übrigen wäre es wünschbar, wieder stärker auf die Buchbesprechungen einzugehen. Auch Kaisers Analyse z.B. eines neueren kritischen Buches über die neoliberale Wirtschaft scheint anregend, wiewohl gilt: Benn war wohl der begabteste und schlicht genialste Lyriker Deutschlands im 20. Jahrhundert, da konnte auch der mannigfache Plagiator Celan nicht mithalten. 

Laurenz

18. November 2021 18:09

@Maiordomus @Imagine

Haben Sie in Ihrem Leben nie in einem Hotel genächtigt?

In quasi jedem Hotel liegt in jedem Zimmer eine Gideon-Bibel aus....

https://gideons.de/

Und jetzt raten Sie mal, werter Maiordomus, wer diesen doch recht großen & weltweit agierenden Missionsbund gegründet hat?

Exakt, das waren Kaufleute. Denn, in Gottes Namen, sollte sonst in der Lage sein, in jeder Absteige Bibeln zu plazieren. Die Katholische Kirche? Lächerlich, vor allem im Herzen viel zu geizig.

Nur Unternehmer (Kaufleute) kriegen sowas hin.

https://de.wikipedia.org/wiki/Gideonbund

Wie Sie Sich vorstellen können, heiße ich das nicht gut. Aber ich weiß eben darum.

Auch die "Christliche Seefahrt" findet ihren Ursprung im mächtigsten Handel überhaupt, den zur See. 

https://de.wikipedia.org/wiki/Christliche_Seefahrt

Gracchus

18. November 2021 21:23

Der Lockdown lässt einem ja Zeit zum Lesen. Meine Weihnachtsempfehlungen: 1. Patricia Highsmith 2. Patricia Highsmith 3. Patricia ...

Dazu könnte ich mir auch die Lindbergh-Photos vorstellen. Hätte gar nicht gedacht, dass Sie, Frau Kositza, so etwas empfehlen. 

Kositza: War das mit Highsmith ironisch gemeint? Bin tatsächlich großer Highsmith-Fan.

Gracchus

18. November 2021 21:49

@Maiordomus

Da ist Ihnen ja mal ein logisches Paradestück gelungen: Streeck könnte anregend sein, wiewohl Benn der begabteste Lyriker ... beides steht doch in keinem (konzessiven) Zusammenhang!

Und Paul Celan war auch kein Plagiator. Das hat die Goll-Witwe zu Unrecht behauptet. 

In einer Umfrage der Zeitschrift "Das Gedicht" nach dem bedeutendsten deutschprachigen Lyriker des 20. Jahrhunderts landete Benn auf Platz 1, dann kamen - genaue Reihenfolge ist mir entfallen - Rilke, Celan, Brecht, George,  sehr vielleicht noch Trakl. Die würden auch bei mir die vorderen Plätze einnehmen - ich würde noch Morgenstern mit seinen Galgenliedern nennen, eins meiner liebsten Gedichtbücher. Benn hatte sicherlich in der Nachkriegs-BRD enormen Einfluss auf die nächsten Generationen.  

Maiordomus

19. November 2021 10:54

@Gracchus. Sie haben mich bei einem unseriösen Übergang ertappt; es war ihr gutes Recht, ein Karl Kraus hat solches Geschreibsel nie durchgehen lassen; selber merke ich, dass ich für Gedrucktes durchaus einen Lektor gebrauchen kann, man sieht die eigenen Fehler schlechter als die der anderen. Ehrlich gesagt würde ich bei den Lyrikerin George noch von der reinen Klangqualität ganz vorne plazieren, zu schweigen von seiner unvergleichlichen Nachdichtung des Albatros von Baudelaire. In Sachen Todesfuge glaube ich es besser zu wissen, wiewohl der ebenfalls jüdische Autor, von dem Celan plagiierte, klar weniger begabt war, vielleicht eine geschmäcklerische Angelegenheit. Vergessen wir aber die Lyrikerinnen nicht, es muss weder Hilde Domin noch Erika Burkart sein, wobei für mich diesbezüglich die Droste immer noch unübertroffen bleibt. Und aus der Schweiz der in Deutschland vor 80 Jahren unpublizierbare Albin Zollinger, Borchardt wäre wohl mal eine Spezialsendung von SiN wert. 

Niekisch

19. November 2021 11:20

Gottfried Benn im Jetzt:

Ein Land

Ein Land, ein dunkles Meer,
und dann ein Reich, das endet
so fern, daß nie sich wendet
ein Strahl hierher.

Ein Tag, ein zwitternd Licht,
Urängste, Todesdränge:
das Land der Untergänge:
kennst Du es nicht?

Auf Sänften und auf Truhn,
da lagern die Gestalten,
die Schweigenden, die Alten
und künden-: ruhn.

Die nur durch Tränen sahn
das tägliche Vernichten,
doch auch die Frein, die Lichten:
sie spähn, sie nahn. 

Gracchus

19. November 2021 17:00

@Kositza: Nee, überhaupt nicht ironisch. Ich lese zufällig gerade einige Highsmith-Sachen wieder und denke: Ist ja noch besser als in der Erinnerung hatte.

Gracchus

19. November 2021 17:07

@Maiordomus

Das kann ja jedem passieren. Immerhin haben Sie die Größe, es zuzugeben. 

Zu Celan: Sie meinen Immanuel Weissglas. Anscheinend hat Celan es benutzt, aber etwas Anderes daraus gemacht. Selbst Weissglas sieht darin kein Plagiat. 

Zu Droste stimme ich zu. Ich würde für das 20. Jhd noch Mascha Kaleko, die sogar Lob von Heidegger einheimste, und Christine Lavant nennen. 

Flaneur

19. November 2021 17:38

Einen Hinweis auf Lindbergh hatte ich an dieser Stelle ehrlich gesagt nicht erwartet. Um so mehr freut er mich.

Lindbergh Fotos sind eine Hommage an die Schönheit der Frauen. Als Modefotograf war er einer der ersten (und sicherlich der Konsequenteste), der die Modells nicht als austauschbare lebende Kleiderstangen gesehen hat, sondern als Persönlichkeiten, die es fotografisch inszeniert zu zeigen galt. Die Inszenierung entwickelte sich dabei mitunter sehr spontan aus der Interaktion von Modell und Fotograf. So gesehen ging Lindberghs Modefotografie durchaus in Richtung Portraitfotografie, der er sich verbunden fühlte und die eine wichtige Rolle in seiner Arbeit spielte. Ihn interessierte nicht das makellose Gesicht, sondern das, das Lebenserfahrung und Persönlichkeit zeigte. 

Der von Kositza vorgestellte Bildband gibt einen guten Überblick über das Werk dieses Fotografen, der seine Arbeit als sehr beglückend beschrieben hat.