Weihnachtsempfehlungen (2): Streeck – brutal

Nach den Weihnachtsempfehlungen von Ellen Kositza folge nun ich. Schauen, Denken, Lesen sind auch meine Kategorien.

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

Und auch von mir der Hin­weis auf unse­re bei­den Tele­gram-Kanä­le. Fol­gen Sie Sezes­si­on hier auf Tele­gram. Und den Tele­gram-Kanal des Ver­lags Antai­os fin­den Sie hier. Nun zu mei­nen Empfehlungen:

Schau­en

Tim Mar­shall: Die Macht der Geo­gra­phie im 21. Jahr­hun­dert. 10 Kar­ten erklä­ren die Poli­tik von heu­te und die Kri­sen der Zukunft, dtv: Mün­chen 2021. 416 S., 24 €

Der bri­ti­sche Jour­na­list Tim Mar­shall hat 2015 in Groß­bri­tan­ni­en Prei­se abge­räumt, als er sein poli­tisch-kar­to­gra­phi­sches Werk Pri­soners of Geo­gra­phy vor­leg­te. Als Die Macht der Geo­gra­phie konn­te es ein Jahr spä­ter, zumin­dest eine Zeit­lang, auch die Spie­gel-Best­sel­ler­lis­te erklim­men. 2021 nun nutzt das UK-Sky- und BBC-Aus­hän­ge­schild erneut zehn Kar­ten, um wel­che her­um er einen flott geschrie­be­nen, klu­gen, wenn­gleich poli­tisch eher main­strea­mi­gen Text webt.

Aber bei die­sem Buch geht es nicht um impli­zi­te Wer­tun­gen sei­nes Autors, son­dern um das Augen­merk, das er auf ver­schie­de­ne Welt­re­gio­nen legt, an die der ein­zel­ne Leser womög­lich bis­her nicht oder zu wenig gedacht hat. Ob in bezug auf Inseln oder Flüs­se, Iran oder Spa­ni­en – in jedem Kar­ten-Kapi­tel nimmt man „etwas mit“, lernt dazu, gewinnt Ein­drü­cke und ver­steht die Zusam­men­hän­ge von heu­te und, so die The­se des Autors, stär­ker noch von morgen.

Das ein­zi­ge Man­ko ist – in der Rubrik „Schau­en“ sicher­lich iro­nisch, mea cul­pa – die Qua­li­tät des ver­wen­de­ten Kar­ten­ma­te­ri­als. Da besteht bei einem etwa­igen drit­ten Band der Rei­he erheb­li­ches Poten­ti­al nach oben. Es kann an sich kein Zustand sein, daß ein klei­ne­res, links­ste­hen­des Pro­jekt wie Kata­pult pro­fes­sio­nel­le­re, ästhe­ti­scher auf­be­rei­te­te Kar­ten zustan­de­bringt als ein Groß­ver­lag wie dtv. Gleich­wohl: Bild und Text sind eine gewinn­brin­gen­de Kon­stel­la­ti­on, Prä­di­kat: lehrreich.

Mar­shall: Die Macht der Geo­gra­phie im 21. Jh., hier bestel­len.

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Den­ken

Wolf­gang Stre­eck: Zwi­schen Glo­ba­lis­mus und Demo­kra­tie. Poli­ti­sche Öko­no­mie im aus­ge­hen­den Neo­li­be­ra­lis­mus, Suhr­kamp Ver­lag: Ber­lin 2021. 538 S., 28 €

Ein Man­ko der deut­schen „Neu­en Rech­ten“ ist es, daß sie seit den 1980er Jah­ren an einem Man­gel an Autoren der empi­ri­schen Sozi­al- und Gesell­schafts­for­schung lei­det. Geschichts­po­li­tik und Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung, Migra­ti­ons­strö­me und Aus­län­der­ge­walt – Selbst­läu­fer. Ana­ly­sen poli­tisch-öko­no­mi­scher Pro­zes­se auf soli­der wis­sen­schaft­li­cher (und nicht: gefühls­ge­lei­te­ter) Basis – Man­gel­wa­re. Da kommt es zur rech­ten Zeit, daß sich ein Grand­sei­gneur der alten lin­ken Schu­le von die­ser zu lösen scheint und ein 2021 ein „streit­ba­res“ Stan­dard­werk veröffentlichte.

Mit Wolf­gang Stre­eck han­delt es sich beim Autor um den eme­ri­tier­ten Direk­tor am Max-Planck-Insti­tut für Gesell­schafts­for­schung. Er macht sich auf, Begriff und Bedeu­tung des „Glo­ba­lis­mus“ zu sezie­ren. Sein Ziel: die „Ent­glo­ba­li­sie­rung als Ermäch­ti­gung des Loka­len und Natio­na­len“. Der Weg: ein Wider­stand gegen die Welt­ver­ein­heit­li­chung, der „mal von links, mal von rechts, immer aber ‚von unten’“ kom­me. Wer den Glo­ba­lis­mus als Haupt­geg­ner erken­ne, benö­ti­ge „Hal­te­sei­le“. Für Stre­eck sind das vor allem Natio­nen. Ist das schon „Natio­na­lis­mus“? Stre­eck bleibt entspannt.

Gewiß: Auch Stre­eck ver­läßt das Ter­rain einer rein aka­de­mi­schen Ana­ly­se. Die Zwit­ter­na­tur die­ses Werks besteht dar­in, daß sie einer­seits wis­sen­schaft­lich-empi­ri­sche Stu­die und ande­rer­seits poli­tisch-pole­mi­sche Zuspit­zung ist. Bei­des weist in unser Feld: Nicht zuletzt daß Stre­eck das Prin­zip „rela­ti­ver Homo­ge­ni­tät“ als Bedin­gung für soli­da­ri­sches „Ver­ant­wor­tungs­ge­fühl“ bemüht, läßt die Fra­ge auf­kom­men, was ihn noch von der ori­gi­nä­ren, libe­ra­lis­mus- und kapi­ta­lis­mus­kri­ti­schen Strö­mung der Neu­en Rech­ten tren­nen soll. Viel ist es nicht, und so ist sein anspruchs­vol­les Werk auch noch vergnüglich.

Stre­eck: Glo­ba­lis­mus, hier bestel­len.

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Lesen 

John Hoe­wer: Euro­pa­Power­bru­tal, Dres­den: Jun­g­eu­ro­pa Ver­lag 2021. 360 S., bro­schiert, 18 €

Zuge­ge­ben: Bei Euro­pa­Power­bru­tal bin ich von vorn­her­ein par­tei­isch gewe­sen. John Hoe­wer ist nicht nur ein poli­ti­scher Mit­strei­ter, son­dern ein Freund. Aber: Natür­lich kann man gera­de auch unter Freun­den das offe­ne Wort pfle­gen, Kri­tik üben, Feh­ler auf­zei­gen. Das ist bei die­sem Buch nicht nötig gewe­sen. Euro­pa­Power­bru­tal hat mich von Anfang an in sei­nen Bann gezo­gen. Kein Sze­ne­ro­man und doch einer, kein poli­ti­scher Roman und doch einer, kein pro­pa­gier­ter Life­style und doch irgend­wie: Wer hier nicht mit­zieht und ein­mal zu oft die Nase rümpft, ist ent­we­der zu alt (geis­tig, nicht bio­lo­gisch!) oder hat viel­leicht auf die­se oder ande­re Wei­se nicht aus­rei­chend „gelebt“.

Um was geht es? Der namen­lo­se Erzäh­ler – ein Archi­tekt ohne beson­de­re Ver­wen­dung – unter­nimmt eine beauf­trag­te Euro­pa­rei­se. Kein „Interrail“-Monat, wie ihn unzäh­li­ge Abitu­ri­en­ten jedes Jahr nach dem erfolg­rei­chen Schul­ab­schluß unter­neh­men und via Zug durch ver­schie­de­ne Län­der rei­sen. Son­dern eine Aben­teu­er­rei­se durch ver­schie­de­ne rech­te Milieus ver­schie­de­ner Län­der – Ita­li­en, Frank­reich, BRD, Österreich.

Bei die­ser Rei­se ist man auto­ma­tisch ver­sucht, Ver­bin­dun­gen zu tat­säch­li­chen Per­so­nen oder Ereig­nis­sen zu suchen. Und tat­säch­lich sind so man­che Gescheh­nis­se, Per­so­nen und Loka­li­tä­ten nicht der Phan­ta­sie des 1987 gebo­re­nen Rhein­län­ders ent­sprun­gen, was den Ver­le­ger Hoe­wers, Phil­ip Stein, zum Aus­ruf moti­vier­te: „Erschre­ckend real!“. Am Ende weiß man aber auch als Ein­ge­weih­ter nicht immer, was pas­siert ist und was nicht – aber man kann sich eben (fast) alles vorstellen …

Die Abfol­ge aus Anek­do­ten, Erleb­tem, Gehör­tem, tat­säch­li­chen his­to­ri­schen Ereig­nis­sen und absur­den Fik­tio­nen, die sich ver­kno­ten, ist das Allein­stel­lungs­merk­mal die­ses Ban­des. Am Ende ist der übri­gens doch (vor)politisch, näm­lich eine Art Auf­ruf, den Spaß, die Lebens­freu­de, den Genuß, das Ver­rück­te zu affir­mie­ren, sprich: Nicht nur über den Käl­te­strom, die Argu­men­te, zu kom­men, son­dern über eine Art zu Leben, über ein ver­mit­tel­tes Gefühl. Wer Euro­pa­Power­bru­tal liest und danach nicht Lust ver­spürt, zu die­ser Crew zu gehö­ren, ist eini­ger­ma­ßen crin­ge, wie die jün­ge­ren Gene­ra­tio­nen spot­ten wür­den. Und das will man ja wohl nicht sein.

Hoe­wer: Euro­pa­Power­bru­tal, hier bestel­len.

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

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Kommentare (5)

Niekisch

18. November 2021 12:52

Zu dem Buch von Marschall passen sicher ergänzend diverse Karten mit bereits erfolgten oder zu erwartenden Migrationsbewegungen und Klimafolgen in dem Werk des Globalismusprotagonisten Parag Khanna, Move - Das Zeitalter der Migration - rowohlt 4/2021, 445 Seiten, 24.- Euro.

 

Benedikt Kaiser

18. November 2021 14:38

Danke, war mir bis dato nicht bekannt!

Niekisch

18. November 2021 15:04

"Danke, war mir bis dato nicht bekannt!"

@ Benedikt Kaiser 14:38: Gerne! An diesem Buch ist besonders interessant das völlig unbefangene Prognostizieren gewaltiger Völkerverschiebungen im Interesse der Finanz- und Industriekonglomerate sowie infolge zu erwartender Unbewohnbarkeit ganzer Landstreifen aufgrund extremer klimatischer Veränderungen, die er ganz konkret beschreibt und kartiert festlegt. Für die europäische Jugend sei Kasachstan der zu ersehnende Wohnort der Zukunft.

Körperliches und geistiges Nomadentum ist sein Panier!

Imagine

22. November 2021 11:58

Wolfgang Streeck sagt, dass er als Wissenschaftler total pessimistisch sei, als Person jedoch optimistisch.

Wenn man den kleinen Enkel auf den Knien hat, dann muss man optimistisch sein, auch wenn der Verstand sagt, dass die zivilisatorische Matrix zerfällt und es nicht gutgehen kann.

Auf zwei interessante Gespräche möchte ich hinweisen:

a) Wolfgang Streeck mit Robert Misik (https://youtu.be/pu3ZHIEoxuU)
b) Wolfgang Streeck mit Mathias Greffarth (https://tinyurl.com/3t9k6s5t)

Streeck betont immer wieder, dass er kein „Plänemacher“ sei. Er ist auch kein Stratege, der Nah- und Fernziele formulieren und einen Weg zu den Zielen aufzeigen könnte.

Streeck beschränkt sich auf die Rolle als soziologischer Beobachter. Er hofft auf den Zerfall der gesellschaftlichen Systems, ähnlich wie der Soziologe Richard Sennett.

Insgesamt ist wenig überzeugend, was Streeck zur zukünftigen Entwicklung ausführt.

Dass sich die westlich-kapitalistischen Gesellschaften in einem offenbar unaufhaltsamen Selbstzerstörungsmodus befinden, das wissen wir seit 50 Jahren.

Der Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems markierte das Ende der Nachkriegsordnung. Seitdem funktioniert der Kapitalismus am Rande des Zusammenbruchs.

Stabil auf dieser Welt ist nur noch das chinesische System.

 

Laurenz

22. November 2021 16:54

@Imagine

Stimme Ihnen zu, bis auf den "chinesischen Nationalsozialismus" & sein System. 

Das chinesische System ist in der Schnelligkeit von Entscheidungsfindungen & aufgrund seiner politischen Souveränität gegenüber der Ökonomie stabiler & den westlichen Systemen klar überlegen, keine Frage. Es ist aber ohne internationale Handelsbeziehungen, wie Rohstoffabhängigkeiten, nicht denkbar, daher auch nicht völlig frei, sondern steht auch in globalen Beziehungswelten.